Freistetters Formelwelt: Liebling, ich habe den Stammbaum geschrumpft!
Ich bin gerade auf dem Weg zu einer Familienfeier. Mein Großvater wird 90 Jahre alt, und das ist nicht nur Anlass für eine nette Party. Ich habe auch wieder einmal darüber nachgedacht, meinen Stammbaum zu erforschen und mehr über meine fernen Vorfahren herauszufinden. Dabei bin ich aber, wie jedes Mal zuvor, vor der Komplexität der Ahnenforschung zurückgeschreckt.
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Die Tochter meiner Kusine ist meine Nichte 2. Grades; das Kind des Onkels meines Vaters ist mein Cousin 2. Grades – und die sind noch vergleichsweise einfach zu identifizieren. Irgendwo in England existiert ein ganzer Zweig der Familie meiner Großmutter, deren offizielle Verwandtschaftsbezeichnungen zu verwirrend zu entschlüsseln sind. Und weil es anderen vermutlich ähnlich ging, hat man schon früh auf die Mathematik zurückgegriffen, um ein wenig Ordnung in die Genealogie zu bringen.
Es gibt mehrere Formeln, um ein System in die Generationen einer Ahnentafel zu bringen. Zum Beispiel diese hier:
Mit G(x) wird die Generation eines Individuums in der Ahnentafel bezeichnet, mit x die so genannte Kekule-Nummer – benannt nach dem Genealogen Stephan Kekulé, dem Sohn des berühmten Chemikers August Kekulé. Ich selbst hätte in diesem System die Kekule-Nummer 1 und bin Generation 0. Mein Vater bekommt die Nummer 2, meine Mutter die Nummer 3.
Danach wird dem Vater einer Person mit Kekule-Nummer n immer eine Zahl von 2n zugeordnet; der Mutter die 2n+1. Mein Großvater väterlicherseits hat also die 4, der Großvater mütterlicherseits die 6, und meine beiden Großmütter entsprechend die 5 und die 7. Ganz allgemein haben in diesem System alle männlichen Vorfahren eine gerade Kekule-Zahl und alle weiblichen eine ungerade Zahl.
Kennt man die Kekule-Nummer einer Person, kann man daraus mit obiger Formel die zugehörige Generation berechnen. Dazu bestimmt man den Logarithmus der Zahl zur Basis zwei und rundet das Ergebnis auf die nächste ganze Zahl ab. Meine Eltern sind die Generation I, die Großeltern die Generation II, und so weiter.
Wenn Vorfahren verschwinden
Die Mathematik der Ahnenforschung kann aber noch ein ganzes Stück komplexer sein. Es gibt Formeln zur Berechnung eines »Verwandtschaftskoeffizienten«, der die Wahrscheinlichkeit angibt, dass zwei Menschen (oder andere Arten von Lebewesen) dieselbe zufällig ausgewählte Erbinformation teilen. Es gibt auch einen »Ahnenverlustkoeffizienten« der bestimmt, wie viele Vorfahren man theoretisch haben kann und wie viele man tatsächlich hat. Jeder Mensch hat zwei Eltern, so viel ist sicher. Und im Allgemeinen haben wir auch immer vier Großeltern. Aber rein theoretisch können Vater und Mutter auch gleichzeitig Bruder und Schwester sein – und dann schrumpft die Zahl der Großeltern auf zwei.
Ahnen verschwinden auch, wenn Cousin und Kusine heiraten, und so weiter. So einen »Ahnenschwund« findet man vor allem in adligen Familien, in denen die Verwandtschaftsbeziehungen besonders eng sind. Von den 64 möglichen Ahnen, die in der 6. Vorfahrengeneration existieren können, hat etwa Friedrich der Große nur 35. Der Ahnenverlust beträgt hier also schon 45 Prozent; geht man zurück in seine 12. Generation, dann liegt er bei 73 Prozent.
Ahnenschwund ist aber kein Privileg des Adels, sondern eine mathematische Notwendigkeit, die uns alle trifft. Jeder Mensch hat vor n Generationen maximal 2n Vorfahren. Setzt man für eine Generation eine Zeitspanne von 25 Jahren an, dann müssen vor 30 Generationen, also vor etwa 750 Jahren, 230 Vorfahren gelebt haben. Das wären mehr als eine Milliarde Uropas und -omas für alle Menschen, die heute leben. Doch so groß war die Weltbevölkerung damals natürlich nicht.
Statistisch gesehen sind wir also alle miteinander verwandt. Und ich kann einfach warten, bis ich im Stammbaum einer anderen Person auftauche, und mir die Arbeit sparen, einen eigenen zu erstellen.
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