Lexikon der Biologie: Homosexualität
Homosexualitätw [von *homo- , latein. sexualis = geschlechtlich; Adj. homosexuell], Homophilie, Homoerotik, Sexualinversion, sexuelle Erregbarkeit, Orientierung und Aktivität gegenüber Mitgliedern des gleichen Geschlechts. Homosexualität wird in natürlichen Habitaten durch entsprechende Verhaltensanpassungen zweckmäßigerweise vermieden, da homosexuelle Verpaarungen unfruchtbar sind. Sie kommen deshalb ungleich seltener vor als heterosexuelle Verpaarungen (Ausnahme z.B. Xylocoris maculipennis; naturalistischer Fehlschluß). Homosexuelles Verhalten tritt bei Tieren aber nicht, wie früher angenommen, allein unter Bedingungen sexueller Deprivation auf, vielmehr wird es auch von Mitgliedern zahlreicher Tierarten unter natürlichen Bedingungen praktiziert. Homosexuelle Verpaarungen finden sich sowohl bei Würmern als auch bei Insekten, Fischen, Eidechsen (z.B. Hybriden-Echsenweibchen in den USA, die ohne Männchen fruchtbare Eier legen – aber nur nach einer „Scheinkopula“ mit Nackenbiß!), Vögeln und Säugetieren. Bei einigen Insektenarten wurden direkte Fitness-Vorteile im Rahmen der Spermienkonkurrenz gefunden; z.B. dient bei der Wanze Xylocoris maculipennis homosexuelle „Vergewaltigung“ (erzwungene Kopulation) zur Verbreitung der eigenen Spermien durch das andere Männchen.
In der Soziobiologie wird die Homosexualität als evolutionsstabile Strategie (evolutionär stabile Strategie) diskutiert, bei der ein Zusammenhang zwischen Homosexualität, Reproduktionsverzicht, Verwandtenunterstützung, gegebenenfalls auch elterliche Manipulation gesehen wird. Die verschiedenen Ansätze werden zum Teil jedoch sehr kritisch betrachtet. – Als Dominanzdemonstration (Dominanz, Dominanzsexualität) treten Verhaltensabläufe bei vielen Säugetierarten auf, die homosexuellem Verhalten ähneln. So sind die Individuen z.B. beim Aufreiten (ohne Kopulation) nicht sexuell gestimmt (Genitalpräsentation). Bei einigen Tieren können homosexuelle Handlungen eine zusätzliche wichtige soziale Funktion übernehmen. So werden bei den Bonobos homosexuelle Verhaltensweisen wie das Genito-Genital-Reiben eingesetzt, um freundschaftliche Bindungen zu stärken, entstehende Spannungen abzubauen oder zur Befriedung nach aggressiven Auseinandersetzungen. Bei Weibchen, teils auch bei Männchen, von Languren, Bärenmakaken, Rhesusaffen und Bonobos wurden homosexuelle Verhaltensweisen ebenfalls im direkten Zusammenhang mit sexueller Stimulierung beobachtet.
Je komplexer Ökologie, Körperbau und Sozialleben sind, desto schwieriger sind die Funktionen des Verhaltens zu ergründen, was auf das Sozialverhalten des Menschen in besonderem Maße zutrifft. Grundsätzlich besteht bei allen empirischen Untersuchungen zur homosexuellen Veranlagung des Menschen die Schwierigkeit, eine repräsentative Stichprobe zu erhalten. (Oft werden bei den Erhebungen Probanden über verschiedene Institutionen oder Kontaktadressen erreicht.) Halbwegs verläßliche Zahlenangaben über die Häufigkeit gleichgeschlechtlicher Orientierung sind lediglich für den nordamerikanischen Raum zu finden; dort scheinen zwischen 2 und 5% aller Männer und 1 bis 3% aller Frauen sexuelle Erregung allein gegenüber gleichgeschlechtlichen Personen zu empfinden. Die Gründe für eine homosexuelle Orientierung sind nach wie vor ungeklärt (möglicherweise sind es bei Frauen andere als bei Männern). Diskutiert wurden pränataler Streß und andere Mechanismen, die während der kritischen Phase der Gehirndifferenzierung des Fetus, während der Kindheit und Pubertät wirken können (geschlechtstypische Verhaltensweisen, Geschlechtsbestimmung), eine Wechselwirkung mit der Ausbildung der Geschlechtsidentität, rein genetische Faktoren (wovon man sich heute mehr und mehr distanziert, ihre Mitwirkung jedoch nicht ausschließt) usw. Sowohl genetische als auch Umweltfaktoren spielen wahrscheinlich bei der Entstehung der Homosexualität eine Rolle, deren jeweilige Beteiligung vermutlich individuell unterschiedlich ist. Untersuchungen an ein- und zweieiigen Zwillingspaaren legen nahe, daß andere als die genetischen Gegebenheiten den überwiegenden Einfluß haben. Die berechtigte Kritik an der methodischen Vorgehensweise bei diesen Zwillingsuntersuchungen (Zwillingsstudie) erlaubt nach wie vor auch hier keine endgültigen Schlüsse (z.B. ist bei männlichen eineiigen Zwillingen die Konkordanz größer als bei weiblichen). Gegensatz: Heterosexualität.
E.K.
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