Lexikon der Geographie: Hazardforschung
Hazardforschung, widmet sich vorrangig den Naturgefahren und den Naturrisiken (natural hazards; hazard) und betrachtet spezielle Interaktionen im Mensch-Umwelt-System. Sie entwickelte sich innerhalb der US-amerikanischen Geographie nach dem Zweiten Weltkrieg an der Schnittstelle von Kulturlandschaftsforschung und Raumordnung, gehört von ihrem Schwerpunkt in der Forschung aber besonders in den Bereich der Wahrnehmungsgeographie. Anlass für das Entstehen des Arbeitsfeldes waren unerwartete Diskrepanzen zwischen Schutzmaßnahmen, Schäden und menschlichen Verhaltensweisen in Überschwemmungs-, Dürre- und Erdbebengebieten.
Der Forschungsgegenstand ist zum einen im klassischen Mensch-Umwelt-Paradigma verankert, die alte Frage von Chancen und Risiken der Naturaneignung durch den Menschen wird hier thematisiert. Zum anderen hat die Hazardforschung aber auch einen starken Anwendungsbezug und ist zugleich ein Segment in der ökologischen Nachhaltigkeitsdebatte (Nachhaltigkeit). Die Hazardforschung ist ein wichtiges Bindeglied von Physischer Geographie und Humangeographie, weil sich hier beide Teildisziplinen am Objekt treffen. Die durch Prozesse im (Teil-)System Natur ausgelösten negativen Effekte bei den Menschen und in der Raumstruktur (also dem Teilsystem Gesellschaft) stehen im Mittelpunkt der anthropogeographischen Hazardforschung, während die Physische Geographie das Augenmerk auf die natürlichen Prozesse richtet. Da diese natürlichen Vorgänge – zumindest beim ersten Hinsehen – am Anfang der Ursachen-Wirkungskette stehen, wird meist nach den natürlichen Auslösern für Katastrophen differenziert. Hauptsächlich werden hazards, die mit der Erdkruste in Zusammenhang stehen (Erdbeben, Vulkane) sowie an der Erdoberfläche passieren (Rutschungen, Sackungen, Lawinen), und hazards aufgrund von Schwankungen der Atmosphäre und des Wasserhaushalts (Dürre, Feuer, Stürme, Hochwasser, Hurrikane u.Ä..) unterschieden. Neben Kenntnissen der entsprechenden Prozesse sind Frequenz (Häufigkeit) und Magnitude (Stärke) wichtige Parameter. Für die Humangeographie sind hingegen die Einwirkungen auf Raum, Gesellschaft und Individuum wichtig, Sekundäreffekten (zum Beispiel der Zusammenbruch von Infrastrukturen oder in der Folge einsetzende Wanderungsbewegungen) gilt das besondere Augenmerk. Die Wahrnehmung der Betroffenen und ihre Reaktionen sowie das jeweilige Katastrophenmanagement stehen im Mittelpunkt der Analyse. Auch die konkreten, idiographischen Strukturen im Untersuchungsraum sind wichtig. Tendenziell, aber keineswegs ausschließlich, hat die Physische Geographie den Akzent eher auf der Zeit vor dem Ereignis, die Humangeographie eher auf der Katastrophe, deren Folgen und dem Wiederaufbau. Die unterschiedliche Akzentsetzung kann am Beispiel der Messung eines Erdbebens illustriert werden: Die Physische Geographie bevorzugt die Richterskala, welche die geophysikalische Stärke misst, während für die Humangeographie die Mercalliskala, welche die Schäden (impacts) klassifiziert, ausschlaggebend ist.
Die zentralen Fragestellungen der Hazardforschung sind:
a) Welche Gebiete sind hazardgefährdet? b) Wie werden hazardgefährdete Gebiete genutzt bzw. welche Schäden drohen? c) Welche Abwehrmaßnahmen sind grundsätzlich möglich? d) Wie wird der hazard von den potenziell Betroffenen wahrgenommen und bewertet? e) Wie werden mögliche Abwehrstrategien und Gegenmaßnahmen angenommen? f) Wie lässt sich die Verwundbarkeit im sozialen Kontext realistischerweise reduzieren? g) Wie kann im Schadensfall optimal reagiert werden?
Die Konzepte der Hazardforschung umfassen ein weites Feld und reichen von geophysikalischen Prozessen, die über die Meteorologie oder die Geologie vor allem aus der Physik und Chemie stammen, bis hin zu solchen der Systemtheorie und der behavioristischen Psychologie. Zum theoretischen Begriffsfeld zählen strukturierende allgemeine Kategorien wie Maßstäblichkeit (die vom Individuum bis zur Erde reichen kann) oder der Faktor Zeit hinsichtlich Frequenz und Phase (Vorkatastrophenzeit, Katastrophe, Wiederaufbauzeit). In diese sind psychologische Konzepte, wie langfristige (kulturelle) Anpassungsleistungen, eher kurzfristige technische Adjustments, aber auch "Verdrängung" (von Risiken) oder "kognitive Dissonanz", das heißt die Anpassung von Werten und Erwartungen an die Möglichkeiten und gemachten Erfahrungen, eingebunden. Aber auch sozialwissenschaftliche Konzepte wie Vulnerabilität (Verwundbarkeit) bzw. Wiederherstellungspotenzial (recovery capacity) und regionale Identität (Regionalbewusstsein, das Abwanderungsverhalten und Wiederaufbaustrategie beeinflusst) oder wirtschaftswissenschaftliche Konzepte wie die Bewertung von Schäden, das Problem der Externalisierung (das heißt die Verlagerung von Schäden auf Dritte) oder das Trittbrettfahrerproblem (das Nutzen von Schutzeinrichtungen, für die man nichts bezahlt) sind wichtig. Da die Situation je nach Hazardauslöser und betroffenem Raum stark unterschiedlich ist, ist die sektoral breite Fächerung wie das Denken in raumstrukturellen Zusammenhängen die Stärke der Geographie in diesem multidisziplinären Arbeitsfeld.
Die Hazardforschung wird aus verschiedenen Gründen immer wichtiger: zum einen werden die technischen Möglichkeiten des Eingriffs in den Naturhaushalt immer zahlreicher, zum zweiten erkennt man aber auch immer mehr die Problematik nicht beabsichtigter Nebeneffekte einzelner Maßnahmen, auch von (vermeintlichen) Schutzmaßnahmen. Gleichzeitig steigt aber in der immer stärker arbeitsteilig organisierten, hochtechnischen Welt die Verwundbarkeit an. Dazu gehört die Auswirkung eines Stromausfalls im Computerzeitalter ebenso wie die zunehmende Besiedelung hazardgefährdeter Räume, insbesondere in den Megalopolen der Dritten Welt.
Neben den Naturrisiken werden auch vom Menschen unmittelbar hervorgerufene Risiken (man made oder technological hazards) aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeit zunehmend in der Hazardforschung untersucht, zumal die Trennung, zum Beispiel beim Hochwasserrisiko, nicht eindeutig ist. Je stärker dabei das räumliche Moment in den Hintergrund rückt, um so mehr fällt diese Forschung jedoch in den Bereich der Technikfolgenabschätzung (technology assessment).
Neuen Aufschwung erhielt die Hazardforschung durch die Internationale Dekade zur Verminderung der Naturgefahren (International Decade of Natural Disaster Reduction , IDNDR) von 1991 bis 2000. Auch im Zusammenhang mit der Leitidee der nachhaltigen oder zukunftsfähigen Entwicklung (sustainability) sowie der Rio-Konferenz 1992 (Agenda 21) hat eine integrative Sichtweise an Boden gewonnen. Dadurch geraten auch "schleichende Katastrophen" wie Versalzungen, Bodenerosion und vor allem die Klimabeeinflussung durch den Menschen immer stärker ins Blickfeld. Abb. 1-4 weiter unten.
JPo
Lit: [1] BURTON, I., KATES, R. W., WHITE, G. (1978): The environment as hazard. – New York. [2] GEIPEL, R. (1992): Naturrisiken: Katastrophenbewältigung im sozialen Umfeld. – Darmstadt. [3] PLATE, E., CLAUSEN, L., DE HAAR, U., KLEEBERG, H.-B., KLEIN, G., MATTHEß, G., ROTH, R., SCHMINCKE. H.U. (1993): Naturkatastrophen und Katastrophenvorbeugung. Bericht des wissenschaftlichen Beirates der DFG für das Deutsche Komitee für die IDNDR. – Weinheim.
Hazardforschung 1: Hazardforschung 1: Risiken als "Filter" im Mensch-Natur-Verhältnis.
Hazardforschung 2: Hazardforschung 2: Begriffssystem der Natural-Hazard-Forschung.
Hazardforschung 3: Hazardforschung 3: Systemzusammenhänge bei Naturrisiken.
Hazardforschung 4: Hazardforschung 4: Die Interaktion Mensch-Hazard besteht nicht nur in der unmittelbaren Erfahrung bzw. in dem individuellen Reagieren, sondern ist räumlich und zeitlich eingebettet in die individuellen Erfahrungen und das engere persönliche Umfeld (Haushalt) sowie in die gesellschaftlichen Verhältnisse. Eine besondere Rolle spielen dabei Schlüsselakteure ("Torwächter") wie Planer, Politiker, Immobilienmakler u.a.).
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