Freistetters Formelwelt: Spaß mit Flaggen
»(1) Zeichne eine Linie AB der benötigten Länge von links nach rechts auf den unteren Teil eines karmesinroten Stoffs. (2) Zeichne von A aus eine Linie AC, die rechtwinkelig zu AB ist, so dass AC gleich AB plus ein Drittel von AB ist. Markiere D auf AC, so dass die Linie AD gleich der Linie AB ist. Verbinde BD.«
Das klingt nach einer Aufgabe aus einem Geometrielehrbuch. Steht aber genau so seit dem 9. November 1990 in der Verfassung des Landes Nepals. Auf die zwei oben zitierten Punkte folgen noch 22 weitere Abschnitte mit sehr detaillierten Anweisungen zur geometrischen Konstruktion der Landesflagge. Auch andere Länder haben ihre Flagge per Gesetz festgeschrieben, kommen aber normalerweise mit sehr viel weniger Mathematik aus.
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In Deutschland sind drei gleich große Querstreifen in Schwarz (oben), Rot (Mitte) und Gold (unten) vorgeschrieben, und zwar in einem Rechteck mit dem Seitenverhältnis von 3 zu 5. Österreichs Flagge hat ebenfalls drei gleich breite waagrechte Streifen; weiß in der Mitte und die anderen rot. Das Verhältnis von Breite zu Länge ist hier nicht explizit vorgeschrieben, üblich ist aber 2 zu 3. Die Schweiz ist eines der wenigen Länder, deren Flagge quadratisch ist – aber mit einem Seitenverhältnis von 1:1 immerhin noch rechteckig, so wie alle anderen Landesflaggen. Mit Ausnahme der von Nepal. Sie hat die Form zweier ineinandergeschobener Dreiecke. Und ein irrationales Seitenverhältnis:
Zeichnet man ein Rechteck um die seltsam geformte Flagge herum, dann hat es genau das oben angegebene Seitenverhältnis. Die kompliziert notierte Zahl ergibt sich aus der geometrischen Konstruktionsvorschrift der Verfassung und berechnet sich zu zirka 1,2190133… Sie kann nicht exakt als ganze oder Bruchzahl angeben werden. Man kann sie allerdings als eine Lösung eines Polynoms vierten Grades definieren.
Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?
Dabei hätte es gar nicht so kompliziert sein müssen. Die Flagge Nepals ist rot, mit einer blauen Umrandung. Betrachtet man nur den roten Bereich, dann kann man den mit einem Rechteck umschreiben, dessen Seitenverhältnis exakt 3:4 entspricht. Erst der dünne blaue Rand um die Flagge macht alles kompliziert.
Ihre seltsame Form hat die nepalesische Flagge bekommen, weil sie aus der Kombination zweier dreieckiger Wimpel entstanden ist. Teil der Flagge sind übrigens auch Bilder von Sonne und Mond – deren exakte geometrische Konstruktion ebenfalls in der Verfassung vorgeschrieben ist. Um die Zeichenanleitung zu befolgen, braucht man übrigens nur einen Zirkel und ein Lineal.
Das sind die so genannten »euklidischen Werkzeuge«, die schon vor mehr als 2000 Jahren im berühmten Buch »Die Elemente« des griechischen Mathematikers Euklid als einzige Instrumente zur Lösung geometrischer Probleme zugelassen wurden. Aufgaben in der Geometrie galten lange Zeit nur dann als »richtig« und zufrieden stellend gelöst, wenn dafür ausschließlich dieses Werkzeug benutzt wurde.
Als Mathematik-Fan finde ich die Flagge Nepals natürlich höchst faszinierend. Aber eigentlich bin ich ja Astronom und muss in diesem Fall die Flaggen von Brasilien und Portugal bevorzugen. Das größte Land Südamerikas zeigt 27 Sterne in genau der Anordnung, in der sie am 15. November 1889 am Himmel über Rio de Janeiro standen, dem Tag der Ausrufung der Republik – interessanterweise aus der Sicht eines Betrachters, der quasi von außen »durch« die Sterne hindurch auf Brasilien blickt.
Noch besser ist aber die Flagge von Portugal. Auf ihr ist eine Armillarsphäre abgebildet, ein lange vor dem Teleskop entwickeltes Gerät, um die Bewegung von Himmelskörpern darzustellen und zu messen. Portugal ist das einzige Land der Welt, das sich ein astronomisches Instrument auf die Landesflagge gesetzt hat. Und ist damit natürlich mein Favorit bei jeder Flaggenparade.
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