Warkus' Welt: Falsch interpretiert
»Großartig, was der Huber in den sozialen Medien macht. Aber dass er meine Freundschaftsanfrage nicht annimmt, ist schade.« – »Ach, und jetzt fühlst du dich ungerecht behandelt? Komm mal klar!«
Kommt Ihnen dieser Dialog bekannt vor? Wenn nicht, dann vielleicht dieser:
»Mein Bruder hat seinen Dienstwagen abgegeben und fährt jetzt zu allen Terminen mit der Bahn. Die Außendienstler in unserer Firma machen das ja leider anders.« – »Das kannst du denen doch nicht vorschreiben! Die ewige Gängelung bringt die Leute nur noch mehr gegen den Staat auf.«
Oder dieser hier:
»Dr. Haferl redet dummes, verschwörungstheoretisches Zeug, das mit zwei Minuten Recherche zu widerlegen ist. Damit möchte ich mich nicht ausführlich auseinandersetzen.« – »Wollen Sie ihm etwa den Mund verbieten?«
Der Gesprächspartner zieht in jedem der drei Beispiele einen falschen Schluss: Denn selbstverständlich kann ich es schade finden, dass jemand nicht mit mir befreundet sein will, ohne zu finden, dass ich ein Recht darauf habe, mit der Person befreundet zu sein. Ich kann mir wünschen, dass mehr Leute dienstlich Bahn fahren, ohne dass sie gleich dazu gezwungen werden sollten. Und ich kann auch meinen, Dr. Haferl sollte lieber still sein, ohne zu fordern, ihm solle der Mund verboten werden.
Aber worin bestehen die falschen Schlussfolgerungen eigentlich? Wenn wir uns die Sprache genau anschauen, stellen wir fest, dass es mindestens zwei verschiedene Arten von Sätzen gibt: Behauptungen, die etwas über die Welt aussagen sollen (»Mein Bruder hat seinen Dienstwagen abgegeben«), und Aufforderungen, die Menschen zu bestimmten Handlungen veranlassen sollen (»Komm mal klar!«).
Aufforderungen kommen mit einem Anspruch auf Befolgung daher: Wer sie äußert, möchte auch, dass jemand ihnen folgt. Aber je nach Aufforderung können unterschiedliche Personenkreise mit unterschiedlich viel Nachdruck gemeint sein. »Wirf den Ball rüber!« richtet sich an eine Person, »Rettet das Klima!« richtet sich meist an alle Menschen. »Deutsche, esst grüne Soße!« und »Deutsche, geht wählen!« richtet sich nominell an denselben Personenkreis, aber die erste Aufforderung wird kaum einfordern, dass alle bei jeder Gelegenheit grüne Soße essen sollen, während die zweite durchaus so gemeint und gelesen wird, dass alle bei jeder Gelegenheit wählen gehen sollen.
Beschreiben und werten
Werfen wir einen genaueren Blick auf Behauptungen, fällt schnell auf, dass es auch hier Unterschiede gibt: »Dr. Haferl redet mit tiefer Stimme« und »Dr. Haferl redet Unfug« sind grundlegend verschiedene Sätze. Der erste drückt keine Wertung aus; der zweite sehr wohl. Traditionell spricht man von der Unterscheidung zwischen deskriptiven (beschreibenden) und normativen (wertenden) Sätzen: Deskriptive Sätze drücken ein Sein aus, normative Sätze ein Sollen.
Spätestens seit David Hume (1711–1776) wird in weiten Teilen der philosophischen Tradition akzeptiert, dass zwischen normativen und deskriptiven Sätzen eine harte Trennung besteht. Deskriptive Sätze können nach wahr und falsch beurteilt werden – wenn Dr. Haferl eine hohe Piepsstimme hat, dann ist der Satz »Dr. Haferl redet mit tiefer Stimme« falsch. Normative Sätze hingegen lassen sich nur nach ihrer Geltung im Rahmen von anderen normativen Sätzen beurteilen: Der Satz »Dr. Haferl redet Unfug« ist nur zu erklären, wenn man Bewertungsmaßstäbe dafür hat, was Unfug ist; und diese Bewertungsmaßstäbe haben immer schon die Form normativer Sätze (»Offensichtlich falsche politische Behauptungen sind Unfug«). Aus deskriptiven Sätzen allein kann man nie auf normative Sätze schließen.
Manchmal gewinnt man den Eindruck, dass der Unterschied dazwischen, eine Einstellung zu haben, und diese Einstellung von anderen einzufordern, vielen gar nicht mehr bekannt ist
In unseren Beispielen ist das nicht passiert. Stattdessen wurden normative Behauptungen unterschiedslos als Aufforderungen mit maximalem Anspruch auf Befolgung gelesen. Speziell bei politischen (oder politisch deutbaren) Themen und besonders im Internet werden Aussagen, in denen Einzelpersonen subjektive Wertungen äußern, häufig auf diese Weise überinterpretiert. Manchmal kann man den Eindruck gewinnen, dass der Unterschied dazwischen, eine Einstellung zu haben, und diese Einstellung von anderen einzufordern, vielen gar nicht mehr bekannt ist.
Es lohnt sich, sich vor Reaktionen auf wertend erscheinende Sätze anderer stets zu fragen: Ist der Satz überhaupt wertend, oder ist er eine Faktenbehauptung, die man erst einmal auf Wahrheit überprüfen sollte? Wenn er wertend ist: Kann man eine Handlungsaufforderung aus ihm ableiten? Und wenn ja: An wen richtet sie sich, und wie nachdrücklich ist sie? Wenn einzelne Punkte unklar sein sollten, kann man nachfragen oder kontrovers darüber diskutieren. Eine Unterhaltung darüber, wer was warum gutheißen und tun sollte, ist letztlich immer produktiver als Unterstellungen von Verbots- und Zwangsforderungen – auch, wenn man im Internet den Eindruck haben kann, dass das viele nicht verstehen.
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