Lexikon der Geographie: Wüstung
Wüstung, aufgegebene Siedlung, Aufgabe der Nutzung von Wohnplätzen oder Ackerland. Der Begriff ist spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Quellen entlehnt und beinhaltete zunächst, dass mit der Nichtnutzung keine vollen Steuerabgaben mehr erbracht wurden. Diesem ursprünglichen Verständnis folgen die meisten Definitionen von Wüstung durch die Beschreibung des unterschiedlichen Ausmaßes und der Dauer der Aufgabe von Dorf und Flur. Derzeit ist die Tendenz zu beobachten, den Begriff auf eine Vielzahl von außer Funktion gesetzten Erscheinungen der Landschaft anzuwenden (z.B. "Industriewüstung", Relikt).
Schon 1923 hatte Mortensen festgestellt, dass ein Wüstungsvorgang sich lediglich auf einen Rückgang von Einzelhöfen beschränken kann, also ein partielles Wüstfallen bewirkt. Außerdem wurde trotz Aufgabe der Wohnplätze die Flur oftmals weiterbewirtschaftet. Eine Totalwüstung ist nur gegeben, wenn Ortswüstung und Flurwüstung zusammenfallen. Wird der Vorgang der Wüstungsbildung vor Erreichen dieses Zustandes unterbrochen, so spricht er von einer partiellen Wüstung, welche üblicherweise der totalen vorausgeht. Eine weitere Wüstungsform ist die temporäre Wüstung. Sie wird im Gegensatz zur permanenten Wüstung, die nach dem Wüstfallen in diesem Stadium verbleibt, nach einer längeren Phase wieder aufgebaut. Es findet jedoch keine oder nur eine stark eingeschränkte Wiederherstellung der früheren Formen statt. Außerdem kann man noch zwischen Wüstungsfluren und Flurwüstungen unterscheiden. Wüstungsfluren sind die ehemaligen agrarischen Nutzflächen einer aufgelassenen Siedlung. Flurwüstungen können mit diesen identisch sein, sind aber auch die wüsten Fluren eines noch bestehenden Ortes. Heute wird der Begriff Wüstung sehr allgemein auf aufgegebene Siedlungselemente angewendet.
Als Ursachen für den spätmittelalterlichen Wüstungsprozess werden vielfältige Gründe angeführt: a) Grangienbildung (Ausbau von Eigenwirtschaften durch Bauernlegen v.a. im Umfeld von Zisterzienserklöstern); b) Kriegs- oder Fehdegründe (Abwanderung von Bevölkerung in durch Kleinkriege und Landfehden weniger gefährdete Gebiete); c) Fehlsiedlungen (Rücknahme von Siedlungen aus den Ungunstlagen des hochmittelalterlichen Landesausbaus, Siedlungsperioden); d) Bevölkerungsrückgang (infolge von Hungersnöten (besonders 1309) und Pestzügen (nach 1348) Verminderung der Bevölkerungszahl um ca. ein Drittel; da in den Städten wegen der schlechteren hygienischen Verhältnisse die Menschen früher starben, rückte Landbevölkerung nach); e) Agrarkrisen (durch den Bevölkerungsrückgang sank trotz reichen Getreideangebots aufgrund der Intensivierung der Dreifelderwirtschaft die Nachfrage nach Nahrungsmitteln und damit auch deren Preis, während die Löhne für Landarbeiter und auch Handwerker stiegen und sich damit die Preise für gewerbliche Güter aus den Städten verteuerten, was die Abwanderung der Bauern in die Städte attraktiv machte); f) Ballungen (Konzentration der Bevölkerung auf die ökonomisch und sozial attraktiven Städte). Die Forschung hat gezeigt, dass die Gründe für die vollständige oder teilweise Siedlungsaufgabe im Einzelfall sehr vielschichtig sein können. Aus geographischer Sicht bedeutsam sind die räumlichen Folgen der spätmittelalterlichen Wüstungsbewegungen: a) der Wald gewinnt im Spätmittelalter zu Lasten des Siedlungslandes an Fläche und behält diese Anteile dank verschärfter Kontrolle der Feudalherrschaften darüber in der Frühneuzeit und der Flächenstaaten ab dem 19. Jh., womit sich in den Grundzügen die bis heute übliche Wald-Offenland-Verteilung herausbildet; b) die Bildung großer Haufendörfer schreitet voran, da sich in den verbliebenen Dörfern die Menschen konzentrieren, die Dreifelderwirtschaft setzt sich dort nahezu überall durch; c) im Osten Deutschlands entwickelt sich der adelige Großgrundbesitz, da bäuerliche Siedelstellen eingezogen wurden (Bauernlegen), was mit einer Konzentration von Hoheitsrechten einhergeht.
WS
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