Leseprobe »Tourismus – Über das Reisen und Urlauben in unserer Zeit«: Tourismus als Entwicklungsperspektive
»Es ist schon eine sehr entlegene Gegend hier!« Thundu Sherpa, Dorflehrer und Besitzer einer kleinen Lodge in Simigaon, dem Dorf der Bohnen am Fuße des heiligen Berges »Gauri Shankar«, freut sich über jeden Touristen. Einige hundert kommen im Jahr herauf in das sehr ruhige Rolwaling Tal, im Grenzgebiet zwischen Nepal und Tibet. Ein kleines Zusatzeinkommen schaut für die Familie heraus, aber nicht viel mehr, denn die meisten Touristen buchen in Kathmandu einen »fully organized trek« oder sind als Expeditionsteilnehmer auf dem Weg zu einem der Achttausender jenseits des Trashi Laptsa Passes im Sagarmatha (Mount Everest) Nationalpark. Bis zum Spiegelei wird alles aus der Hauptstadt mitgetragen. Thundu vermietet auch einen der wenigen ebenen Plätze, dort werden die Touristenzelte aufgeschlagen. Gleich daneben liegen die Hirsefelder seines Vaters, der einst Postläufer für Edmund Hillary, dem Erstbesteiger des Mount Everest 1953, gewesen ist.
Das »Rolwaling Öko Tourismus Projekt«, implementiert von 1996–2008 durch die österreichisch-nepalesische NGO »EcoHimal«, hat die Struktur und die basale Infrastruktur für einen sanften Ökotourismus in dieser Region geschaffen. Geplant war eine etwa zweiwöchige Trekkingroute auf bestehenden Pfaden durch Dörfer und eine Terrassenlandschaft, der man die harte Arbeit ansieht. Sie durchwandernd kann man die Welt der Bergbauern kennenlernen und das Land ein wenig verstehen. Beeinträchtigt wurde das Projekt von einem zehn Jahre dauernden Bürgerkrieg und zuletzt durch den Bau eines Großkraftwerks in der Nachbarschaft. Dies veränderte auch die Interessenslage der Bewohner und etliche ließen sich als Bauarbeiter anwerben. Aufgrund der Vorleistungen durch das Projekt entstand mit der »Gauri Shankar Conservation Area« aber eine weitere Schutzzone, was den Anteil naturgeschützter Gebiete in Nepal auf fast ein Viertel an der gesamten Landesfläche erhöhte.
Eine in die Landschaft hineingesprengte Aufschließungsstraße führt jetzt durch den Dschungel zum Kraftwerk und bringt so manche Städter in die Gegend. Kamen die Trekker früher vorwiegend aus den westlichen Industriestaaten, so finden jetzt auch die asiatischen Mittelschichten das Wandern chic&cool und junge Nepalesen entdecken ihre Heimat. Das Tal des »Tamba Khosi«, des Flusses, der aus Tibet kommt, und das Rolwaling Tal wurden so zu einem heißen Tipp für Kurzurlaube. Aber das große Erdbeben 2015, dessen Epizentrum in diesem Gebiet lag, hat viel Substanz gekostet. Auch eine neue Lodge in Simigaon wurde dessen Opfer, die Richterskala verzeichnete eine Stärke von 7,8 und so einer Magnitude hält wenig stand. In ganz Nepal wurden zehntausend Menschen getötet, hunderttausende Familien verloren ihre Häuser und ihre Haustiere, damit auch ihre Lebensgrundlage.
Simigaon und der gesamte Dholaka-Distrikt, etwa 180 km nordöstlich von Nepals Hauptstadt Kathmandu entfernt, haben sich bis heute nicht von diesem Schlag erholt. Die Subsistenzlandwirtschaft der Bauern war schon vorher durchlöchert wie Schweizer Käse, die Fruchtbarkeit der Böden sinkt seit Jahren und die Ernten reichen den Großfamilien meist nicht für ein ganzes Jahr. Der im Entwicklungsprojekt propagierte Tourismus war als Zusatzeinkommen für die Bauernfamilien gedacht, sollte helfen, den Abwanderungsdruck zu reduzieren. Nun ist die Zahl der Gäste und auch der Nutzen etwas geringer und viele Männer sind weiterhin gezwungen, anderswo Geld zu verdienen. Sie arbeiten in anderen Regionen im Tourismus, als Träger, Köche, Trekkingführer, bauen Fußballplätze und Hochhäuser in Ländern am Arabischen Golf, roboten als Erntehelfer auf Plantagen oder verdienen sich irgendwo als Tagelöhner. Nicht selten finden sie nicht mehr zurück zu Frau und Kind, verschwinden irgendwo auf der Suche nach einem besseren Leben.1
Ein besseres Leben – von dem träumen die Bergbauernfamilien im Himalaya ebenso wie Millionen in vielen anderen Armutsregionen dieser Welt. Ob im üppigen Tropendschungel, an makellosen Sandstränden oder im Schatten der Bergriesen – die Landschaft ist atemberaubend, eignet sich ideal für Ferien, Abenteuer, Erholung. Aber was haben die dort lebenden oft bitterarmen Menschen von dieser Schönheit, welchen Nutzen haben die Einheimischen von der Vermarktung dieser Kulisse? Am meisten und in erster Linie profitierten von dem Tourismus, der sich da und dort rasant entwickelte, die Investoren und Tour Operators in den Metropolen, in unserem Beispiel sind es die Trekkingagenturen im fernen Kathmandu und die Reiseanbieter »overseas«. Dorthin fließt der Löwenanteil der Einnahmen, aber der Tourismus hat auch Arbeitsplätze vor Ort geschaffen und ist ökonomisch bedeutsam. Die Frage lautet, ob der Tourismus zur Milderung von Armut taugt und wie dieser Tourismus aussehen muss, damit der Nutzen tatsächlich der lokalen armen Bevölkerung zugutekommt?
Einheimische und Fremde auf dem Pfad der Nachhaltigkeit
Bis zur Jahrtausendwende etwa ging man in der entwicklungspolitischen Diskussion eher davon aus, dass Tourismus mehr Schaden als Nutzen in den Entwicklungsgesellschaften stifte oder ein zu riskanter Wirtschaftszweig sei, um langfristig zur Existenzsicherung oder zur Verbesserung der Lebensumstände beitragen zu können. Das trifft bestimmt vielerorts zu, ist aber dennoch eine nicht haltbare pauschale Verurteilung. Es kommt letztlich darauf an, wie Tourismus praktiziert wird und das britische »Department for International Development (DFID)« hat mit dem »Pro Poor Tourism« ein Modell vorgestellt, bei dem der Nutzen für die Armen und die Umverteilung des Gewinns zugunsten der lokalen Bevölkerung zur Verbesserung ihrer Lebensumstände tatsächlich beiträgt. Zusammen mit etlichen anderen NGOs und der UN Welttourismus-Organisation WTO wurde ein Action Plan unter dem Titel »ST-EP – sustainable tourism, eliminating poverty« – entwickelt und das Programm im Laufe der 2000er Jahre umgesetzt. Etliche der großen Entwicklungsorganisationen wie Weltbank, Asian Development Bank, UNDP, die britische DFID/ODI oder die niederländische Freiwilligenorganisation SNV beteiligten sich daran bzw. haben eigene Projekte gestartet, weil sie erkannt hatten, dass sorgfältig konzipierter Tourismus sich gut in Regionalentwicklungsprojekte integrieren lässt und unter dem Strich klar mehr positive als negative Auswirkungen verursacht. Der grundsätzliche Trend, in der Entwicklungszusammenarbeit stärker auf die Schaffung von Arbeitsplätzen und Unternehmensgründungen (Klein- und Mittelbetriebe) zu setzen, die lokalen Ökonomien zu stimulieren und private-public-Partnerschaften zu fördern, hat sicherlich zu dieser Umorientierung beigetragen.2
Nach gut zwei Dekaden und einer Reihe von Projekten lässt sich resümieren, dass armutsreduzierender Tourismus dann Nutzen für die einheimische Bevölkerung in Entwicklungsländern stiftet, wenn diese voll eingebunden wird und ein Umverteilungsmodus zur Anwendung kommt. Pro-poor-Tourismus ist also nicht ein spezielles touristisches Produkt oder eine Sektornische und er soll auch nicht mit sanftem Tourismus oder Öko-Tourismus gleichgesetzt werden, obwohl viele Projekte solche Formen praktizieren. Vielmehr geht es um ein Konzept von Tourismusentwicklung und Management, eine strategische Ausrichtung, welche die »entwicklungspolitische Dimension« ins Zentrum rückt. Es fördert die Verbindungen zwischen der Tourismuswirtschaft und der lokalen Bevölkerung, und diese bekommt mehr Möglichkeiten, sich in die Produktentwicklung und als Dienstleister einzubringen. Es gibt etliche Anwendungsformen und Strategien, wie dies geschehen kann und sie reichen von der Schaffung von Arbeitsplätzen über Ausbildungsmaßnahmen bis zu Mitsprachemodellen. Somit kann jedes Unternehmen in diese Strategie eingebunden werden, eine kleine Lodge, ein Stadthotel, ein Reiseveranstalter oder auch ein Betrieb, der die Infrastruktur aufbaut. Der kritische Faktor ist nicht die Art des Unternehmens oder die Form des Tourismus, sondern die sichtbare Steigerung des Nettonutzens für die arme Bevölkerung in der Region, in der Tourismus praktiziert wird.3
Grundlage des Engagements der UN-WTO im Sektor Entwicklungszusammenarbeit durch Armutsreduzierenden Tourismus war eine pragmatisch orientierte Studie, die 2002 unter dem Titel »Tourism and Poverty Alleviation« publiziert wurde. Darin wird festgehalten, dass der Tourismus ein erstrangiges Exportprodukt für Entwicklungsländer und Least Developed Countries (LDCs) darstellt, gute Wachstumsraten aufweist und sich in vielen Ländern zur wichtigen Quelle für Deviseneinkünfte entwickelt hat. 80 % der Armen dieser Welt, die mit weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen mussten, lebten in 12 Ländern und in elf davon spielte der Tourismus eine bedeutende und wachsende Rolle. Die UN-WTO war angetan von der Idee, aus den Armen Schöpfer und Exporteure eines intelligenten Produkts zu machen und auch von dem Entwicklungspotenzial, das auf eine enorme Vielfalt von ethnischen Gruppen, Biodiversität und Landschaften zurückgreifen kann.4
Um dieses Potenzial zur Entfaltung zu bringen, wurde Dorfkooperativen und kleinen Unternehmen der Zugang zum Tourismusmarkt ermöglicht. Um große Abflusseffekte (leakage) zu vermindern, wurden sie mit der bestehenden Industrie vernetzt. Komplementär zur Subsistenzwirtschaft in den Entwicklungsgesellschaften werden in solchen Projekten Klein- und Mittelbetriebe gefördert und wird sichergestellt, dass die Einkommen aus dem Tourismus tatsächlich in die Region zurückfließen, in der sie verdient wurden. Damit landet die Diskussion aber unweigerlich dort, wo auch andere Entwicklungsbemühungen oft enden: im Korruptionssumpf der nationalen Eliten und Regierungen, bei den ungleichen Machtstrukturen, beim völlig ungleichen Zugang zu Bildung und Entwicklung, bei der höchst ungerechten Verteilung von Besitz, Land und Infrastruktur.
Daher funktionieren derart ambitionierte Tourismusprojekte am besten in eigens dafür geschaffenen Rahmenbedingungen, mit kontinuierlichem Monitoring und klarer entwicklungspolitischer Struktur bzw. Einbindung der tourismuspolitischen Maßnahmen in langfristig angelegte Regionalentwicklungsprogramme. Seitens der Entwicklungsorganisationen wird davon ausgegangen, dass der Tourismus wie der Straßen- oder Kraftwerksbau, wie Bildung und etliche andere Faktoren eine wichtige Rolle bei der Veränderung von Lebensbedingungen in armen Ländern spielt. Nachhaltigkeitsstrategien müssen daher regional verankert sein und auf die lokalen Bedingungen eingehen. Wo das touristische Ausbaupotenzial vorhanden ist, spricht nichts gegen eine Forcierung dieses Wirtschaftszweiges.5
Heute, 30 Jahre nach der UNO Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 (Earth Summit, Agenda 21) und nach etlichen Konsultationen der UN Commission on Sustainable Development (CSD 7), hat das Thema »Tourismus und nachhaltige Entwicklung« längst seinen Niederschlag in den »Sustainable Development Goals« (SDGs) sowie in UNO Deklarationen gefunden und ist in vielen Forderungskonzepten und Programmatiken wie der »Agenda 2030« enthalten. Der ökologische Aspekt wie die Partizipation der lokalen Stakeholder sind in touristischen Nachhaltigkeitskonzepten ebenso enthalten wie das große Ziel der Armutsreduzierung.
Bei der Definition von Zielsetzungen und Schritten zur Erreichbarkeit argumentieren UN-WTO und Entwicklungsorganisationen sehr ähnlich: Pro-poor-Tourismus ermöglicht den Schutz natürlicher, historischer, kultureller und anderer Ressourcen für die Zukunft, wirft aber schon jetzt Nutzen ab. So eine Entwicklung muss mit Bedacht geplant und gut gemanagt sein, damit sie keine Umweltschäden oder soziokulturelle Probleme verursacht. Die hohe Qualität des touristischen Produktes muss erzielt und dauerhaft gesichert werden, denn damit erreicht bzw. behält die Destination ihre Attraktivität. Die Vorteile daraus müssen möglichst vielen in der Gesellschaft zugutekommen. Damit sind auch »Fair Trade«-Überlegungen angesprochen, die vom Arbeitskreis Tourismus und Entwicklung in Basel unter dem Slogan »Fair Reisen« Verbreitung im deutschen Sprachraum und darüber hinaus gefunden haben.6
Die Bedeutung des nachhaltigen Tourismus als entwicklungspolitische Maßnahme wird unterstrichen durch die Resolution, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 2020 verabschiedet wurde. Unter dem Titel »Promotion of sustainable tourism, including ecotourism, for poverty eradiction and environment protection« wird die Agenda 2030 als Leitlinie auch für den Tourismus hervorgehoben und gleichzeitig betont, dass nachhaltig ausgerichteter Tourismus zur Erreichung der UN-Entwicklungsziele/SDGs beiträgt. Diese Art von »Tourismus der Zukunft« hilft, die Armut zu bekämpfen, verbessert die Lebensgrundlagen der lokalen Bevölkerung und trägt zur Bewahrung der Biodiversität bei. Dieser Resolution ist ein weltweiter Evaluierungsprozess vorausgegangen, in dem die Fortschritte von Tourismusprojekten im Kontext von Klimawandel und Agenda 2030-Prozessen dargestellt wurden. Auch wenn mancherorts schon die Erstellung von Konzepten oder Managementplänen als großer Fortschritt bezeichnet wurde, also auf Papier festgehaltene Absichten, so ist dennoch sukzessive ein Umdenken im globalen Tourismus auszumachen, wie etliche »projects of hope« zeigen.7
Der messbare Nutzen
John Hummel hat für die SNV in etlichen asiatischen Ländern über 15 Jahre Pro-poor-Tourismusprojekte geleitet und er sieht sie als erfolgreiches wirtschafts- und entwicklungspolitisches Instrument im Kampf gegen die Armut. Eingebunden in regionale Entwicklungsprojekte bezieht er sich auf seine Einsätze in Nepal, Bhutan, Vietnam und Laos. SNV verfolgte damit konsequent den Weg, in der Entwicklungszusammenarbeit die Schaffung von Arbeitsplätzen und Unternehmensgründungen (Klein- und Mittelbetriebe) zu unterstützen, lokale Ökonomien zu stimulieren und »private-public«-Partnerschaften zu fördern. Aufgrund der unterschiedlichen Größe der Projekte bzw. der zahlreichen Nutznießer ist die Frage der Wirksamkeit nicht auf einer rein statistischen Basis möglich. Wohlstandsindikatoren geben allerdings einen klaren Hinweis darauf, dass vom Tourismus ausgelöste Einkünfte nicht nur einen rein monetären Nutzen bringen. In den Dörfern mit Tourismus findet man solider gebaute und besser ausgestattete Häuser, einen größeren Tierbestand, die Kinder gehen regelmäßig zur Schule und die Betroffenen stufen ihre Versorgungslage als deutlich weniger problematisch ein.8
Die Palette der Ansätze ist auch von Land zu Land sehr unterschiedlich. SNV arbeitete in Nepal an der Entwicklung von Trekkingrouten, war kleinräumig in der Ausbildung tätig, in der Beratung zur Destinationsentwicklung, im Aufbau einer multi-Stakeholder Struktur und setzte den Fokus immer auf Armutsreduzierung. In Laos war die Organisation eingebunden in die Entwicklung eines nationalen Tourismusplans und im Branding des Landes als Ökotourismus- und Trekkingdestination. Auf der lokalen Ebene wurden die Trägerorganisationen beraten und Mitarbeiter geschult, in der Folge auch die Wertschöpfungsketten entwickelt, aus welchen die lokale Bevölkerung Einkommen bezog – als Bereitsteller von Unterkünften und Verpflegung, als Produzenten und Verkäufer von Handwerksartikeln und als Tourguides bzw. Anbieter von Ausflügen.
Auch in Bhutan verfolgte man das Konzept, zwei Trekkingrouten zu entwickeln und die lokale Bevölkerung in den Dörfern entsprechend einzubinden. Direkt einbezogene Haushalte konnten ihre Einkünfte zwar deutlich erhöhen, doch war nicht gesichert, dass auch die tatsächlich Ärmsten davon profitieren konnten. Dieser Zweifel konnten auch durch die Evaluierungen der Projekte nicht gänzlich ausgeräumt werden. Nach Budgetkürzungen zog sich SNV aus dem Bereich zurück und konzentrierte sich auf Landwirtschaft, Sanitär- und Hygiene bzw. Gesundheitsprojekte, weil man dort einen direkteren Zusammenhang mit Armutsreduzierung herstellen kann.
Tatsächlich reichte das mehrjährige Länderprogramm für Vietnam über kleinräumige Tourismusentwicklung weit hinaus. Der Strategieplan schloss auch Elemente des Agrotourismus ein, unterstützte Wertschöpfungsketten und propagierte auf nationaler Ebene als auch auf Dorfebene »pro-poor sustainable tourism«. Aus diesen Ansätzen entwickelte sich in der weiteren Mekong Sub-Region mit Unterstützung der Asian Development Bank eine umfassende Tourismuskonzeption, in der das entwicklungspolitische Ziel der Armutsreduzierung eine zentrale Rolle spielt.9
Nepal – Paradiesvogel im Himalayatourismus
Auf dem Staatsgebiet des ehemaligen Hindukönigreichs und der heutigen Republik Nepal stehen acht der 14 Himalaya-Achttausender. Mit deren Erstbesteigungen kam das Land, von dem man sonst kaum etwas wusste, schon früh in die Schlagzeilen der Weltpresse. 1951 setzte der erste Mensch seinen Fuß auf die Annapurna I, 1953 glückte die Erstbesteigung des Mount Everest, 1954 stand der österreichische Asienreisende Herbert Tichy mit einem kleinen Team auf dem Cho Oyu. 1960 wurde mit der Erstbesteigung des Dhaulagiri diese Pionierphase des Höhenbergsteigens abgeschlossen. Der Expeditionstourismus sichert dem Staat und etlichen Einheimischen bis heute eine dauerhafte Einkommensquelle. Ein zahlenmäßig und ökonomisch wirklich relevanter Bergtourismus setzte aber erst in den 1970er Jahren ein. Der exotische Zauber, Tigerjagden und die sakrale Architektur im Tal von Kathmandu, lockten auch ein exklusives internationales Publikum ins Land. Kurze Zeit galt Nepal als Topdestination für die »Blumenkinder«, weil in dem subtropischen Klima Haschisch (Ganja) praktisch vor der Haustüre bestens gedeiht. Diesem »low-budget tourism« setzten die Behörden durch hohe Strafen auf Drogenkonsum und -handel ein Ende. Neben dem Höhenbergsteigen entwickelte sich sehr dynamisch der Trekkingtourismus. Das Bergwandern über hohe Pässe und von Dorf zu Dorf im Schatten der Achttausender brachte von Jahr zu Jahr mehr Besucher und Devisen ins Land.
Bereits 1973 wurde im Dschungel des südlichen Flachlandes mit dem 932 qkm großen »Royal Chitwan National Park« der erste Nationalpark des Landes gegründet. Wildlife Resorts innerhalb der Parkgrenzen wurden zu idealen Ausgangspunkten für Dschungelsafaris, eine der größten touristischen Attraktionen des Landes und ihre ökologische Verträglichkeit ist bis heute höchst umstritten. Das Bauen von Lodges ist seit einigen Jahren nur noch in der Pufferzone erlaubt. 1976 kam es durch die Intervention internationaler Experten zur Gründung des »Sagarmatha (Mount Everest) Nationalparks«. Die fragile alpine Ökologie sollte vor den Auswüchsen des Tourismus ebenso geschützt werden wie vor den Einheimischen, die in ihrer Subsistenzwirtschaft auf Ressourcen aus dem Wald angewiesen sind. Dieser Doppelbelastung hält die hochalpine Landschaft mit ihrer kurzen Vegetationszeit auf die Dauer nicht stand. 1979 wurde der Nationalpark zum UNESCO Weltnaturerbe ernannt, eine Auszeichnung, die in jüngster Zeit auf dem Spiel steht, weil die Eingriffe in die Natur ein kaum noch akzeptierbares Maß erreicht haben. Zudem ist die Region vom Klimawandel massiv betroffen, abschmelzende Gletscher und der Ausbruch von Gletscherseen bedrohen die reichhaltige Biodiversität und den Lebensraum von Mensch und Tier.10
Als wegweisend erwies sich die Einrichtung des »Annapurna Conservation Area Projects« im Jahr 1986. Das neben der Everest-Region beliebteste Trekkinggebiet wurde in eine Schutzzone verwandelt und dessen Bewohner darin ausgebildet, sich Ressourcen schonend zu verhalten. Gleichzeitig wurde der Trekkingtourismus gefördert und ein touristisches Produkt entwickelt, das auf die Gegebenheiten Rücksicht nahm. Die Bergbauern bzw. der Staat konnten auf diese Weise mehrfach profitieren: durch Einnahmen aus dem Tourismus (direkte Einnahmen, Trekkinggebühr, Eintritt in die Schutzzone), durch die Bewahrung ihrer Umwelt, durch einen verbesserten Wissensstand über die ökologischen Zusammenhänge, durch die Beratung und begleitende Kontrolle des Projektteams, das eine durchdachte Regionalentwicklung forcierte. Getragen wurde dieses Projekt vom »King Mahendra Trust for Nature Conservation« (heute: »National Trust for Nature Conservation«), einer großen nationalen Umweltorganisation, in der einst der letzte König etliche Jahre als Vorsitzender agierte.11
Der Trekkingtourismus findet in Nepal weitestgehend in Nationalparks und in ausgewiesenen Schutzgebieten statt. In diesen landschaftlich eindrucksvollen Gegenden erwirbt die lokale Bevölkerung durch den Tourismus ein Zusatzeinkommen zur Subsistenzlandwirtschaft. Im Khumbu, der Region um den Mount Everest, und etwas weniger ausgeprägt im Annapurna-Gebiet, entwickelte sich der Tourismus in den letzten 30 Jahren in Richtung Monokultur und geriet damit in eine gefährliche Abhängigkeit von internationalen Entwicklungen. Je höher hinauf die Dörfer reichen, umso weniger Ertrag liefert die Landwirtschaft, sodass der Tourismus über einer Höhe von 3000 m zur hauptsächlichen Einkommensquelle für die Bergbauern wurde.
Bis zum Jahr 2000 florierte das Geschäft. 490.000 internationale Touristenankünfte wurden gezählt und etwa 100.000 Touristen zog es hinauf in die Berge. Danach ging es steil bergab mit dem Tourismus und Nepal kam aus den negativen politischen Schlagzeilen nicht mehr heraus. Der Asien-Tourismus litt massiv unter den pandemischen Ereignissen wie Vogelgrippe und SARS, 9/11 und Afghanistankrieg, Terrorangst und religiösem Fundamentalismus. Nepal hatte zudem eigene Probleme. Ein zehnjähriger Bürgerkrieg (1996–2006), lange Zeitphasen ohne demokratisch legitimierte Regierungen, sowie Ausgangssperren und erzwungene Streiks, die das Land immer wieder lahmlegten, schreckten ausländische Besucher ab. 2002 wollten nur noch 275.000 Touristen das Land besuchen. Erst nach dem Friedensabkommen zwischen dem Königshaus, den im Parlament vertretenen Parteien und den maoistischen Rebellen im Jahr 2006 und der Republikgründung legte der Tourismus wieder kräftig zu. Mit der Serie von Erdbeben im Jahr 2015 und den großen Schäden im ganzen Land schrumpfte er wieder. Vor der Corona-Pandemie, die erneut einen fast vollkommenen Stillstand brachte, kam rund eine Million Touristen ins Land. Etwa ein Sechstel davon brach in die Berge auf und machte eine Trekkingtour.12
Aus den Erfahrungen von mehr als drei Jahrzehnten mit »village tourism« und Trekking haben nicht nur die Einheimischen ihre Lehren gezogen, sondern auch die Verantwortlichen in der nationalen Tourismusbehörde bzw. in den damit befassten Ministerien. In den Entwicklungsplänen des Landes erhielt der Tourismus eine hohe Priorität, denn man hatte erkannt, dass die lokale Wirtschaft wie die nationale Ökonomie davon profitieren. In einem Land, das mit wenig Rohstoffen auskommen muss – sieht man von Holz und Wasser ab – bleiben nicht viele Alternativen. Zudem hatte sich in der Zwischenzeit »Sustainable Tourism« als Marke etabliert und fand als Instrument zur nachhaltigen Entwicklung bei internationalen Geberinstitutionen wie der Asiatischen Entwicklungsbank oder bei internationalen Entwicklungsorganisationen Anerkennung. 2004 entwarf Nepal eine »Pro-Poor Sustainable Tourism Policy«, einen »Nepal Tourism Industry Strategic Plan« und eine Marketingstrategie, die den touristischen Auftritt des Landes bis ins Jahr 2020 prägen sollte. Erstmals wurde Tourismus in die Entwicklungspläne der Distrikte (politische Bezirke) aufgenommen, um so die regionalen Behörden in das Geschehen um die Tourismusentwicklung einzubinden. All dies zeigt, dass der nachhaltigen Tourismusentwicklung in Nepal grundsätzlich ein hoher Stellenwert beigemessen wird und man die Chance wahrnehmen möchte, das enorme touristische Potenzial des Landes zur Reduzierung von Armut und zur Steigerung des Wohlstandes zu nutzen.
Entwicklung auf Ebene der Dorfgemeinschaften
Auch das »Rolwaling Eco Tourism Project«13 war diesen Zielen verpflichtet, wenngleich zu Beginn des Projekts der Pro-poor-Ansatz noch nicht zum entwicklungspolitischen Kanon gehörte. Es startete mit einer Durchführbarkeitsstudie, in der die lokale Bevölkerung als zentralen Wunsch die Entwicklung einer Infrastruktur für »Village Tourism« zum Ausdruck brachte. Das Projekt sollte wie alle anderen Projekte von EcoHimal stark partizipativ ausgerichtet sein (Motto: W»here there is unity, there is energy!«), einen Beitrag zum Umweltschutz leisten und einen möglichst breiten Kreis an Nutznießern erreichen. Als Trägerorganisation für die beteiligten 24 Dörfer wurde ein Selbstverwaltungsorgan geschaffen, dessen Mitglieder über den gesamten Zeitraum geschult worden waren. Dennoch zeigte die Endevaluierung eine Schwäche der Selbstverwaltung. Zusammengefasst könnte man sagen, dass es sich um ein »rural livelihood project«, ein integriertes regionales Entwicklungsprojekt handelte, das als spezifische Komponente des Lebensunterhalts den Aufbau eines Trekkingtourismus mit basaler Infrastruktur vorsah.
Mehr als zehn Jahre nach Beendigung des Projekts besteht Klarheit darüber, dass sich das Modell von Lodges im Besitz der Dorfgemeinschaft nicht bewährt hat. Der Bürgerkrieg und die Großbaustelle in der Region waren wohl die wichtigsten Hindernisse dafür. Dazu blieben in dieser ersten Phase die Touristen aus, was die Gemeinschaften entmutigte. Aber die am Projekt Beteiligten haben gelernt, wie Tourismus praktiziert wird, wie mit Müll und Abwasser verantwortlich umzugehen ist, welchen Nutzen Komposttoiletten stiften und wie Sanitäreinrichtungen zu einem angemessenen Hygieneverhalten führen. Gab es zu Beginn des Projekts kaum funktionierende Toiletten, wurden bis zum Ende über eintausend Sickergruben gebaut und war die Nachfrage so groß, dass nur noch Zuschüsse zu den Baumaterialien gewährt wurden. Anfangs konnten mehr als zwei Drittel der Bevölkerung weder lesen, schreiben oder rechnen, aber viele waren in ein breites Alphabetisierungsprogramm eingebunden, ergänzt durch spezielle Ausbildungskurse, in denen tourismusrelevantes Wissen und Fähigkeiten vermittelt wurden.
Unübersehbar positiv sind die Auswirkungen auf die Lebensqualität in der Region auch ohne das ursprünglich angestrebte deutlich höhere Tourismusaufkommen. Die Zuleitung von sauberem Trinkwasser in die Dörfer – 68 km Wasserleitung wurden insgesamt verlegt – erleichtert den Alltag der Frauen erheblich, denn sie sind es, die früher stundenlang unterwegs waren, um Wasser zu holen, dessen Qualität nicht sofort Durchfallerkrankungen provozierte. Speziell der Zusammenhang von Hygiene, Wasserqualität, Ernährung und Gesundheit war Gegenstand vieler Ausbildungskurse, an denen ein Großteil der Bevölkerung teilgenommen hat. Sie erfolgten in Verbindung mit dem Toilettenprogramm, der Etablierung von Küchengärten und von Gesundheitscamps, die in den Dörfern abgehalten wurden. In den entlegenen Regionen des Himalaya, wo es kaum ärztliche Versorgung gibt, hat die Gesundheitsprophylaxe höchste Priorität. Auf diese Weise fand das Projekt auch Anerkennung und Gefolgschaft in der breiteren Bevölkerung, denn es war klar, dass nie alle vom Tourismus profitieren würden.
Zur guten Reputation trug auch bei, dass die Projektmitarbeiter selbst während des Bürgerkriegs die immer wieder von Kämpfen gezeichnete Region nicht verließen. Dieses Vertrauen führte andererseits zu einer durchaus verbreiteten Einschätzung, dass »es die Projektleute schon machen werden« und man Arbeit und Verantwortung gerne dem Projekt überlassen wollte, um nicht selbst in Erscheinung treten zu müssen. Dies hatte auch mit der angespannten politischen Situation zu tun. Lokale Kaderleute und Sympathisanten der maoistischen Rebellen waren von Anfang an in den Dorfgemeinschaften präsent und Soldaten der Rebellenarmee verfolgten manche Sitzung patrouillierend mit der Kalaschnikow über die Schulter gehängt. Das Projektmanagement von EcoHimal konnte zum Ende des Bürgerkriegs die Verantwortung für das Projekt an die Dachorganisation der Dorfgemeinschaften übergeben und mit der sich entspannenden politischen Situation entwickelte sich unter deren Mitgliedern auch ein wachsendes Verständnis von »ownership«.
Durch das Projekt und seine Auswirkungen auf die Entwicklung der Region bekam der Ökotourismus einen Stellenwert auch auf Bezirksebene. Von deren Verwaltung wurde der Vorschlag unterbreitet, die gesamte Region als Schutzzone, als »Conservation Area«, zu definieren. Dieser wurde aufgegriffen und die Regierung erklärte in ihrer Kabinettssitzung vor dem Kopenhagener Klimagipfel im Dezember 2009, die sie publicitybewusst im Mount Everest Basecamp abhielt, den Vollzug. Eine Reihe von im Projekt entwickelten Konzepten und Strategiepapieren dienten als Hilfestellungen für Planungen und den Tourismus-Masterplan der Region. Wie Nepal in Asien heute eine führende Stellung im Ökotourismus einnimmt, so gehört der nördliche Dolakha-Bezirk innerhalb Nepals zu jenen Regionen, wo das Bemühen um Nachhaltigkeit im Tourismus deutlich sichtbar wird.14
Integrativer Ansatz – Verbindung von Tourismus und Landwirtschaft
Die entwicklungspolitischen Organisationen haben im Laufe der Entwicklungsdekaden verschiedene vielversprechende Ansätze praktiziert und auch wieder verworfen, wenn sie nicht die erwarteten Ergebnisse gebracht haben. Tourismus mit dem Ziel Armutsreduzierung bzw. einer Nachhaltigkeitsperspektive hat es geschafft, bei der Entwicklung ländlicher bzw. entlegener Gebiete als taugliches Instrument Anerkennung zu gewinnen. Daher setzt man auch in einem derzeit laufenden Projekt zur Stärkung des Bergtourismus in Georgien auf diese Schiene. In einem von der Europäischen Union kofinanzierten mehrjährigen Projekt der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit mit deutschen, schwedischen und lokalen Partnern wird versucht, das Tourismusmanagement, die Dienstleistungen und die Produktqualität sowie das Marketing in zwei Bergregionen zu verbessern. Eine nachhaltige Tourismusstrategie für diese Gebiete sieht vor, die ökonomischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Aspekte weitestgehend zu verbinden um langfristig die Lebensbedingungen vor Ort deutlich zu verbessern.15
Nachhaltiger Tourismus und ökologischer Landbau stehen im Zentrum dieses Pilotprojekts. Aufeinander bezogen und abgestimmt haben sie positive Auswirkungen auf die lokale Biodiversität und erhöhen die Resilienz gegenüber dem Klimawandel. Ökologische Landwirtschaft ist ein effizienter Weg, Kleinbauern in Wertschöpfungsketten auf lokalen und internationalen Märkten einzubinden, ihre Einkommensmöglichkeiten zu diversifizieren, Arbeitslosigkeit und Armut zu reduzieren und wirtschaftliches Wachstum zu fördern.
Die Bergregionen des »Kaukasus« mit ihrer beeindruckenden Natur und dem traditionellen Dorfleben haben großes touristisches Potenzial. Die neue Verfügbarkeit von Flugverbindungen bietet eine Gelegenheit, den europäischen Markt insbesondere für ländlichen Öko- und Agrotourismus zu erschließen. Natur und Abenteuer, Schi und Berge, Kulturelles Erbe und Wein sind die zentralen touristischen Angebote in der Pilotregion, die Teile des Oberen und Unteren »Svanetien« sowie von »Imereti« umfasst. Svanetien ist die Lieblingsregion für Alpinisten und Wanderer. Die Popularität dieser Region und vor allem des Dorfes »Ushguli« ist deutlich gestiegen, weil es von internationalen Touranbietern als die höchstgelegene permanente bewohnte Siedlung in Europa beworben wurde (man betrachtet Georgien als den »Balkon Europas«). Seit 1996 ist der Ort mit seinen markanten Wehrtürmen UNESCO Welterbe. Touristische Produkte (wie organisierte Wanderungen, Trekking, Schitouren mit Bergführern, Gepäcktransport mit Pferden und Übernachtungen in traditionellen Hütten und Bauernhöfen) bieten etliche Arbeitsmöglichkeit für Einheimische, für gut wie für weniger gut Ausgebildete.
Das Pilotprojekt, das mit Bezug auf nationale Masterpläne und Programme der EU realisiert wird, setzt neben einer Vielfalt von einzelnen Maßnahmen vor allem eines um: die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure und die Integration der Aktivitäten in einem »Clustermodell« zur nachhaltigen Entwicklung der Destination.
Als »Cluster« versteht man eine Gruppe von miteinander verbundenen Unternehmen in derselben Region (Zulieferer, Produzenten, Handel etc.) unter einem Dach. Die Leitung koordiniert ihre Zusammenarbeit mit den nationalen und lokalen Behörden, Bildungseinrichtungen und auch den Partnern aus anderen Sektoren. Ihre Aktivitäten werden durch ein gemeinsames Aktionsprogramm geregelt. In jüngster Zeit wird dieser Ansatz auch auf den Tourismussektor angewandt. Demnach beinhaltet ein Tourismus-Cluster eine Gruppe von tourismusbezogenen Unternehmen mit dem Ziel, die Entwicklung durch den Einsatz spezifischer Managementtechniken zu unterstützen. Ein Tourismus-Cluster zielt zudem darauf ab, die Wettbewerbsfähigkeit der beteiligten Partner durch Kooperation und Interaktion zu steigern, indem gemeinsames Lernen und Wissensaustausch ermöglicht werden.
In der Pilotregion wird derzeit eine Destination Management Struktur (DMO) aufgebaut, die diese Integration der verschiedenen Akteure koordiniert, die Partnerschaft und das Destinationsmanagement fördert. Erfahrungen mit lokalen Initiativen wie in anderen Regionen des Kaukasus, welche die Mechanismen des partizipativen Ansatzes in lokalen Entscheidungsprozessen und das nachhaltige Wachstum der Bezirke unterstützen, gibt es in der Pilotregion nicht. Es müssen auch Initiativen geschaffen werden, die sich um die Mobilisierung der Gemeinschaft bemühen – mit besonderem Fokus auf die Einbeziehung von Jugendlichen, Frauen und Menschen aus den peripheren Gebieten. Dazu bedarf es einer gemeinsamen Vision und einer langfristigen Strategie für die integrative Entwicklung in den Bergregionen.
Das Pilotprojekt ist auf eine nachhaltige Tourismusentwicklung ausgerichtet. Dies verpflichtet auch zur Sammlung von validen Daten, um einen fundierten Nachweis über den Fußabdruck jeder Aktivität oder die Auswirkungen jeder Innovation zu erhalten. Solche Daten müssen Informationen über touristische Datenflüsse, über die Leistung von Unternehmen, die Quantität und Qualität von Beschäftigung und sozialen Aspekten, über die touristische Versorgungskette usw. liefern. Nachhaltige Entwicklung braucht die Bewertung und Überwachung der Abfallwirtschaft, des Energieverbrauchs, des Landschaftsschutzes und der Biodiversität, um nur einige zu nennen. Langfristig könnte die Überwachung durch die Einführung eines Indikatorensystems wie dem »Europäischen Indikatorensystem (ETIS)«16 erfolgen. Dies erfordert zuverlässige und umfassende statistische Daten, die derzeit nicht existieren, aber das gilt für viele Tourismusregionen. Deren ökologischer Fußabdruck liegt im Dunklen und vermutlich in einer bedenklichen Größenordnung.
Vorzeigemodelle guter Praxis
Die Zahl sogenannter Pro-poor»-«Projekte – auch wenn sie nicht als solche explizit ausgewiesen werden bzw. nicht unter der Patronanz der UN-WTO als »sustainable tourism, eliminating poverty« (ST-EP)-Projekt laufen – hat im Laufe der vergangenen 20 Jahre weltweit enorm zugenommen. Dies hängt mit der Einführung der Millenniumsziele (MDGs) bzw. der Sustainable Development Goals der UNO (SDGs) zusammen, die in der Ausrichtung regionaler Entwicklungsbemühungen das Maß der Dinge sind und zu deren Erreichung sich die Länder verpflichtet haben. Damit sind sie auch für den Tourismus von höchster Bedeutung. Besonders angesprochen werden die Ziele 1 – Reduzierung von Armut, 2 – Hunger beenden und Landwirtschaft nachhaltig entwickeln, 10 – Ungleichheiten reduzieren, 12 – Produktion und Konsum nachhaltig gestalten, 13 – den Klimawandel bekämpfen, 15 – Biodiversität erhalten und 17 – internationale Partnerschaften entwickeln, um letztlich alle Ziele zu erreichen, weil der Tourismus eine Materie ist, die alle Lebensbereiche durchdringt und mit gesellschaftlicher Entwicklung engstens verbunden ist.17
Eine Illustration dieses Zusammenhangs liefert der Wettbewerb »To Do!« des »Studienkreises für Tourismus«. Seit 1995 werden jährlich einige herausragende, auf Nachhaltigkeit zielende Tourismusprojekte, im Sinne von Beispielen für gute Praxis prämiert und von einem Expertenteam bewertet. Diese Projekte haben nicht alle eine großflächige wirtschaftliche Auswirkung, weil sie oft nur ein ganz kleines Gebiet betreffen, aber ihnen allen ist das Bemühen anzumerken, den Kriterien nachhaltiger Entwicklung zu entsprechen.18
2021 bekam das Gemeindebasierte Tourismusprojekt »Rutas Ancestrales Araucarias« in Chile die Auszeichnung. Auf sieben Routen wird Besuchern die Kultur und Lebensweise einer ethnischen Volksgruppe, der »Mapuche«, der »Menschen der Erde«, nähergebracht. 30 Partnerorganisationen betreuen Gäste, die bei Familien wohnen, mit ihnen essen und ihre Farmen besuchen, lokale Heil- und Medizinalpflanzen sowie das Gebiet am Rande des »Nationalparks Villarrica« kennen lernen. 38 Familien können aus diesem Projekt direkt Einkommen erwirtschaften, aber noch wichtiger ist der Beitrag dieses Projekts zur Stärkung der eigenen Identität, denn die Bevölkerung muss seit Jahrhunderten um die Anerkennung ihrer Rechte kämpfen und wird bis heute vom Staat unterdrückt, ihr Lebensraum durch militärische Interventionen verkleinert.19
Im Jahr 2020 wurden das »Esfahk Historic Village« im Iran sowie das »Banteay Chhmar Community Based Tourism Project« in Kambodscha prämiert. Die Tempelanlage Banteay Chhar aus dem 12. Jahrhundert gehört zu den wichtigsten Kulturschätzen des Landes. 90 Familien des Dorfes geben durch »homestays« den Besuchern einen sehr authentischen Einblick in das Dorfleben. Unterstützt von der französischen NGO »Agir pour le Cambodge« wurde ein Dorfentwicklungsfonds eingerichtet, über den etwa ein Müllentsorgungsprogramm und Trainingsmaßnahmen finanziert werden. Der Tourismus trägt dazu bei, die Tempelanlage zu erhalten und bewirkt ein zusätzliches Einkommen für die beteiligten Familien.
1978 zerstörte ein starkes Erdbeben viele traditionelle Lehmbaudörfer im Osten des Iran, darunter auch das Wüstendorf Esfahk. Die Überlebenden bauten ein neues Dorf auf, nur einige hundert Meter vom alten Dorf entfernt. 2009 entstand ein Dorfkomitee, welches das alte Dorf rekonstruierte und mit Hilfe lokaler Architekten und Experten aus Teheran ein touristisch nutzbares und kulturhistorisches Kleinod gestaltete. Die Gästehäuser sind im alten Lehmbaustil aber erdbebensicher errichtet worden, es gibt die traditionelle Moschee, den Hamam, ein Restaurant, das lokale Speisen anbietet, einen Souvenirshop, in dem typische und vor Ort produzierte Handwerksartikel angeboten werden. Aus einem auf Ehrenamtlichkeit fußenden Projekt entstand über die Jahre ein auf Nachhaltigkeit ausgerichtetes Beschäftigungsmodell für 50 Personen. Diese betreiben die Gästehäuser und vermitteln das »alte Leben« in diesem abseits der großen Pilger- und Tourismusregionen gelegenen Wüstenbezirk. Ein Viertel der 800 Dorfbewohner profitiert direkt oder indirekt von dem Gemeinschaftsprojekt. Etliche junge Frauen sind in die Maßnahmen eingebunden, verkaufen kunsthandwerkliche Erzeugnisse, Kräutermischungen und betreiben die Restaurants. Tradition wird mit Augenmaß gelebt, auch was Baumaterialien angeht oder die Bewässerung der Felder, die durch kleine Kanäle gerade ausreichend Wasser bekommen, um dort Lebensmittel ohne Kunstdünger zu erzeugen.
Ähnlich weitab liegt das usbekische Dorf Mitan, in dem die Reiseagentur »Silk Road Destinations« ein gemeindebasiertes Projekt entwickelte, das 2014 prämiert wurde. Hier wird besonderer Wert auf die Einbeziehung von Jugendlichen gelegt. Das kleine Dorf in der Steppe eröffnet seinen Besuchern einen direkten Kontakt zur Bevölkerung und erfüllt die Kriterien wie partizipativer Ansatz, Umweltverträglichkeit und wirtschaftliche Nützlichkeit beispielhaft.
Das Projekt »Maquipucuna Ecotourism« in Ecuador fördert den Schutz der Biodiversität durch lokale Entwicklung und Ökotourismus. In diesem Rahmen wurde ein 6000 Hektar großes Naturschutzgebiet ausgewiesen, eine Eco-Lodge mit ökotouristischen Aktivitäten aufgebaut und Jugendliche mit Ausbildungsprogrammen in Umweltthemen geschult. Das Projekt erhielt den TO DO-Award im Jahr 2018.
Im selben Jahr wurde auch das »!Khwa ttu San Culture and Education Centre in« Südafrika ausgezeichnet. Ziel dieser Organisation ist die Wiederherstellung und der Erhalt der San-Kultur, deren Lebensräume sich über mehrere Länder des südlichen Afrikas erstrecken. Das San Culture and Education Centre nahe Yzerfontein fungiert als Restaurant mit diversen Übernachtungsmöglichkeiten als touristischer Anbieter. Es ist auch ein Berufsausbildungszentrum für junge San-Angehörige, um ihnen nach Phasen der Entwurzelung und Vertreibung eine berufliche Zukunftsperspektive zu verschaffen und in ihren Heimatregionen in touristischen Berufen zu arbeiten. Als dritter Schwerpunkt setzt sich !Khwa ttu für nachhaltige Naturprojekte ein und fördert kulturelle Maßnahmen für den Erhalt und das Kennenlernen der San-Kultur.20 Der Ethnotourismus in der Kalahari und kulturtouristische Projekte mit den San, Khomani oder Buschmänner Südafrikas haben mit medialer Unterstützung in den letzten Jahren einen enormen Zulauf erhalten. Das Stereotyp des mystischen Volkes unterminiert die Vorstellung von einer jungen und gebildeten Generation, was eine kritische Sicht auf diese Entwicklung verlangt.21
Der Studienkreis für Tourismus und Entwicklung e. V. prämiert Tourismusprojekte, bei deren Planung und Umsetzung die einheimische Bevölkerung eng mit einbezogen wird, bei denen Ressourcen umweltschonend genutzt werden und nachhaltige Wirtschaftskreisläufe entstehen. Das schafft neue Perspektiven, stärkt Selbstwirksamkeit wie kulturelle Identität, fördert Chancengleichheit und gesellschaftlichen Fortschritt. Dazu zählen auch faire Arbeitsbedingungen, Bildungsmöglichkeiten und soziale Absicherung. Im Laufe der Jahre wurden über 500 Projekte eingereicht und 54 prämiert, die meisten aus Entwicklungs- oder Schwellenländern. So vielfältig die Konzepte sind, sie haben eines gemein: Sie helfen Einheimischen, den Tourismus für ihre Entwicklung zu nutzen. Und auch die Reisenden profitieren: Sie lernen Länder und Menschen auf eine authentische Art und Weise kennen.
Fußnoten
- 1. Über die harten Lebensbedingungen im Himalaya siehe Kurt Luger, Auf der Suche nach dem Ort des ewigen Glücks – Kultur, Tourismus und Entwicklung im Himalaya, Kathmandu 2014.
- 2. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dieser Thematik ist nachzulesen in Kurt Luger, Ökotourismus, Partizipation und nachhaltige Entwicklung, Erfahrungen aus einem regionalen Entwicklungsprojekt in Nepal, in: TW-Zeitschrift für Tourismuswissenschaft, 2/2010, 165–183; siehe auch Melanie Ströbel, Tourismusforschung, in: Ursula Kluwick/Evi Zemanek (Hg.), Nachhaltigkeit interdisziplinär, Konzept, Diskurse, Praktiken, Wien-Köln-Weimar 2019, 242–261.
- 3. Überblickshaft Regina Scheyvens, Exploring the Tourism-Poverty Nexus, in: Current Issues in Tourism, 2–3, 2007, 231–254, http://dx.doi.org/10.2167/cit318.0.
- 4. Seit damals ist die Zahl solcher Studien enorm gewachsen und liegt eine große Palette an Case Studies vor, die den empirischen Nachweis erbringen, dass dieser Ansatz zu den gewünschten Erfolgen führen kann. Die UN WTO hat für Entscheidungsträger und Tourismusentwickler ein Manual herausgebracht, das die gute Praxis der Vorgehensweise darlegt. Manual on Tourism and Poverty Alleviation – Practical Steps for Destinations, 2010; https://www.e-unwto.org/doi/book/10.18111/9789284413430, aufgerufen 8.8.2021.
- 5. John Hummel, Pro-poor Sustainable Tourism, in: Kurt Luger/Christian Baumgartner/Karlheinz Wöhler (Hg.), Ferntourismus – wohin? Der globale Tourismus erobert den Horizont, Innsbruck 2004, 123–146.
- 6. Eine Reihe von NGOs setzen sich seit Jahren für faires Reisen ein und haben ein internationales Netzwerk gegründet. Siehe dazu https://www.fairunterwegs.org/; https://www.tourism-watch.de/de; https://www.nf-int.org/.
- 7. https://digitallibrary.un.org/record/3879234; https://undocs.org/en/A/RES/75/229
- 8. John Hummel, Tara Gujadhur, Nanda Ritsam, Evolution of Tourism Approaches for Poverty Reduction Impact in SNV Asia. Cases from Lao PDR, Bhutan and Vietnam, in: Asia Pacific Journal of Tourism Research 4/2012, 369–384; https://doi.org/10.1080/10941665.2012.658417.
- 9. John Hummel/Rene van der Duim, Tourism and development at work: 15 years of tourism and poverty reduction within the SNV Netherlands Development Organisation, in: Journal of Sustainable Tourism, 3/2012, 319–338. https://doi.org/10.1080/09669582.2012.663381.
- 10. Ang Rita Sherpa, Climate Change in the Himalayas, Lalitpur 2020; Jack Ives, Himalayan Pereptions, Environmental Change and the Well-being of Mountain Peoples, London-New York 2014. Sanjay Nepal, Tourism and Environment, Perspectives for the Nepal Himalaya, Kathmandu-Innsbruck 2003.
- 11. Siddharta Bajracharya, The Annapurna Conservation Area Project, in: Patricia East/Kurt Luger/Karin Inmann (Ed.), Sustainability in Mountain Tourism. Perspectives for the Himalayan Countries, New Delhi-Innsbruck 1998, 243–254.
- 12. Daten des Ministry of Tourism and Civil Aviation bzw. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/425075/umfrage/anzahl-der-internationalen-touristenankuenfte-in-nepal/, 8.8.2021.
- 13. Ausführliche Informationen über das Projekt auf der Website von EcoHimal, http://ecohimal.org/index.php?id=20&L=128.
- 14. Kurt Luger, Ökotourismus, Partizipation und nachhaltige Entwicklung, Erfahrungen aus einem regionalen Entwicklungsprojekt in Nepal, in: TW-Zeitschrift für Tourismuswissenschaft, 2/2010, 165–183; siehe dazu auch Birgit Brosio, Entwicklung von Indikatoren zur Messung noch nachhaltigem Tourismus in Bergregionen am Beispiel der Gaurishankar-Region in Nepal. Dissertation, Universität Salzburg 2016.
- 15. Informationen über das GRETA-Projekt der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit, an dessen Konzepterstellung ich eingebunden war, sind zu finden unter https://eu4georgia.ge/green-economy-sustainable-mountain-tourism-and-organic-agriculture-greta/.
- 16. https://ec.europa.eu/growth/sectors/tourism/offer/sustainable/indicators_en
- 17. https://www.unwto.org/sustainable-development
- 18. www.to-do-contest.org
- 19. https://www.todo-contest.org/pramierte-projekte/rutas-ancestrales-araucarias-chile/
- 20. https://www.todo-contest.org/pramierte-projekte/khwa-ttu-san-culture-and-education-centre/;
- 21. Siehe dazu Nhamo Mhiripiri/Keyan Tomaselli, Language Ambiguities, Cultural Tourism and the Khomani, in: Kurt Luger/Karlheinz Wöhler (Hg.), Kulturelles Erbe und Tourismus, Innsbruck-Wien 2010, 285–295.
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