Die fabelhafte Welt der Mathematik: Satz von Pick: Flächeninhalt berechnen – ohne schwere Formel
Es ist fast zu schön, um wahr zu sein: Als ich erstmals vom Satz von Pick las, war ich skeptisch. Wenn man den Flächeninhalt eines komplizierten Vielecks ohne Hilfe eines Computers bestimmen soll, ist das in der Regel aufwändig. Meist macht es Sinn, die Figur in einfache Bestandteile, etwa Dreiecke zu zerlegen, deren Flächen einzeln zu berechnen und anschließend aufzusummieren. Das ist nicht unbedingt schwierig, aber oft langwierig.
Der Satz von Pick vereinfacht diese Aufgabe ungemein: Demnach lassen sich die Flächen mancher Vielecke bestimmen, indem man einfach nur ein paar Punkte abzählt – und fertig. Die Anforderungen an das Polygon sind dabei nicht einmal allzu einschränkend: Es muss zusammenhängend sein (also nur aus einem Teil bestehen), soll keine Löcher besitzen und sich nicht selbst durchdringen. Letzteres bedeutet: Wenn man den Rand der Figur einmal umrundet, durchläuft man niemals zweimal dieselbe Stelle. Außerdem muss es möglich sein, das Vieleck so auf ein kariertes Blatt zu zeichnen, dass alle Ecken auf den Gitterpunkten landen.
Wenn ein Polygon all diese Bedingungen erfüllt (im Folgenden gehe ich davon aus, dass alle erwähnten Formen das tun), ergibt sich dessen Flächeninhalt A durch eine denkbar einfache Regel: Man zählt alle Gitterpunkte innerhalb des Vielecks (I), addiert die Hälfte aller Gitterpunkte (B), die dessen Rand kreuzen, und zieht eins davon ab: A = I + B/2 − 1. Voilà! Schon hat man den Flächeninhalt bestimmt – und zwar exakt.
Diesen erstaunlichen Zusammenhang entdeckte der österreichische Mathematiker Georg Alexander Pick (1859–1942), der im Alter von 82 Jahren wegen seiner jüdischen Herkunft von den Nationalsozialisten in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde – wo er zwei Wochen nach seiner Ankunft starb. Zunächst erlangte der (damals noch nicht als solcher bekannte) Satz von Pick wenig Aufmerksamkeit. Erst nachdem sein polnischer Kollege Hugo Steinhaus (1887–1972) in seiner zweiten Auflage des Sachbuchs »Mathematical Snapshots«, auf Deutsch »Kaleidoskop der Mathematik«, das 1950 erschien.
Kurz vor der Jahrtausendwende schaffte es der Satz von Pick sogar in eine Liste der »100 größten Theoreme«, die Paul und Jack Abad bei einer Mathematik-Konferenz im Juli 1999 vorstellten. Die Rangliste basierte auf dem Stellenwert des Ergebnisses in der Literatur, der Qualität des Beweises und dem Überraschungseffekt. Picks Resultat erfüllt alle drei Anforderungen. Und was den zweiten Punkt angeht: Inzwischen haben Fachleute zahlreiche verschiedene Wege gefunden, den Satz von Pick zu beweisen – er taucht in mehr als 50 Fachpublikationen auf.
Einer der Beweise lässt sich mit bloßen Mitteln der Schulmathematik nachvollziehen. Die Idee besteht darin, zu zeigen, dass der Satz für einfache Formen wie Dreiecke erfüllt ist. Da sich Vielecke stets in Dreiecke zerlegen lassen, muss man nur noch nachweisen, dass Zusammensetzungen aus Figuren, die dem Theorem genügen, automatisch ebenfalls den Satz von Pick erfüllen.
Schritt 1: Der Satz von Pick gilt für Rechtecke
Dazu beginnt man mit einem einfachen Rechteck, dessen Längen m und n ganzzahlige Punkte eines Gitters sind. Der Flächeninhalt entspricht dann: A = m·n. Der Rand des Rechtecks kreuzt insgesamt B = 2m + 2n. Im Inneren des Rechtecks liegen hingegen I = (m − 1) · (n − 1) Punkte. Daher gilt: I + B/2 − 1 = m·n − m − n + 1 + (2m + 2n)/2 − 1 = m·n = A. Somit ist der Satz von Pick für Rechtecke gültig – die neben Quadraten den denkbar einfachsten Flächen entsprechen.
Schritt 2: Man kann Vielecke verbinden
Anschließend wendet man sich der Zusammensetzung zweier Vielecke zu, die jeweils dem Satz von Pick genügen (also A1 = I1 + B1/2 − 1 und A2 = I2 + B2/2 − 1). Man kann sie an einer Kante, die J Gitterpunkte enthält, miteinander verbinden. Um zu prüfen, ob das Ergebnis wieder dem Satz von Pick folgt, muss man bestimmen, wie viele Gitterpunkte I das neue Polygon in seinem Inneren einschließt: Es enthält auf jeden Fall I1 und I2, aber auch alle Gitterpunkte J der verschmolzenen Kanten (abzüglich der zwei Randpunkte), also: I = I1 + I2 + J − 2.
Auf dem Rand B des neuen Vielecks befinden sich alle vorherigen Randpunkte, abzüglich der überlappenden Kante, die sich nun im Inneren des neuen Polygons befindet. Das sind J − 2 Punkte, da die beiden Enden weiterhin Randpunkte sind – um sie aber nicht doppelt zu zählen, zieht man noch 2 ab: B = B1 + B2 − 2(J − 2) − 2 = B1 + B2 − 2J + 2.
Wenn man nun beide Flächeninhalte addiert, um die Fläche des neuen Vielecks zu berechnen, erhält man: A = A1 + A2 = I1 + B1/2 − 1 + I2 + B2/2 − 1 = I1 + I2 + (B1 + B2)/2 − 2. Nun kann man das folgendermaßen umschreiben, indem man ausnutzt, dass I − J + 2 = I1 + I2 und B + 2J − 2 = B1 + B2: A = I − J + 2 + (B + 2J − 2)/2 − 2 = I + B/2 − 1.
Damit hat man gezeigt, dass die Zusammensetzung zweier Vielecke, die dem Satz von Pick folgen, das Theorem automatisch ebenso erfüllen. Ähnlich lässt sich beweisen: Verbindet man zwei Polygone P1 und P2 zu einem größeren P, wobei dieses und eines der kleineren (P1) dem Satz von Pick genügen, dann tut das auch das übrige P2. Mit diesem Wissen kann man nun beweisen, dass das Theorem für alle Dreiecke, die den Anforderungen genügen, gültig ist.
Schritt 3: Dreiecke genügen dem Satz von Pick
Dafür startet man mit einem rechtwinkligen Dreieck, dessen Katheten horizontal und vertikal ausgerichtet sind. Nun kann man dieses an seiner Hypotenuse spiegeln und dadurch ein Rechteck erhalten, das wie bereits gezeigt dem Satz von Pick genügt: A = I + B/2 − 1. Wieder kann man nutzen, dass I = 2I' + J − 2, wobei I' die Innenpunkte der Dreiecke sind. Zudem ist: B = 2(B' − J + 1), wobei B' die Randpunkte der Dreiecke sind. Eingesetzt in den Flächeninhalt erhält man also: A = 2I' + J − 2 + B' − J + 1 − 1 = 2(I' + B'/2 − 1). Da A dem doppelten Flächeninhalt eines Dreiecks A' entspricht, kann man erkennen, dass beide Dreiecke jeweils dem Satz von Pick genügen.
Nun muss man nur noch zeigen, dass auch andere Dreiecke dem Theorem folgen. Das lässt sich einfach bewerkstelligen: Dazu zeichnet man das kleinstmögliche Rechteck um ein bestimmtes Dreieck. Da alle rechtwinkligen Dreiecke dem Satz von Pick genügen und alle Rechtecke ebenso, kann man durch die Zusammensetzungsregel zeigen, dass auch das betrachtete Dreieck das Theorem befolgt (da es für alle anderen Figuren innerhalb des Rechtecks gilt).
Schritt 4: Von Dreiecken zu allgemeinen Vielecken
Damit ist man schon fertig, denn zusammenhängende Vielecke, die sich nicht durchdringen, lassen sich stets in Dreiecke aufteilen. Und weil diese alle dem Satz von Pick genügen, tut es auch die Gesamtkonstruktion. Damit hat man eine wunderbare Methode zur Hand, um den Flächeninhalt komplizierter Vielecke in Windeseile zu berechnen.
Doch meist sieht man sich damit konfrontiert, komplexere Figuren zu vermessen. Für solche kann der Satz von Pick ebenfalls hilfreich sein – denn viele lassen sich durch Polygone zumindest annähern. Zudem haben zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler inzwischen Erweiterungen des nützlichen Theorems ausgearbeitet, etwa um Figuren mit Löchern zu berücksichtigen oder Objekte in höheren Raumdimensionen. Wie sich herausstellt, ist Geometrie manchmal einfacher als gedacht.
Was ist euer Lieblingsmathetheorem? Schreibt es gerne in die Kommentare – und vielleicht ist es schon bald das Thema dieser Kolumne!
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