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In Bestform: »Ein Krampf ist kein muskuläres, sondern ein neuronales Problem«

Die Wade krampft? Nimm Magnesium, sagen viele. Aber: Hilft das überhaupt? »Dazu gibt es keine randomisiert-kontrollierten Studien«, sagt der Mediziner Scott Garrison im Interview.
Junger Sportler dehnt die Wade einer jungen Sportlerin

Das hat vermutlich jeder schon erlebt: Mitten im Training oder auch in der Nacht durchzuckt die Wade plötzlich ein heftiger Schmerz – ein Krampf. Woher kommt das? Und hilft Magnesium dagegen, wie oft behauptet wird? Der Arzt und Versorgungsforscher Scott Garrison von der University of Alberta in Kanada hat noch andere Tipps parat.

Herr Garrison, könnten Sie kurz erklären, was ein Muskelkrampf ist?

Ein Krampf ist kein muskuläres, sondern ein neuronales Problem. Der Nerv, der den betreffenden Muskel steuert – ein so genanntes Motoneuron –, feuert viel schneller, als er das normalerweise tun würde, wenn man den Muskel anspannt. Infolgedessen wird der Muskel sehr hart und schmerzt.

Was ist der Grund dafür?

Es gibt einige Ideen, aber der genaue Mechanismus ist unklar. Wenn man sich die Literatur dazu anschaut, fällt auf: Viele Forscher konzentrieren sich jeweils auf einen Aspekt, von dem sie wissen, dass er Krämpfe verschlimmert. Sie versuchen, einen Mechanismus zu formulieren, der hierzu passt. Doch eine einheitliche Erklärung haben sie nicht.

Manche Menschen behaupten, der Grund sei ein allgemeiner Mangel an Salz oder Elektrolyten.

Scott Garrison | Der Mediziner lehrt und forscht an der University of Alberta in Edmonton, Kanada. Zu seinen Schwerpunkten zählen Pharmakoepidemiologie und klinische Studien mit direktem Anwendungsbezug, besonders in der Allgemeinmedizin. In der Freizeit fährt er Kajak und joggt gerne.

Ich glaube nicht, dass es so einfach ist. Es gibt allerdings eine Gemeinsamkeit zwischen Menschen, die Krämpfe haben: Wassermangel. Wenn das Flüssigkeitsvolumen im Körper zu gering ist, kann das einen Krampf auslösen, unabhängig davon, ob man einen Mangel an Natrium, Kalium oder anderen Ionen hat oder nicht. Als ich ein junger Arzt war, lautete eine der allgemeinen Empfehlungen: Nehmen Sie Kalium ein. Aber das ist genau das Gegenteil von dem, was man tun sollte.

Warum?

Natrium- und Kaliumionen bilden das so genannte Membranpotenzial, den Konzentrationsunterschied zwischen dem Inneren und dem Äußeren der Nervenzelle. Wenn man dieses Gleichgewicht manipuliert, verändert man die Erregbarkeit des Nervs. Experimente zeigen: Hat man ein Neuron in einer Lösung und erhöht deren Kaliumkonzentration, dann wird der Nerv erregbarer. Es ergibt also keinen Sinn, einer Person mit Krämpfen Kalium zu geben. Aus diesem Grund sind auch manche entwässernde Medikamente problematisch.

Welche zum Beispiel?

Kalium sparende Diuretika, umgangssprachlich als Wassertabletten bezeichnet. Sie entwässern, ohne den Kaliumspiegel zu senken. Auch so genannte Thiazid-Diuretika, die häufig gegen Bluthochdruck eingesetzt werden, machen Krämpfe wahrscheinlicher. Eine unserer Studien hat außerdem gezeigt, dass zum Beispiel Sprays gegen Asthma und gegen chronisch-obstruktive Lungenerkrankungen Krämpfe fördern können. Das ist plausibel, weil sie oft bestimmte Wirkstoffe enthalten, die die Erregbarkeit von Motoneuronen erhöhen. Wenn jemand zu Krämpfen neigt, würde ich ihm wahrscheinlich davon abraten, diese Sprays vor einem harten Training oder Wettkampf zu verwenden.

Gutes Stichwort. Warum bekommen wir beim Sport eigentlich so oft Krämpfe?

Es ist eine Kombination aus mehreren Faktoren. Die Muskeln, die verkrampfen, sind in der Regel diejenigen, die man gerade benutzt. Es liegt also vermutlich eine Form von Ermüdung vor, vor allem, wenn man an seine Grenzen geht. Und wahrscheinlich hat man auch zu wenig Flüssigkeit im Körper.

Wie lässt sich Muskelkater vermeiden? Wie viel sollten Sportler trinken? Diesen und weiteren Fragen widmet sich die Biochemikerin Annika Röcker in ihrer Kolumne »In Bestform«. Mit Expertinnen und Experten aus der Sportmedizin diskutiert sie, was beim Sport im Körper vorgeht und wie ein gesundes Training aussieht.

Wegen des Schwitzens?

Ja, und weil man nicht genug trinkt. Wenn man nur ein paar Schluck Wasser trinkt, wird es oft nicht gut aufgenommen.

In Deutschland sagen manche Leute, das beste Getränk für Sportler sei Apfelschorle mit einer Prise Salz. Stimmen Sie dem zu?

Ich habe das noch nie gehört, aber es klingt vernünftig. Wenn man eine Person rehydrieren will, hilft es, ihr ein Getränk mit etwas Zucker und Salz zu geben. Ein geringer Kohlenhydratgehalt verbessert die Aufnahme von Wasser im Dünndarm, da Zucker aktiv durch die Zellen der Darmwand transportiert wird. Natrium verstärkt diesen Effekt.

Was kann ich sonst noch tun, um Krämpfe beim Sport zu vermeiden?

Sie müssen Ihr Limit kennen. Versuchen Sie, Ihr Training unterhalb davon zu absolvieren. Wenn Sie sich steigern wollen, machen Sie es schrittweise, nicht zu schnell.

Manchmal treten Krämpfe auch nachts auf, wenn wir unsere Muskulatur gar nicht beanspruchen. Warum?

Das ist die häufigste Art von Krämpfen. Betroffen sind typischerweise Menschen um die 50 Jahre oder älter. In diesem Alter beginnt man, Motoneurone zu verlieren. Die überlebenden Neurone bilden kleine Fortsätze und versuchen, den Muskel zu erreichen, der nicht mehr versorgt ist. Die Nervenstruktur wird immer komplexer, und die neuen Auswüchse sind leichter erregbar. Diese zwei Dinge könnten erklären, warum ältere Menschen anfälliger für Krämpfe sind.

Wenn ich eine bestimmte Yogaposition einnehme, bekomme ich immer einen Krampf in meiner Fußsohle. Ist das ein Zeichen dafür, dass ich alt werde?

Nein. Menschen können ihr Leben lang Krämpfe bekommen, mit dem Alter wird das nur wahrscheinlicher. Vielleicht bringen Sie Ihre Fußmuskulatur in dieser Yogaposition in eine stark verkürzte Position, während Sie ihn gleichzeitig anspannen. Dadurch bekommt man leichter einen Krampf. Dazu gibt es eine interessante Arbeit von der Neurowissenschaftlerin Laura Bertolasi und ihren Kollegen. Mit Hilfe eines elektrischen Stimulators erzeugten sie bei Testpersonen absichtlich Krämpfe. Sobald die Frequenz der Impulse hoch genug war, bekamen diese einen Krampf. Natürlich ist der Schwellenwert von Mensch zu Menschen verschieden. Aber in den meisten Fällen hat es funktioniert. Und sie beobachteten noch etwas. Wenn sie den Muskel dehnten, brauchte es mehr Impulse. Das bedeutet: Je länger der Muskel ist, desto schwieriger ist es, einen Krampf in ihm auszulösen.

Den Muskel zu dehnen ist das Mittel der Wahl, um den Krampf loszuwerden, richtig?

Ja. Das hat auch das Team um Bertolasi beobachtet. Die Tatsache, dass der Muskel länger wird, stoppt den Krampf. Natürlich kann Dehnen schmerzhaft sein. Wenn man den Muskel anspannt, ohne eine tatsächliche Verlängerung des Muskels zu erreichen, fügt man sich wahrscheinlich umsonst Schmerzen zu.

»In der einen Studie stand: Magnesium ist nützlich. In der anderen stand: Es bringt nichts«

Viele Menschen sagen, dass Magnesium Krämpfen vorbeugen kann. Ist das wissenschaftlich belegt?

Die kurze Antwort: nein. Zusammen mit Kollegen habe ich eine Übersichtsarbeit dazu erstellt. Eine der Studien, die wir darin diskutieren, markiert den Beginn meiner eigenen Forschungskarriere. Davor war ich ein klassischer Hausarzt. Eine meiner Patientinnen hatte oft Wadenkrämpfe. Eines Tages wurde sie wegen einer Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert. Aus irgendeinem Grund ordneten die Kollegen dort einen Magnesiumtest an. Der Wert war niedrig. Also gaben sie ihr Magnesium, intravenös. Als die Frau sich erholt hatte, sagte sie zu mir: »Doktor Garrison, diese schrecklichen Krämpfe, die ich so lange hatte, sind verschwunden!« Sie dachte, das läge am Magnesium. Also habe ich in der Literatur nachgeschaut und zwei Studien gefunden. In der einen stand: Magnesium ist nützlich. In der anderen stand: Es bringt nichts.

Deshalb haben Sie eine eigene Studie dazu durchgeführt?

Genau. Wir haben Menschen eingeladen, die mindestens zwei Krämpfe pro Woche hatten. Sie bekamen fünf Tage lang entweder eine Infusion mit Magnesium oder mit Zuckerwasser und berichteten uns, wie oft sie krampften. In ihrem Urin konnten wir sehen, ob sie das Magnesium aufgenommen hatten oder nicht.

So konnten Sie feststellen, ob die Menschen einen Magnesiummangel hatten?

Richtig. Wenn jemand einen Magnesiummangel hat und Sie ihm eine Infusion geben, wird er etwas davon behalten. Hat er hingegen keinen Mangel und Sie verabreichen ihm fünf Gramm Magnesium intravenös, werden Sie die gesamte Menge im Urin finden. Auf diese Weise testet man in der Klinik, ob jemand einen Magnesiummangel hat. Ein Bluttest ist nicht so empfindlich.

Und was kam bei Ihrer Studie heraus?

Für die Anzahl der Krämpfe machte es keinen Unterschied, ob jemand das Magnesium aufnahm oder nicht. Die Infusionen haben also offenbar nicht geholfen. Doch ich war immer noch sehr an diesem Thema interessiert, und so beschloss ich, darüber zu promovieren. Ich habe alle Studien zu Muskelkrämpfen zusammengetragen. Damals wie heute sieht es so aus, dass Magnesium – sofern es überhaupt einen Nutzen hat – für die klinische Behandlung irrelevant ist. Zumindest für Menschen, die im Ruhezustand Krämpfe haben.

»Wenn Sie sich genügend Magnesium zum Beispiel über Milch oder Vollkornprodukte zuführen, werden Sie wahrscheinlich nur eine winzige Menge aus Nahrungsergänzungsmitteln behalten und den Rest wieder ausscheiden«

Und bei sportbedingten Krämpfen?

Dazu gibt es keine randomisiert-kontrollierten Studien, zumindest habe ich keine gefunden. Ich weiß nicht, ob Magnesium bei sportbedingten Krämpfen hilft. Aber ich wäre skeptisch.

Viele Menschen glauben fest daran. Man kann überall Magnesiumpräparate kaufen, und auf Laufveranstaltungen bekommt man sie sogar geschenkt. Ist mein Körper überhaupt in der Lage, dieses Magnesium zu verwerten?

Ein bisschen kann der Körper problemlos aufnehmen. Wenn Sie sich allerdings genügend Magnesium zum Beispiel über Milch oder Vollkornprodukte zuführen, werden Sie wahrscheinlich nur eine winzige Menge aus Nahrungsergänzungsmitteln behalten und den Rest wieder ausscheiden.

Wie viel Magnesium brauchen wir?

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt Erwachsenen, täglich insgesamt 300 bis 400 Milligramm Magnesium zu sich zu nehmen, abhängig von Alter und Geschlecht. Unter 25 Jahren sollten Frauen beispielsweise 310 Milligramm, Männer 400 Milligramm aufnehmen, danach 300 beziehungsweise 350 Milligramm pro Tag. Schwangere und Stillende benötigen etwas mehr. In Nahrungsergänzungsmitteln, die man zusätzlich zur normalen Ernährung einnimmt, sollten laut Bundesinstitut für Risikobewertung höchstens 250 Milligramm Magnesium enthalten sein. In einer Untersuchung der Verbraucherzentralen von 2020 überschritten mehr als die Hälfte der untersuchten magnesiumhaltigen Nahrungsergänzungsmittel diese Menge.

Können diese Produkte auch schaden?

Wenn Sie mehr als 250 Milligramm pro Tag einnehmen, können Sie Durchfall bekommen. Vielleicht machen Magnesiumpräparate einfach nur sehr teuren Stuhl und Urin. Aber wenn Sie beim Laufen oft Krämpfe kriegen und mir sagen, dass das Magnesium Ihnen hilft, wäre das Letzte, was ich Ihnen raten würde, es abzusetzen. Vielleicht täusche ich mich ja, und es bringt Ihnen tatsächlich etwas. Oder Sie glauben zumindest, dass es wirkt. Auch das kann hilfreich sein.

Die Macht des Placeboeffekts?

Ja. Den sollten wir niemals vernachlässigen.

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