Freistetters Formelwelt: Mathematik ist kompliziert
Die meisten Menschen lernen die Mathematik nur als Werkzeug kennen, als Zahlen, die in vorgegebene Formeln eingesetzt werden müssen. Oder als schnöde Schematik, die man auswendig lernen muss, vielleicht sogar nur als langweilige Berechnungen und unverständliche Zahlenkolumnen. Dass die Mathematik viel mehr ist und sich mit ihr tiefschürfende Erkenntnisse über unser Universum entdecken lassen, bleibt den meisten leider verborgen.
Auch ich selbst habe diesen Aspekt der Mathematik erst während meines Universitätsstudiums kennen gelernt. Im zweiten Semester besuchte ich eine Vorlesung über "Theoretische Mechanik", und der vortragende Professor hätte uninspirierter kaum sein können – doch das, was er uns gezeigt hat, war großartig. Ich habe damals das erste Mal vom "Noether-Theorem" gehört, und es lässt mich bis heute nicht mehr los. Die mathematische Formel, um die es geht, schreibt sich so:
Sie sieht nicht nur extrem kompliziert aus, sie ist es auch. Für ihre Ableitung und Erklärung habe ich in meiner Mitschrift damals mehrere Seiten vollgeschrieben. All das zu erläutern, was in ihr steckt, ist in so einer kurzen Kolumne kaum möglich. Das ist schade, da es sich um eine der elegantesten mathematischen Formeln handelt, die ich kenne. Das "L" bezeichnet die Lagrange-Funktion, mit der sich das Verhalten eines beliebigen dynamischen Systems beschreiben lässt; und das seltsame Symbol ∂ weist darauf hin, dass man hier verschiedene Veränderungen der Lagrange-Funktion betrachtet. Das Noether-Theorem gehört aber zum Glück zu den mathematischen Aussagen, die sich auch ganz ohne Funktionen und Symbole formulieren lassen: "Zu jeder kontinuierlichen Symmetrie eines physikalischen Systems gehört eine Erhaltungsgröße."
Dieser kurze Satz klingt harmlos, hat allerdings weit reichende Konsequenzen. Mit "Symmetrie" ist hier eine Transformation gemeint, die das Verhalten eines physikalischen Systems nicht ändert. Es macht zum Beispiel keinen Unterschied, ob man ein Experiment heute, morgen oder in zehn Jahren durchführt. Diese Symmetrie wird als "Homogenität der Zeit" bezeichnet. Und es gibt noch mehr: zum Beispiel die "Homogenität des Raums", die – vereinfacht gesagt – ausdrückt, dass es egal ist, ob ich ein Experiment in München, Hamburg oder New York durchführe. Oder die "Isotropie des Raums", nach der es ebenfalls keine Rolle spielt, in welcher Himmelsrichtung mein Experiment orientiert ist.
Dass diese Symmetrien existieren, ist fast schon trivial. Es brauchte aber die geniale Einsicht der deutschen Mathematikerin Emmy Noether, um die Konsequenzen daraus zu ziehen. Ihr Anfang des 20. Jahrhunderts veröffentlichtes Theorem besagt nichts anderes, als dass all diese Symmetrien Erhaltungsgrößen hervorbringen, also Parameter, die immer konstant bleiben müssen. Die Homogenität der Zeit führt zum Beispiel zur Erhaltung der Energie: In jedem physikalischen System, bei dem die Wahl der Startzeit keine Rolle spielt, muss die Gesamtenergie erhalten bleiben. Aus der Homogenität des Raums folgt die Impulserhaltung und aus der Isotropie des Raums die Erhaltung des Drehimpulses.
Solche Erhaltungsgrößen stehen im Zentrum der physikalischen Theorien, mit der wir das Universum beschreiben, und das Noether-Theorem gibt uns einen Weg, sie zu finden und zu erkennen. Überall dort, wo sich Symmetrien finden, muss es auch Erhaltungsgrößen geben. Zwei Phänomene, die auf den ersten Blick eigentlich nichts miteinander zu tun haben, werden durch das Noether-Theorem in einen erstaunlichen Zusammenhang gesetzt. Verständlicherweise wird diese Tatsache oft als "der schönste Satz der klassischen Physik" bezeichnet. Weniger verständlich ist es, dass Emmy Noether in der Öffentlichkeit heute immer noch kaum bekannt ist. Ihr Name sollte eigentlich auf einer Stufe mit denen von Einstein, Schrödinger oder Heisenberg stehen. Dass er das nicht tut, ist vermutlich auch eine späte Folge der Diskriminierung, der sie als Frau und Jüdin in der universitären Welt des frühen 20. Jahrhunderts ausgesetzt war. Heute jedoch ist es mehr als unverständlich, die große Leistung der Mathematikerin nicht angemessen zu würdigen.
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