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Warkus' Welt: Ein Makramee aus Ereignissen

Bei Phänomenen wie Stürmen oder Regenschauern kommen herkömmliche Existenzbegriffe an ihre Grenzen. Einen Ausweg bietet die Prozessphilosophie. Sie fragt nicht: Was ist das? Sondern: Was tut es? Eine Kolumne.
Makramee

Das Wetter in Jena ist trübe dieser Tage. Der Himmel ist bedeckt, und beim Blick aus dem Fenster regnet es mal und dann wieder nicht – Regenschauer ziehen über mich hinweg.

Wenn wir nun spitzfindig sind (und hier geht es um Philosophie, daher möchten wir spitzfindig sein), können wir uns fragen: Ist es korrekt ausgedrückt zu sagen, dass Regenschauer über mich hinwegziehen? Es ist ja nicht so, dass sich wirklich etwas bewegen würde. Wenn ich sage, der Regen zieht in Richtung Norden, dann meine ich damit, dass an Stellen nördlich der bisherigen nördlichen Grenze des Regengebiets, an denen es bisher noch nicht geregnet hat, Regentropfen zu fallen beginnen, während an Stellen nördlich der bisherigen südlichen Grenze des Regengebiets Regentropfen aufhören zu fallen.

Das kann zwar daran liegen, dass sich tatsächlich eine Regenwolke über mir fortbewegt. So muss es aber nicht notwendigerweise sein. Wenn man statt über Regen über Wind oder bloß Luftdruck spricht, wird das Ganze noch eindeutiger: Dass ein Sturm oder ein Hochdruckgebiet sich fortbewegt, heißt einfach, dass an bestimmten Orten der Wind stärker und an anderen schwächer wird, beziehungsweise der Luftdruck hier steigt und da fällt. Genauso »bewegt« sich auch ein heller Lichtpunkt auf einem ansonsten dunklen Bildschirm fort; oder einer von diesen kleinen, beweglichen Wasserwirbeln, die ich als Kind gerne durch die fast leere Badewanne laufen ließ.

Das philosophisch Interessante an dieser Beobachtung ist, dass sie gegebenenfalls ein ontologisches Problem aufwirft, das heißt ein Problem hinsichtlich der möglichst eindeutigen und allgemein gültigen Beschreibung dessen, was existiert. Eine beliebte Vorstellung in der gegenwärtigen Philosophie ist die, dass alles, was wirklich existiert, eine angebbare Zusammensetzung aus physikalischen Teilchen hat. Ein Regengebiet oder ein Sturm haben nun eine solche angebbare Zusammensetzung, sie bestehen nämlich aus den Luft- und Wassermolekülen, die sich in bestimmten Bereichen der Atmosphäre aufhalten. Man kann auch angeben, wie schnell und in welche Richtung es sich gegebenenfalls bewegt, aber in Wirklichkeit bewegt es sich in gewisser Weise gar nicht (siehe oben).

Prozesse statt Objekte

Es gibt verschiedene grundsätzlich unterschiedliche Weisen, mit dieser Schwierigkeit zurechtzukommen. Eine beliebte Lösung ist es, den problematischen Entitäten einfach die Existenz abzusprechen – ein Sturm oder eine Welle sind dann einfach keine Gegenstände mehr, in Abgrenzung zu Steinen, Fischen oder Autos. Im Extremfall kann man sogar allem außer Elementarteilchen die Existenz absprechen. Jeder materielle Zusammenhalt eines Gegenstands, ob Amboss, Baum oder Wasserwirbel, wäre dann nur so etwas wie eine Illusion oder allenfalls ein temporärer Zwischenzustand.

Die große Frage, die man sich über die Welt stellen müsste, wäre dann nicht »Was existiert?«, sondern »Was geschieht?«

Eine grundsätzlich andere Lösung ist es, dynamische Vorgänge wie Wirbel, Schwingungen oder das Fortschreiten von Anomalien über ein Feld von Werten (wie bei wandernden Regenschauern oder Tiefdruckgebieten) gar nicht als sekundär zu betrachten, sondern als primär. Die Welt wäre dann kein Aufenthaltsort materieller Objekte und Schauplatz ihrer Orts- und Zustandsveränderungen, sondern ein Geflecht aus Prozessen. Die große Frage, die man sich über die Welt stellen müsste, wäre dann nicht »Was existiert?«, sondern »Was geschieht?«; und bei einzelnen Phänomenen nicht »Was ist das?«, sondern »Was tut es?«. Dabei sind alle Prozesse notwendigerweise immer mit anderen verknüpft. Nichts kann unabhängig vom Rest der Welt bestehen oder auch nur gedacht werden.

Diese Auffassung wird als Prozessontologie oder Prozessphilosophie bezeichnet und ist eng mit dem Namen des britischen Mathematikers und Philosophen Alfred North Whitehead (1861–1947) verbunden. Bis heute ist diese Form von Prozessdenken eher eine Nischenangelegenheit geblieben, es ist aber schwer von der Hand zu weisen, dass es eine Reihe von Vorteilen haben kann, über die Welt als eine Art Makramee aus Ereignissen zu reden statt als Ansammlung von Krempel. Nicht zuletzt kommen ihr Spekulationen aus der theoretischen Physik entgegen, dass die Elementarteilchen der Materie letztlich auch nichts anderes sein könnten als sozusagen Punkte auf einem vierdimensionalen Bildschirm.

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

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