Lexikon der Geographie: Systemtheorie
Systemtheorie, theoretische Basisperspektive, die in den Naturwissenschaften und den Sozialwissenschaften grundlegende Bedeutung erlangt hat. Alle unterschiedlichen Ausprägungen orientieren sich an der Allgemeinen Systemtheorie. Grundsätzlich ist zwischen Systemen der natürlichen bzw. physisch-materiellen Welt und den Sinnsystemen zu unterscheiden, die sich auf den Bereich des menschlichen Bewusstseins und die sozial-kulturelle Welt (Gesellschaft) beziehen. Trotzdem kann in Bezug auf die allgemeinen Kategorien und das theoretische Grundmuster von allgemeinen systemtheoretischen Grundbegriffen gesprochen werden. Bei deren Anwendung auf bestimmte Tatsachen sind dann aber die ontologischen Unterschiede zwischen natürlichen und sinnhaften Bereichen strikt zu beachten, wenn man nicht grobe Reduktionen in Kauf nehmen will.
In den Sozialwissenschaften hat die allgemeine Systemtheorie insbesondere zwei wichtige Adaptionen erfahren. Die struktur-funktionalistische Systemtheorie wurde seit Ende der 1930er-Jahre vom amerikanischen Soziologen Talcott Parsons zum einflussreichsten Theoriegebäude der Nachkriegszeit entwickelt. Auf den Grundlagen der drei klassischen nichtmarxistischen (Marxismus) Gesellschaftstheorien von Emile Durkheim, Vilfredo Pareto und Max Weber sah er die sozial-kulturelle Wirklichkeit als System, das aus den drei Subsystemen Kultur (Kultursystem: Symbole, Werte), Gesellschaft (Sozialsystem: Normen, soziale Rollen) und Persönlichkeit (Persönlichkeitssystem: Bedürfnisse, Motive) besteht. Sollen soziale Konflikte vermieden werden, so lautet die Basisthese, müssen diese drei Subsysteme ins Gleichgewicht gebracht werden. Die kulturellen Werte sollen demzufolge in den sozialen Normen ihre Abbildung finden und die persönlichen Bedürfnisse sind auf die Werte und Normen abzustimmen. Die entsprechende normorientierte Theorie des Handelns sieht vor, dass ein soziales Gleichgewicht auf der Basis eines gegenseitigen Durchdringens (Interpenetration) der drei Systeme im Rahmen jeder einzelnen Handlung zu erreichen ist, wenn mit ihr soziale Kompetenz erlangt werden soll.
Die Systemtheorie von Niklas Luhmann stellt eine Weiterentwicklung der Gesellschaftstheorie von Parsons dar, bezieht aber die Reflexivität und Kommunikation in die Konzeptualisierung ein und begreift die sozialen Systeme als geschlossen und selbstreferenziell. Sie enthalten in diesem Sinne ihre eigene Beschreibung. Die umfassende Ebene der Kommunikation stellt das soziale System dar, das in zahlreiche Teilsysteme mit je spezifischen Funktionen und spezifischen Medien/Codes ausdifferenziert ist (Wirtschaft, Religion, Wissenschaft, Politik usw.).
Die struktur-funktionale Systemtheorie von Talcott Parsons ist mittels der Verräumlichung der einzelnen Systeme von der raumwissenschaftlichen Sozialgeographie und, als normorientierte Handlungstheorie, in der handlungstheoretischen Sozialgeographie für die geographische Forschung fruchtbar gemacht worden. Luhmanns Theorie der sozialen Systeme ist von Helmut Klüter (1986) zur sozialgeographischen Theorie ausgebaut worden. In diesem Kontext wird Raum nicht mehr als Gegenstand der Forschung thematisiert, sondern als Element der sozialen Kommunikation. Das Forschungsinteresse wird auf die Frage zentriert, in welcher Form und für welche Zwecke in den einzelnen Subsystemen Raumabstraktionen kommunikativ zur Anwendung gelangen. "Raumabstraktion" ist dabei am einfachsten als Kurzformel für soziale Handlungsanleitungen und -situationen zu begreifen, als vereinfachende und komplexitätsentlastende Übersetzung von nichträumlichen Gegebenheiten in eine räumliche Begrifflichkeit. Emotionale Raumbezüge werden über die Medien/Codes "Glauben/Vertrauen", "Schönheit/Ästhetik" oder "Liebe/Glaube" kommunikativ generiert und übernehmen als Raumabstraktionen in Form von "Vaterland" (Glaube), "Landschaft" (Ästhetik) und "Heimat" (Liebe) handlungssteuernde Funktionen.
BW
Lit: [1] KLÜTER, H.(1986): Raum als Element sozialer Kommunikation. Giessener Geographische Schriften, 60. [2] LUHMANN, N. (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. – Frankfurt a. M. [3] PARSONS, T. (1952): The Social System. – London.
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