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Freistetters Formelwelt: Immer Chaos bei der Fortpflanzung

Hinter der scheinbar harmlosen Fassade simpler Formeln lauert in der Naturwissenschaft fast immer das Chaos! Aber auch das lässt sich zum Glück in mathematische Gleichungen fassen.
Marienkäfer beim Sex auf einem Ast

Als sich der Biologe Robert May im Jahr 1976 an einer mathematischen Formulierung der Populationsdynamik versuchte, wurde es chaotisch. Und zwar im wahrsten Sinn des Wortes! Eigentlich war er nur an einer sehr simplen Frage interessiert. Angenommen, wir wissen, wie groß eine bestimmte Population von Lebewesen jetzt gerade ist. Und angenommen, wir kennen die Rate, mit der sich die Lebewesen fortpflanzen. Wie groß ist die Population dann im nächsten Jahr? Dieses Problem ist nicht schwer zu lösen: Man multipliziert einfach die Zahl der Individuen mit dem Wachstumsparameter, der sich aus der Fortpflanzungsrate ergibt. Aber Lebewesen pflanzen sich nicht einfach nur fort, sondern sie sterben auch – zum Beispiel dann, wenn es zu viele von ihnen gibt und zu wenig Nahrung für alle da ist. Robert May formulierte also eine entsprechende Gleichung, um auch das zu berücksichtigen:

Mit xalt wird die gegenwärtige Größe der Population beschrieben. Daraus berechnet sich laut dieser Formel die zukünftige Größe xneu. Alles, was man dazu wissen muss, ist der Wachstumsparameter r. Hat man einen neuen Wert für die Populationsgröße berechnet, kann man ihn gleich wieder als Ausgangswert für einen weiteren Blick in die Zukunft verwenden. Und dann immer so weiter: Einen solchen Vorgang, bei dem das Ergebnis wieder als Startwert für eine weitere Berechnung benutzt werden kann, nennt man Iteration, und die von Robert May formulierte hat es in sich.

Wählt man beispielsweise als Startwert für die Populationsgröße x = 0,5 (das heißt, die Population hat 50 Prozent der maximal möglichen Größe) und einen Wachstumsparameter von 2,5, dann ergibt sich als neue Größe der Population ein Wert von x = 0,625. Rechnet man nun mit diesem Wert weiter und dann mit den darauf folgenden Ergebnissen, nähert sich die Populationsgröße Schritt für Schritt immer mehr einem Wert von 0,6 an. Das ist auch logisch: Irgendwann sollte sich die Population an die äußeren Bedingungen angepasst haben und ihre Größe sich stabilisieren.

Als May das Ganze dann aber mit einem Wachstumsparameter von r = 3,1 probierte, gab es keine Stabilisierung mehr. Die Populationsgröße schwankte ständig zwischen zwei ganz unterschiedlichen Werten hin und her. Bei noch größeren Werten von r wechselte die Zahl der Lebewesen auf einmal zwischen vier Werten; dann zwischen acht – und irgendwann gab es überhaupt kein Muster mehr, sondern nur noch ein rein chaotisches Schwanken der Populationsgröße.

Die Gleichung von May ist heute als Logistische Gleichung bekannt, und sie ist eines der schönsten Beispiele für die Auswirkungen des Chaos. Im Jahr 1998 habe ich sie selbst ausgerechnet, im Rahmen einer Vorlesung über Himmelsmechanik an der Universität Wien. Ich bin – damals noch mit Papier, Bleistift und Taschenrechner – vor den Ergebnissen gesessen und war so sehr fasziniert davon, dass eine solche, scheinbar simple Gleichung ein derart komplexes Verhalten zeigen kann, dass ich sofort beschlossen habe, mich auf die Untersuchung chaotischer Systeme in der Astronomie zu spezialisieren.

Bifurkationsdiagramm der Logistischen Gleichung | Die Abbildung zeigt, wie seltsam sich die Iterationen der Gleichung verhalten. Auf der x-Achse sind die Werte für r aufgetragen, entlang der y-Achse werden die Häufungspunkte der Folge markiert. Man sieht: Für Werte r < 3 erhält man einen stabilen Endwert für die Population, darüber oszilliert sie erst zwischen zwei, dann vier Werten. Ungefähr bei 3,57 beginnt das Chaos.

Und das unerwartete Auftreten des Chaos ist bei Weitem noch nicht alles, was die Logistische Gleichung zu bieten hat. Inmitten der größten Unordnung taucht plötzlich wieder Ordnung auf! Bei Werten in der Nähe von r = 3,8 erhält man auf einmal wieder stabile Populationen, die dann aber mit jeder Erhöhung des Wachstumsparameters langsam immer chaotischer werden. Betrachtet man nur diesen kleinen Bereich von Wachstumsparametern in der Nähe von r = 3,8, sieht das Verhalten der Gleichung exakt so aus wie bei der Auswahl eines viel größeren Bereichs. Und wenn man möchte, kann man auch noch viel weiter hineinzoomen und immer kleinere Parameterintervalle betrachten. Man erkennt jedes Mal eine neue Kopie des größeren Ausschnitts. Diese Eigenschaft, dass sich ein Teil eines Systems so wie das Ganze verhält, nennt man Fraktalität, und es handelt sich dabei um ein weiteres untrügliches Anzeichen des Chaos.

Dass May gerade bei der Untersuchung der Populationsdynamik auf dieses faszinierende Chaos gestoßen ist, war Zufall. Das gleiche Verhalten wie bei der Logistischen Gleichung kann man auch in unzähligen anderen Systemen finden. In der Dynamik von Wind, Wolken und Wetter, der Bewegung der Planeten und sogar im Herzschlag von Lebewesen. Hinter der scheinbar harmlosen Fassade simpler Formeln lauert in der Naturwissenschaft fast immer das Chaos!

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