Springers Einwürfe: Die Jugend von heute …
Unter dem Stichwort »Jugend von heute« liefert das Internet ein Potpourri von Zitaten, von sumerischen Tontafeln über antike Philosophen bis zu modernen Zeitdiagnostikern, die unisono verkünden: Die Moral der zeitgenössischen Jugend ist eine echte Katastrophe.
Nun muss ein Gemeinplatz wie »Jugend kennt keine Tugend« ja nicht von vornherein ganz falsch sein. Verdächtig ist nur, wie hartnäckig die älteren Semester zu allen Zeiten der nachwachsenden Generation deren Nichtswürdigkeit bescheinigt haben. Das riecht nach einem stereotypen Vorurteil.
Denn wenn der gesellschaftliche Verfall tatsächlich, wie schon in den ältesten schriftlichen Zeugnissen behauptet, ein dauerhafter Trend wäre, dann müsste längst überall nackte Barbarei herrschen. Dagegen spricht, dass zivilisatorische Kenngrößen wie Alphabetisierung, Nahrungsversorgung, Lebenserwartung und Kriminalität trotz all der Probleme, mit denen sich eine rapide wachsende Menschheit herumschlägt, alles in allem eine positive Tendenz aufweisen.
Dessen ungeachtet konstatieren die meisten Menschen einen Niedergang der Lebensumstände: Früher sei alles freundlicher und ehrlicher zugegangen – einfach anständiger. Das überwältigende Vorherrschen dieser Meinung belegen die Umfragen, die der Sozialpsychologe Adam M. Mastroianni von der Columbia University in New York mit seinem Kollegen Daniel T. Gilbert von der Harvard University in Cambridge ausgewertet hat.
Die Forscher stützen sich auf gut zwölf Millionen Daten aus 60 Nationen, die aus den vergangenen 70 Jahren stammen. Auf Fragen wie »Glauben Sie, dass sich hier zu Lande der Zustand der moralischen Werte derzeit verbessert oder verschlechtert?« antworten die meisten Befragten, es gehe mit der Moral bergab. Dabei wird sogar eingeräumt, dass Frauen, Menschen mit Behinderungen oder Homosexuelle weniger diskriminiert werden als früher – aber das ändert nichts am generellen Pessimismus.
Im Widerspruch zur Verfallsthese stehen die Ergebnisse von Umfragen, die im Abstand von mindestens zehn Jahren aufforderten, den jeweils gerade aktuellen moralischen Zustand einzuschätzen. Dabei zeigte sich keine Zeitabhängigkeit. Das heißt, in der Tat ändert sich die herrschende Moral gar nicht merklich. Insbesondere verfällt sie nicht.
Darin sehen Mastroianni und Gilbert den Beweis, dass es sich bei dem Eindruck, es finde ein allgemeiner Niedergang statt, um eine Illusion handelt. Aber was verursacht diese Einbildung?
Wie die Forscher vermuten, steckt dahinter eine Kombination von zwei sozialpsychologischen Mechanismen: Zum einen finden negative Informationen mehr Aufmerksamkeit, zum anderen neigen wir dazu, negative Ereignisse schneller zu vergessen.
Der Roman »Anna Karenina« von Leo Tolstoi beginnt mit dem Satz: »Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.« Das heißt, der Bericht über eine harmonische Beziehungsidylle ist weniger interessant als die Geschichte einer unerhörten Familientragödie.
Fernsehspiele konkurrieren um hohe Einschaltquoten, indem sie gleich in der ersten Einstellung die Aufmerksamkeit durch ein Gewaltverbrechen fesseln. So verstärken die Medien den Eindruck, grobe Verletzungen der Moral seien die Regel, ein ruhiger Alltag die rare Ausnahme.
Andererseits erinnern wir uns besonders deutlich an schöne Erlebnisse, während schlimme Erinnerungen eher verdrängt oder beschönigt werden. Dadurch erscheint uns die Vergangenheit in milderem Licht.
Indem beide Effekte zusammenwirken, erleben wir die Gegenwart deswegen deutlich negativer als die Vergangenheit. Früher war vermeintlich alles besser.
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