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Futur III: Ameryka

Expedition ins Unbekannte
Die Schiffe des Christoph Kolumbus

Mittwoch, den 10. Oktober

Ich blieb weiterhin auf westsüdwestlichem Kurs. Wir machten zehn Meilen pro Stunde, stellenweise zwölf, dann wieder nur sieben und legten so in Tag- und Nachtfahrt 59 Leguas zurück. Zu diesem Zeitpunkt beklagte sich die Mannschaft über die unerträglich lange Reisedauer. Aber ich tat mein Bestes, meine Leute aufzumuntern und ihnen Mut und Zuversicht einzuflößen, indem ich sie an die Reichtümer erinnerte, die unserer am Ende harren. Dem fügte ich hinzu, dass es zwecklos sei, sich darüber zu beschweren, da ich nun einmal entschlossen sei, die Reise so lange fortzusetzen, bis ich mit Gottes Hilfe mein Ziel erreicht hätte.


Tief über den Schreibtisch in seiner behaglichen Achterkajüte gebeugt, hält Admiral Cristóbal bei seinen Eintragungen ins Logbuch der »Santa María« inne. Das Holzwerk aus baskischer Tanne knarzt im Rhythmus des schwankenden Schiffs; durch die offenen Luken dringt das geräuschvolle Hin und Her der Besatzung auf dem Oberdeck an sein Ohr, dazu das Pfeifen des Winds – der Admiral hofft inbrünstig auf einen günstigen – in der Takelage.

Cristóbals Blick fällt auf die geschnitzte Statuette der heiligen Jungfrau, die ihn stets auf seinen Reisen begleitet, und er murmelt: »Santa Virgen Galeona, erhöre mein Flehen, ich bedarf deines Lichts in dieser düsteren Stunde.«


Freitag, den 12. Oktober

Weiterhin Kurs Westsüdwest. Unsere tägliche Wegstrecke betrug lediglich 44 Leguas. Das Meer breitet sich nun so ruhig unter uns aus wie schon lange nicht mehr, sein leuchtendes Türkis verliert sich in der Tiefe. In den letzten Tagen nahm unsere Fahrt eine unheilvolle Wendung, aber ich halte fest an meinem Glauben, alle Fährnisse zu meistern. Trotz des Unwetters, das uns gestern überraschte, trotz des traurigen Verlusts der »Niña«, trotz der Auseinandersetzung mit Pinzón und seinen Männern auf der »Pinta«, trotz der gewaltigen Abdrift auf Grund des Sturms – wir halten die Moral an Bord hoch.


Die versuchte Meuterei auf der »Santa María«, nachdem die »Niña« im Sturm zerschmettert und vom Gierschlund des stürmischen Meers verschlungen worden war, erwähnt Cristóbal nicht. Er verliert im Schiffstagebuch kein Wort über die unverhohlene Dreistigkeit, mit welcher seine eigenen Leute ihm Betrug vorgeworfen und behauptet hatten, der König und die Königin hätten den Fehler gemacht, sich auf einen Ausländer zu verlassen, der ahnungslos daherrede und sie alle ins Verderben führe. Man munkelte gar, einige hätten vorgehabt, den Admiral über Bord zu werfen, das Fahrzeug zu wenden und nach Europa zurückzukehren. Cristóbal hatte daraufhin dem Kapitän der »Pinta« befohlen, mit seinem Schiff die Führung zu übernehmen, damit er ihn im Auge behalten könne. Zugleich hatte er den Geschützmeister der »Santa María« angewiesen, das tödliche Zirkumfolgore zu bestücken, falls Pinzón den Versuch wagen sollte, von der Fahne zu gehen.

Der Admiral stützt den Ellenbogen auf die Seekarte und fährt mit seinen Aufzeichnungen fort:


Gestern ward von der »Pinta« aus ein Vogel gesichtet; er habe sich im Gegenlicht in weiter Ferne vor dem Horizont abgezeichnet, daher könne man Größe oder Art nicht benennen, aber der Mann im Mastkorb habe versichert, das Flügelwesen sei Richtung Sonnenuntergang geflogen. Nach meiner Erfahrung ist dies ein sicherer Hinweis auf festes Land. Jeden Tag nähern wir uns weiter unserem Ziel. Hartnäckig verfolge ich meinen Weg, denn ich ahne, dass es mir bestimmt ist, Indien auf westlichem Kurs zu erreichen, und im Vertrauen auf den Beistand unseres HERRN …


Ein leises Fauchen – wie vom Blasebalg, mit dem der Schmied das Feuer anfacht – erregt seine Aufmerksamkeit. Es erklang aus dem Beutel, den der Admiral unter seinem mit Goldfäden durchwirkten Leinenrock am Gürtel trägt. Cristóbal greift in das Behältnis aus feinem Tuch, bestickt mit dem Wappen der DaVinci-Manufakturen, und entnimmt ihm ein rechteckiges Kästchen, kunstvoll aus Ebenholz und Mahagoni gefügt. Daraus zieht er ein Kärtchen hervor, das an einigen Stellen perforiert ist, steckt es in den Schlitz des in den Schreibtisch eingelassenen Heliografen und wartet, bis der darin verborgene Mechanismus die Botschaft von der »Pinta« entziffert hat.

Nach einer Weile holt Cristóbal das Lochkärtchen wieder heraus – es ist noch warm von der Katalyse – und liest, was darauf geschrieben steht:


RODRIGO DE TRIANA MELDET VOM AUSGUCK: LAND IN SICHT!


Die Nachricht löst mehr als nur Freude in Cristóbal aus: Sie ist Balsam für seine geschundene Seele, eine gewaltige, geradezu betäubende Erleichterung. Säße er nicht bereits, die Beine hätten unter ihm nachgegeben. Der Admiral lässt geraume Zeit verstreichen, bis er sich wieder einigermaßen gefasst hat, dann legt er sich das prunkvolle Samtcape um die Schultern, verbeugt sich, von Dankbarkeit erfüllt, vor der Statue der Jungfrau und betritt mit gespielter Gelassenheit das Deck. Er lässt den Bootsmann »Ruhe im Schiff« pfeifen und verkündet mit lauter Stimme die Nachricht von der »Pinta«.

Die Hochrufe der Mannschaft begleiten ihn, als er zum Vorderkastell schreitet, wohin ihm der Steuermann und der Vertreter des Hofs vorausgeeilt sind. Sie stehen am Bugspriet, paffen aufgeregt ihre Hanfpfeifen und strahlen ihn an, hocherfreut und tief bewegt zugleich. Ein frischer Wind bläst ihnen um die Ohren und beißt in ihre Wangen.

Der Admiral beugt sich über die Reling. Nebelfetzen behindern die Sicht. 500 Fuß über den Wogen hängt die Gondel der »Santa María« unter dem riesigen aerostatischen Leviathan, dessen elfenbeinweißes Tuch auf der einen Seite das rote Kreuz der Tempelritter zur Schau trägt und auf der anderen das grüne Kreuz und die Initialen der Katholischen Könige.

Das Luftschiff dreht elegant in den Wind, der Nebel weicht …

Und dahinter, so weit das Auge reicht, eine Welt voller Verheißungen, gehüllt in einen smaragdenen Mantel

Tatsächlich, dort unten zeigt sich festes Land!

Ein endloser Streifen blendend weißen Sands im Sonnenglast, dessen Intensität die Erhabenheit des Anblicks noch verstärkt. Und dahinter, so weit das Auge reicht, eine Welt voller Verheißungen, gehüllt in einen smaragdenen Mantel.

Begeistertes Gebrüll der Männer, Triumphgeschrei, allgemeiner Freudentaumel – all dies ist Musik in den Ohren des Admirals. Vor seinem inneren Auge ersteht eine glorreiche Zukunft.

Vom Vorderkastell der »Pinta«, die in 600 Fuß Abstand neben der »Santa María« einherschwebt, signalisiert der heliografische Semaphor die Glückwünsche Pinzóns. Der Admiral lehnt sich mit dem Rücken zur Terra incognita gegen das Schanzkleid und zückt seinen DaVinci, um den historischen Moment festzuhalten. Der Steuermann und der Abgesandte des Hofs neigen ihre Häupter zu dem seinen und grinsen, während das Artefakt schnurrend die Momentaufnahme in ein Kärtchen stanzt.

»Das schönste Land, das Menschenaugen je geschaut«, erklärt der Admiral.

Während die Luftschiffe allmählich herabsinken, harren vor ihnen verborgen im grünen Laubwerk des Urwalds die Saurier – mit lauerndem Blick.

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