Lexikon der Geographie: Industriestandorttheorien
Industriestandorttheorien, Theorien der Standortwahl industrieller Betriebe wurden seit etwa 100 Jahren vor allem von der Volks- und Betriebswirtschaft, kaum von der Geographie, entwickelt. Die Reihe führt dabei von ersten Ansätzen einzelbetrieblicher Standortmodelle im Sinne der klassischen Standorttheorie Alfred Webers und ihrer Modifikationen in späterer Zeit über volkswirtschaftliche Partial- und Landschaftsstrukturmodelle bis zu Ansätzen einer integrierten Raumwirtschaftstheorie, die insbesondere in den USA interdisziplinär zur "Regional Science" fortentwickelt wurde.
Zusammengefasst lassen sich Standorttheorien bzw. -modelle zum einen nach ihrer "Reichweite" und dem Grad ihres Modellcharakters, zum anderen nach ihrer inhaltlichen Zielsetzung charakterisieren.
Hinsichtlich der Reichweite lassen sich unterscheiden: a) traditionelle einzelwirtschaftliche Modelle, die sich vornehmlich mit der Frage des optimalen Standorts eines einzelnen Betriebs bzw. eines zusätzlichen Betriebs beschäftigten; b) gesamtwirtschaftliche Partialmodelle (Landschaftsstrukturmodelle), welche die Raumstrukturen untersuchen, die sich unter idealtypischen Bedingungen (völlige Homogenität des Raumes, allein ökonomische Einflussgrößen) für den Primär-, Sekundär- und Tertiärsektor herausbilden; c) gesamtwirtschaftliche Totalmodelle, die für alle Wirtschaftssektoren gelten sollen, indem eine Verbindung zwischen herkömmlicher Gleichgewichtstheorie, Standortproblematik und allgemein formulierter Außenhandelstheorie hergestellt wird. Hinsichtlich ihrer inhaltlichen Zielsetzung lassen sich unterscheiden:
a) Standorttheorien mit Transportkostenprimat: Ziel dieser Standorttheorien ist die Bestimmung des optimalen Produktionsortes für einen Einzelbetrieb oder des Standortmusters der Gesamtheit von Betrieben eines Raumes. Dabei sind zahlreiche vereinfachende Vorannahmen Voraussetzung für das Funktionieren des Modells: die Standorte der Rohmaterialien sind bekannt und gegeben, die räumliche Verteilung des Konsums ist bekannt und gegeben, das Transportsystem ist einheitlich und die Transportkosten sind eine Funktion von Gewicht und Entfernung, die räumliche Verteilung der Arbeitskräfte ist bekannt und gegeben, die Arbeitskräfte sind immobil, die Lohnhöhe ist konstant, aber räumlich differenziert, bei einer gegebenen Lohnhöhe sind die Arbeitskräfte unbegrenzt verfügbar, die Homogenität des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Systems wird unterstellt. Auf der Basis dieser Vorannahmen sind es nur drei Standortfaktoren, welche die Standortwahl bestimmen: die Transportkosten (optimaler Produktionsort ist der transportkostenminimale Produktionsort), die Arbeitskosten und die Agglomerationswirkungen.
b) vom Transportkostenprimat zu empirischen Standortfaktorenkatalogen: Wenn es auch gelungen ist, Standorttheorien im Laufe ihrer Entwicklung in wachsendem Maße der Realität anzunähern, so blieb doch immer das Problem ihres hohen Abstraktionsgrades. Dem Postulat mathematischer Exaktheit wurde häufig die Realitätsbezogenheit geopfert, d.h. kulturräumliche und geographische Besonderheiten einer Region finden ebenso wenig Berücksichtigung wie staatliche Regulierungen. In den letzten Jahrzehnten, vor allem in den siebziger Jahren des 20. Jh., sind daher vielfach betriebswirtschaftlich orientierte, "empirisch-realistische" Standortuntersuchungen gegenüber weiterer Theoriebildung in den Vordergrund getreten. Empirische Untersuchungen über betriebliche Standortentscheidungen haben zum Ziel, in der Realität zu überprüfen, inwieweit sich Unternehmen bei der Standortwahl tatsächlich von den Gesichtspunkten leiten lassen, welche die Standorttheorie postuliert. Im Mittelpunkt steht die Frage: Aufgrund welcher Überlegungen haben sich Unternehmen für ihren jetzigen Standort entschieden. Neben "harten" Standortfaktoren wie Qualifikation der Arbeitskräfte, verfügbare Flächen, Verkehrsanbindung und öffentliche Förderung spielen zunehmend "weiche" Standortfaktoren wie Wohn- und Freizeitwert der Standortregion, politisches Klima, kulturelle Attraktivität, Image des Wirtschaftsstandorts etc. für Standortentscheidungen eine Rolle.
c) "Decision Making in Industry" (entscheidungstheoretische und handlungsorientierte Standorterklärungen): Raumrelevante Unternehmenstätigkeit steht, wie die Regulationstheorie deutlich macht, in Wechselbeziehung zur Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und den Normen und Steuerungsmechanismen, unter denen das Unternehmen tätig ist. In marktwirtschaftlich-kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen werden Arbeit, Einzelleistungen und -rechte, Privateigentum und Selbstverantwortung überwiegend positiv bewertet, in sozialistischen Staaten hingegen eher die kollektive Verantwortung. Damit können sich Struktur und Ablauf betrieblicher Entscheidungsprozesse ganz erheblich unterscheiden. Die Schwierigkeiten bei der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation in den ehemals planwirtschaftlichen Staaten, z.B. in Ungarn, Polen und der früheren DDR, resultieren nicht zuletzt aus einem anderen Ablauf von Unternehmensentscheidungen, weniger aus unterschiedlichen Zielfunktionen der Betriebe.
Auch in einem marktwirtschaftlich-kapitalistischen System sind Handlungsautonomie einerseits und betriebliche Hierarchien andererseits in ihrer Bedeutung für Entscheidungen nicht immer einfach zu durchschauen. Viele Standortmodelle unterstellen ja implizit, dass Industrieunternehmen nur von einer Person geleitet würden. Dies ist aber allenfalls bei Kleinunternehmen die Regel, wo der Eigentümer zugleich der einzige Geschäftsführer ist. Ansonsten teilt sich die Entscheidungsbefugnis auf unter Eigentümer und deren Familien, Geschäftsführer und Manager, Vorstandsmitglieder, Aktionäre etc.; dies gilt in einer multinationalen und globalisierten Wirtschaft mehr denn je (Globalisierung, Organisation). Vor allem die angloamerikanische Industriegeographie hat sich seit den 1970er-Jahren mit dem Thema "decision making" in großen, industriellen Mehrbetriebsunternehmen genauer auseinandergesetzt.
In einer handlungs- bzw. entscheidungsorientierten Sicht werden Ansiedlungs- oder Persistenzentscheidungen, vor die sich ein Unternehmen gestellt sieht, als standortspezifischer oder standortunabhängiger "Stress" interpretiert. Unabhängig vom eigenen Standort sind u.a. der Einfluss der Wirtschaftspolitik, das Auf und Ab der Konjunkturzyklen sowie andere "überlokale" (regionale, nationale und supranationale) Bestimmungsgründe. Standortspezifische Stressfaktoren hingegen sind z.B. fehlende Expansionsmöglichkeiten, ein unzureichender Arbeitsmarkt (fehlende Qualifikationen), Überalterung von Produktionsanlagen, schlechte örtliche Verkehrsanbindung oder Umweltauflagen für die Betriebe.
Betriebe reagieren auf Standortstress mit Anpassungshandlungen, wobei der Ablauf der Entscheidungsfindungsprozesse durch im einzelnen komplexe innerbetriebliche Informationsströme bestimmt wird. Ziel ist in der Regel der Erhalt des Unternehmens, seltener die Auflösung oder Stilllegung. Unter den auf Firmenerhalt gerichteten Anpassungshandlungen spielen innerbetriebliche Anpassungen wie Ersatz-, Rationalisierungs- und Erweiterungsinvestitionen die wichtigste Rolle. Nicht selten sind auch betriebliche Funktionsteilungen, d.h. Persistenz des alten Betriebsstandorts bei gleichzeitiger Teilverlagerung einzelner Funktionen (z.B. arbeitsintensiver Produktionen in Länder mit geringeren Lohnkosten oder forschungs- und verwaltungsintensiver Funktionen in die Verdichtungsräume).
HG
Lit: [1] BEHRENS, K.C. (1971): Allgemeine Standortbestimmungslehre. – Köln. [2] HAMILTON, F.E.J. (Hrsg.) (1974): Spatial Pespectives on Industrial Organization and Desicion-Making. – London. [3] WEBER, A. (1909): Über den Standort der Industrien. Erster Teil: Reine Theorie des Standorts. – Tübingen.
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