Lexikon der Biologie: RNA-Tumorviren
RNA-Tumorviren, Onkoviren, Oncoviren, Oncornaviren, Retroviren i.e.S., früher in die Unterfamilie Oncovirinae, heute in verschiedene Gattungen der Retroviren eingeteilte, bei Reptilien, Vögeln und Säugetieren vorkommende Viren (RNA-Viren), die wegen ihrer tumorinduzierenden Eigenschaften (onkogene Viren) sehr intensiv untersucht worden sind. Die Viruspartikel (rund, Durchmesser 80–100 nm) bestehen aus einer äußeren Lipoproteinhülle (Envelope, Virushülle) mit Glykoprotein-Fortsätzen (Durchmesser 8 nm) und einem inneren Core (Nucleoid), in dem ein Ribonucleoprotein-Komplex (Ribonucleoproteine) von einem ikosaederförmigen Capsid umgeben ist. Das Genom wird von 2 identischen Molekülen einer einzelsträngigen RNA mit Plusstrang-Polarität gebildet, die eine Cap-Struktur (Capping) am 5'-Ende und eine Polyadenylsäuresequenz am 3'-Ende tragen. Bei nicht-defekten RNA-Tumorviren (s.u.) beträgt die Größe der monomeren RNA ca. 8000–9000 Nucleotide (relative Molekülmasse ca. 3 ·106). Anhand der Morphologie und Morphogenese der Virionen lassen sich 4 Typen A–D unterscheiden. Die meisten RNA-Tumorviren besitzen eine C-Typ-Morphologie ( vgl. Tab. ). Wie alle Retroviren enthalten RNA-Tumorviren eine reverse Transkriptase, die nach Virusinfektion einer Zelle von der Genom-RNA eine doppelsträngige DNA-Kopie erzeugt, die dann in das Genom der Wirtszelle integriert wird (Provirus; vgl. Abb. 1 ). Die Existenz eines DNA-Zwischenprodukts bei der Vermehrung von RNA-Tumorviren wurde bereits vor Identifizierung der reversen Transkriptase angenommen (Provirus-Theorie). Die meisten RNA-Tumorviren werden als exogene Viren durch Infektion horizontal oder vertikal übertragen. Einige RNA-Tumorviren sind jedoch als endogene Viren Bestandteil des Genoms der Keimbahnzellen (Keimbahn) und werden an die Nachkommen vererbt ( vgl. Tab. ). Die Expression endogener Viren wird durch zelluläre Gene kontrolliert und ist abhängig vom Alter des Wirts und dem Differenzierungszustand der Zelle. Induktion endogener Proviren kann zur Bildung infektiöser Viren führen. RNA-Tumorviren erzeugen chronische Infektionen; Virusvermehrung und Ausschleusung (budding) der Virionen führen nicht zur Zerstörung der infizierten Zelle. Phänotypische Mischung und Rekombination treten bei Infektion mit verschiedenen exogenen Viren sowie zwischen exogenen und endogenen Viren auf. – Der Zelltransformation und Tumorbildung durch RNA-Tumorviren liegen unterschiedliche Mechanismen zugrunde. Transduktion zellulärer Gene in das Virusgenom führt zur Entstehung von Onkogen-tragenden (v-onc+), akuttransformierenden RNA-Tumorviren (vor allem Sarkomviren), die Tumoren mit hoher Effizienz und nach kurzer Latenzzeit sowie eine Transformation von Zellen in vitro verursachen (Onkogene). Da die Aufnahme der zellulären Sequenzen meist mit einer Deletion essentieller viraler Gene (env, pol) verbunden ist, sind v-onc+-RNA-Tumorviren häufig replikationsdefekt und benötigen zur Vermehrung ein Helfervirus (nicht-defekte Leukose-/Leukämieviren, Rous-assoziierte Viren; Ausnahme: einige nicht-defekte Rous-Sarkomvirus-Stämme). Das v-onc-Gen kann an verschiedenen Stellen im Virusgenom lokalisiert sein, ist jedoch meist mit dem gag-Gen (gag) verbunden, so daß ein gag-onc-Fusionsprotein gebildet wird. Die meisten akut transformierenden RNA-Tumorviren enthalten ein v-onc-Gen (jedoch z.B. bei AEV 2 Onkogene v-erbA und B). Die nicht-defekten, replikationsfähigen RNA-Tumorviren (Leukose-/Leukämieviren, MMTV; vgl. Abb. 2 , vgl. Tab. ) besitzen keine aktiv transformierenden Gene. Sie können in der Regel Gewebekulturzellen nicht transformieren. Die Tumorbildung nach Virusinfektion ist ein seltenes Ereignis und tritt erst nach einer langen Latenzzeit auf. Notwendig für die Tumorbildung ist die Integration der Provirus-DNA in die Nähe bestimmter zellulärer Gene, die entweder zur Überexpression dieser Gene (z.B. c-myc bei ALV-induzierten B-Zell-Lymphomen; int-1 und int-2 bei MMTV-induzierten Mammakarzinomen) oder zur Überexpression verbunden mit Synthese eines veränderten Genprodukts (c-erbB bei ALV-induzierten Erythroblastosen) oder zur Inaktivierung des Gens (p53-Tumorsuppressorgen [p53-Protein] bei Friend-Leukämievirus-induzierten Erythroblastosen) führt. Für die Tumorinduktion durch Viren der HTLV-BLV-Gruppe wird die transkriptionelle Aktivierung zellulärer Gene durch trans-aktivierende virale Proteine (z.B. das tax-Genprodukt des humanen T-Zell-lymphotropen Virus, HTLV-1; HTLV) diskutiert. Krebs, Retroviren.
E.S.
RNA-Tumorviren (Auswahl)
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Geflügel-Leukoseviren (avian leukosis viruses, ALV) | Huhn | C1 | + | + | – | Lymphome/Leukämien, Erythroblastose | |
Geflügel-Sarkomviren (avian sarcoma viruses, ASV) Rous, Fujinami, Y73, URII | Huhn | C | + | – | + | Sarkome | |
Avian Erythroblastosis Virus (AEV) Avian Myeloblastosis Virus (AMV) MC29 Myelocytomatosis Virus | Huhn | C | + | – | + | Erythroblastose, Leukämie, Sarkom, Karzinom | |
Reticuloendotheliose-Viren (REV) | Vögel | C | + | – | – | Lymphome | |
Mäuse-Leukämieviren (murine leukemia viruses, MuLV) AKR, Moloney, Friend | Maus | C | + | + | – | Lymphome/Leukämien, Erythroblastose | |
Mäuse-Sarkomviren (murine sarcoma viruses, MuSV) Moloney, Harvey, Kirsten, Balb, FBJ, Abelson | Maus | C | + | – | + | Sarkome, Erythroblastose | |
Katzen-Leukämieviren (feline leukemia viruses, FeLV) | Katze | C | + | + | – | Leukämien | |
Katzen-Sarkomviren (feline sarcoma viruses, FeSV) Snider-Theilen, Gardner-Arnstein, McDonough, Gardner-Rasheed | Katze | C | + | – | + | Sarkome | |
Rinder-Leukämievirus (bovine leukemia virus, BLV) | Rind | C | + | – | – | Leukämie | |
Simian Sarcoma Virus (SSV) | Wollaffe | C | + | – | + | Sarkome | |
endogenes Virus der Paviane (baboon endogenous virus, BEV) | Pavian | C | – | + | – | – | |
menschl. T-lymphotrope Viren (human T-lymphotropic viruses, HTLV) | Mensch | C | + | – | – | Lymphome/Leukämien | |
Mäuse-Mammatumorvirus (mouse mammary tumor virus, MMTV) | Maus | B2 | + | + | – | Mammakarzinome | |
Mason-Pfizer monkey virus (MPMV) | Rhesusaffe | D3 | + | – | – | – | |
Cisternaviren | Maus, Hamster | A4 | – | + | – | ? |
1 C-Typ-Partikel entwickeln sich erst während des Ausstülpungsvorgangs (budding) von der Plasmamembran; die reifen Virionen enthalten ein zentral gelegenes Nucleoid.
2 Bei B-Typ-Partikeln wird das Core bereits im Cytoplasma zusammengesetzt und liegt im reifen Virion azentrisch vor.
3 Bei einigen Primatenviren; Zusammenbau des Cores ähnlich wie bei B-Typ-Partikeln, reife Virionen jedoch ähnlich den C-Typ-Partikeln.
4 Vorkommen ausschließlich intrazellulär, nicht infektiös, keine äußere Lipoproteinhülle.
RNA-Tumorviren
Abb. 1: Genomstruktur und Replikation von RNA-Tumorviren. Die Genom-RNA eines nicht-defekten, replikationskompetenten RNA-Tumorvirus enthält die Gene gag, pro, pol, env(A). Das Gen gag (von gruppenspezifisches Antigen) codiert für die Proteine des Viruscapsids MA (Matrix), CA (Capsid) und NC (Nucleocapsid); die gag-Hauptproteine der Säuger-RNA-Tumorviren besitzen gemeinsame antigene Determinanten (Name!). Das Gen pro codiert für eine Protease (PR), das Gen pol für die RNA-abhängige DNA-Polymerase (reverse Transkriptase, RT) und eine Integrase (IN), die Bestandteile des Ribonucleoproteins im Virus-Core sind. Das Gen env codiert für Glykoproteine SU (rezeptorbindendes Protein) und TM (Transmembranprotein) der Lipoproteinhülle (envelope) des Virions. Die Genom-Enden werden gebildet von einer Sequenz R (repeat, 30–70 Nucleotide), die sowohl am 5'- als auch am 3'-Ende vorkommt, sowie den jeweils nur am 5'- bzw. am 3'-Ende vorhandenen Sequenzabschnitten U5 (80–120 Nucleotide) und U3 (200–1200 Nucleotide) (U von unique sequence). Nach Infektion einer Wirtszelle wird durch die reverse Transkriptase die einzelsträngige Genom-RNA in einer komplexen Folge von Reaktionsschritten in eine lineare, doppelsträngige DNA umgeschrieben (B). Die DNA-Synthese findet im Cytoplasma statt. Als primer für den Reaktionsbeginn dient eine tRNA, die an einer spezifischen tRNA-Bindestelle in der Nähe von U5 über Wasserstoffbrücken mit der Genom-RNA verbunden ist. Bei der reversen Transkription entstehen an beiden Enden der DNA die aus U3-R-U5 aufgebauten LTR-Sequenzen (LTR = long terminal repeat; je nach Virus ca. 300–1400 Basenpaare), die in der Virus-RNA nicht vorhanden sind. Nach Transport in den Zellkern wird die Virus-DNA in das Genom der Wirtszelle integriert (D; die integrierte DNA wird als Provirus bezeichnet); es kommt außerdem zur Bildung freier, zirkulärer DNA-Moleküle, die 1 oder 2 LTR-Elemente enthalten (C). Die Integration der Provirus-DNA kann in beliebige Stellen des Wirtsgenoms erfolgen und führt am Integrationsort zur Verdopplung von 4–6 Nucleotiden der Wirts-DNA (Transposition, transponierbare Elemente). Eine infizierte Zelle enthält meist mehrere integrierte Provirus-DNAs, die als Bestandteile des Zellgenoms vermehrt und bei der Zellteilung an die Tochterzellen weitergegeben werden. Von der Provirus-DNA werden durch die zelluläre RNA-Polymerase II virale RNAs transkribiert (E), die entweder als Genom-RNAs in Viruspartikel verpackt und ausgeschleust werden oder als mRNAs zur Synthese der viralen Proteine dienen (F, G). Die primären Translationsprodukte sind stets Polyproteine, aus denen durch proteolytische Spaltung die reifen Proteine entstehen. Die Gene gag, pro und pol bilden zusammen eine Translationseinheit zur Synthese der Polyproteine gag und/oder gag-pro und gag-pro-pol. Synthese des gag-pro-pol-Polyproteins ist jedoch nur durch eine Rasterverschiebung oder Terminatorcodon-Suppression während der Translation möglich. Über diesen Mechanismus werden die Mengenverhältnisse der gag- und pol-Proteine reguliert. Die LTR-Sequenzen enthalten Signalelemente für die Transkription und deren Regulation (Promotor, enhancer, Polyadenylierungssignal, Erkennungsstellen für Steroidhormon-Rezeptor bei MMTV bzw. für viruseigene trans-aktivierende Proteine bei den menschlichen T-lymphotropen Viren und BLV).
RNA-Tumorviren
Abb. 2: Elektronenmikroskopische Aufnahme des Virus MMTV, das bei Mäusen Mammatumor (Brustkrebs) hervorruft.
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