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Freistetters Formelwelt: Was Kurven mit Ebenen machen

Wenn man einen Kreis zeichnet, hat er einen Innen- und einen Außenbereich - völlig offensichtlich, oder? Eigentlich ja. Einfach zu beweisen ist das aber nicht.
Schülerin an der Tafel

Die Mathematik ist voll mit Begriffen, die auch in unserem Alltag auftauchen. Da gibt es etwa Ringe, Bäume, Knoten, Sätze oder Wege. Und alles hat eine ganz andere Bedeutung, als wir es vermuten würden. Auch »Kurven« werden in der Mathematik auf eine ganz spezielle Art und Weise betrachtet. Zum Beispiel so:

Bei einer mathematischen Kurve handelt es sich um eine Untermenge der Zeichenebene. Oder, genauer gesagt, eine Untermenge der Menge aller reellen Zahlenpaare. In der Formel oben werden die Zahlen aus dem Intervall [0,1] über eine Funktion γ auf die Ebene abgebildet. Die resultierende Menge α ist das, was man eine »Kurve« nennt.

Die Punkte γ(0) und γ(1) sind die »Endpunkte« der Kurve, und wenn sie identisch sind, nennt man die Kurve »geschlossen«. »Einfach« ist eine Kurve, wenn kein Punkt darin doppelt vorkommt – mit Ausnahme der Endpunkte. Eine einfache Kurve wird auch »Jordan-Kurve« genannt, und sie kann offen oder geschlossen sein.

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Man kann das sehr leicht veranschaulichen: Wenn man eine durchgehende Linie auf ein Blatt Papier zeichnet, die sich nicht selbst kreuzt und am Ende wieder beim Anfangspunkt ankommt, hat man eine geschlossene Jordan-Kurve gezeichnet.

Für die gilt dann der »jordansche Kurvensatz«: Jede geschlossene Jordan-Kurve in der Ebene teilt die Ebene in zwei voneinander getrennte Gebiete. Diese beiden Untermengen der Ebene haben keine Elemente gemeinsam. Sie haben nur einen gemeinsamen Rand (nämlich die Jordan-Kurve). Eines der beiden Gebiete ist beschränkt, das andere nicht. Oder anders gesagt: Eine Jordan-Kurve teilt die Ebene in ein »Innen« und ein »Außen«.

Die Teilung der Ebene

Das erscheint auf den ersten Blick offensichtlich und lässt sich mit einer einfachen Kritzelei auf einem Blatt Papier leicht überprüfen. Es klingt so trivial, dass es einer näheren mathematischen Betrachtung fast schon unwürdig erscheint. Dennoch ist diese simple Aussage relevant. Bei vielen Problemen ist es wichtig zu wissen, ob sich ein bestimmter Punkt innerhalb oder außerhalb einer Region befindet, zum Beispiel wenn es darum geht, geografische Daten zu organisieren. Aber auch in der reinen Mathematik taucht der Satz immer wieder auf, etwa in der Topologie.

Lange Zeit verwendete die Mathematik diese Aussage, ohne sie explizit zu formulieren oder gar zu beweisen. Den meisten erschien sie ausreichend einleuchtend, um sich diese Arbeit zu sparen. Früher oder später kommt man mit so etwas in der Mathematik allerdings nicht mehr durch. Und deswegen machte sich der französische Mathematiker Camille Jordan gegen Ende des 19. Jahrhunderts daran, einen strengen Beweis für den Satz zu finden. Das gelang ihm nicht komplett, auch wenn manche der Meinung sind, dass die Lücken in Jordans Beweis nicht relevant seien. Auf jeden Fall gelang dem Amerikaner Oskar Veblen 1905 ein Beweis, mit dem alle zufrieden waren.

Der scheinbar so simple Satz über Kurven hat sich als erstaunlich schwer zu fassen erwiesen. Würde man nur gerade Linien verwenden, also als Kurven lediglich Polygone zulassen, dann wäre ein Beweis tatsächlich simpel. Doch er muss ja für alle Kurven gelten, egal wie verzwickt verwinkelt sie verlaufen. Und all das in korrekte mathematische Terme zu übersetzen und so zu beweisen, dass Jordans Satz immer und überall zutrifft, machte mehr Arbeit, als die meisten Mathematikerinnen und Mathematiker vermutet hatten.

Die Mathematik ist in solchen Fällen in ihren eigenen Gesetzen gefangen. Egal wie trivial etwas aussieht: Solange es nicht formal bewiesen ist, darf man nicht davon ausgehen, dass es auch richtig ist. Denn wenn man einmal eine Ausnahme macht und sich dabei irrt, bricht alles zusammen, was man auf der scheinbar offensichtlichen »Tatsache« aufgebaut hat.

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