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Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Albert Lewkowitz

Geb. 6.4.1883 in Georgenburg (Rußland);

gest. im November 1954 in Haifa

L. gehörte zu den prägenden Gestalten des Breslauer Jüdisch-Theologischen Seminars. Dort studierte er von 1903 bis 1909 und wurde am 27. Januar 1910 als Rabbiner ordiniert. Von April 1914 bis zur Auflösung des Seminars im Jahre 1939 lehrte L. dort – mit Ausnahme einer Tätigkeit als Feldrabbiner von 1914 bis 1916 – moderne Religionsphilosophie und Philosophiegeschichte ab der frühen Neuzeit. Im gleichen Jahr gelang ihm die Flucht in die Niederlande, wo er in Amsterdam am Jüdisch-Theologischen Seminar bis zu seiner Einlieferung ins KZ Westerbork 1943 unterrichtete. Von Westerbork wurde L. ins KZ Bergen-Belsen verschleppt, wo er 1944 befreit wurde. Anschließend emigrierte er nach Haifa. Dort unterrichtete er bis zum seinem Tod als Rabbiner und Dozent u.a. am Even Pinnah Seminar.

Isaak Heinemanns Charakterisierung der Ziele des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau galt auch für zahlreiche Bücher und Aufsätze L.s: »das Recht der Wissenschaft im Judentum und das Recht des geschichtlichen Judentums innerhalb der Kultur« zu wahren. In dem programmatischen Beitrag Zur Philosophie der jüdischen Religion (1916) erkannte L. die Aufgabe der jüdischen Religionsphilosophie in der Rechtfertigung der »religiösen Ideen« des Judentums. Es waren nur die Propheten, die »Schöpfer der jüdischen Religion«, die Gott als Heiligen erkannt haben. Weder die Natur- noch die Kulturwissenschaften vermögen Gott zu erkennen. Sowohl ihr Gegenstandsbereich als auch ihre Erkenntnismittel, so L., versagen im Hinblick auf Gott. Dieser ist »nicht Spekulation und nicht Wissenschaft«. Ein Verdikt, das nicht nur diesen Text durchzieht und als Abgrenzung gegenüber den rationalistischen Religionsphilosophien zu verstehen ist. Die jüdische Religion besitzt nach L. einen nur durch den Glauben zugänglichen Erkenntnisbereich. Dessen Darstellung und Verständnis wiederum kann nur durch eine der jüdischen Religion innewohnende Idee gewährleistet werden. Ethik und Sittlichkeit sind die beiden zentralen Termini, mit denen L. seine Religionsphilosophie charakterisierte. Doch auch der Kultus war für ihn ein zentrales, die Religion formendes und sicherndes Element. Der Ursprung Gottes lasse sich nicht ableiten, lautete seine theologische Prämisse. Obwohl L. viele der Überzeugungen Hermann Cohens vertrat und dies auch durch die verwendete Begrifflichkeit deutlich machte, zog er in dieser Frage eine klare Grenze zu dem Marburger Neukantianer.

L.s eigenes philosophisches Denken kommt besonders klar in der Abhandlung Kants Bedeutung für das Judentum (1924) zum Ausdruck. Darin stellte er zentrale Anliegen Kants und des Judentums als gleichgerichtet dar, so daß es keiner besonderen Begründung bedürfe, um die Bedeutung Kants für die jüdische Religion nachzuweisen. Daher bezeichnet L. Kant als den »Aufbauenden« und weist damit Mendelssohns Begriff des »Alleszermalmers« entschieden zurück: »Wir nennen ihn den Aufbauenden, weil Kant an Stelle der pseudowissenschaftlichen Verbindung von Wissen und Glauben der sittlich-religiösen Lebensanschauung ein viel tieferes Fundament legte, nicht in der Natur, sondern in der Seele des Menschen.« Maßstabsetzend, weil es sein eigenes wissenschaftliches Ansinnen betraf, war für L. Kants »strenge Einheit der methodischen Untersuchung«. Philosophie muß demnach einen zentralen Punkt ergreifen, von dem aus sie die unterschiedlichen Ausgestaltungen menschlicher Tätigkeit erfaßt und begreift. In der Folge war für L. die Philosophie ein unendlicher Prozeß. Fortschritte lassen sich in ihm nur dann ausmachen, wenn das jeweils erreichte Wissen wieder als Ausgangspunkt für neue Probleme genommen wird. Darin kommt der Aufgabecharakter der Philosophie zum Ausdruck: »Das Gute ist nicht gegeben, sondern aufgegeben«, sagte L. in Anlehnung an Kant.

Bei aller Übereinstimmung zwischen Kant und den Grundsätzen des Judentums müßten aber nach L. dessen Vertreter betonen, daß nicht der »menschliche Geist«, sondern Gott die Welt geschaffen habe: »Der Jude liebt die Welt in Gott.« Jüdische Philosophie müsse daher stets den Primat der Ethik betonen, weil sie kein geschichtliches Phänomen, sondern ewig sei. Das philosophische Nachdenken über ethische Fragen erfordere daher anzuerkennen, daß an den göttlichen Zielen mit der Kraft der religiösen Verbundenheit festgehalten werden muß. Nur so läßt sich das Ideal der Einen Menschheit erreichen.

L. hat zur Untermauerung seiner systematischen Reflexionen mehrere Publikationen auf dem Gebiet der Pädagogik, vor allem aber eine dreibändige Philosophiegeschichte vorgelegt. Unter der Überschrift Das Judentum und die geistigen Strömungen der Neuzeit erschien ein Band zur Renaissance (1929) und ein weiterer zur Aufklärung (1929). Im Jahre 1935 konnte sein umfangreichstes Werk, Das Judentum und die geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts, als letzter Band im Rahmen des von der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums (gegründet 1902) herausgegebenen »Grundrisses der Gesamtwissenschaft des Judentums« veröffentlicht werden. L.s Trilogie diente dem Nachweis, daß sich das jüdische Denken in dem Maße frei entfalten und damit zur allgemeinen Kultur beitragen konnte, wie die Macht- und Wahrheitsansprüche der christlichen Dogmen zurückgedrängt wurden. Zur Untermauerung zog L. nicht bloß die großen Gestalten und Themen der einzelnen Epochen heran, sondern sah in den gleichzeitig stattfindenden Ausdifferenzierungsprozessen der Gesellschaft eine Bestätigung für den allgemeinen menschlichen Fortschritt. Die Entwicklung von Kunst, Wissenschaft und Kultur zeige die Fähigkeit des Menschen, sich von alten Vorstellungen zu lösen, etwa wenn das geo- durch das heliozentrische Weltbild abgelöst werde. Zwar setzte L. kaum eigene Forschungsakzente – das Werk läßt insgesamt einen großen Einfluß von Ernst Cassirers Das Erkenntnisproblem in der Wissenschaft und Philosophie der neueren Zeit erkennen –, doch sind seine Interpretationen eigenständige Auseinandersetzungen mit dem Material. In ihnen zeigt sich die Souveränität, mit der L. sein Unternehmen anging. Denn weder erliegt er der Gefahr, die bisherige Geistesgeschichte als Geheimgeschichte des Judentums zu erzählen, noch versucht er eine nicht vorhandene Eindeutigkeit den behandelten Werken aufzuzwingen.

Weit mehr als in den Arbeiten zur Renaissance und zur Aufklärung, die gelehrte Abhandlungen darstellen, war der abschließende Band ein philosophisch motivierter Deutungsversuch der jüdischen Gegenwart. Im 19. Jahrhundert gehe jede Vorstellung einer einheitlichen Entwicklung der Zeitläufe verloren, was auf eine »Krisis der Kultur« hindeute. Nach L. kam die Erfolgsgeschichte jüdischer Teilhabe an der geistigen Entwicklung ins Stocken. An ihrem Anfang stand der hoffnungsvolle Auftakt mit Kant (»ethischer Rationalismus«), der aber in der jüdischen Rezeption zunehmend den Fehlschluß kultivierte, statt jüdischer Religion nur noch jüdische Ethik zu rekonstruieren. Indes eine noch größere Gefahr stellten die beiden anderen Mächte des 19. Jahrhunderts für das Judentum dar: der »religiös-metaphysische Pantheismus« und der Naturalismus. L. schrieb gegen die beiden Strömungen an, indem er die bedeutenden Gestalten der jüdischen Geistesgeschichte seit der Romantik als heldenhafte Kämpfer auftreten ließ. Stets gelingt es ihnen in L.s Darstellung, die Berührungspunkte mit den universalistisch ausgerichteten Tendenzen der Zeit zu finden und auszubauen. Es sei die »dringliche Aufgabe« der Wissenschaft des Judentums, die Zusammenhänge zwischen jüdischer und nichtjüdischer Kultur als wesentlich herauszustellen. Nur so kann sich nach L. der zwar geschichtlich gewachsene, doch letztlich fragile Zusammenhang beider Kulturen erhalten.

Werke:

  • Religiöse Denker der Gegenwart: vom Wandel der modernen Lebensanschauung, Berlin 1923.
  • Das Judentum und die geistigen Strömungen der Neuzeit: Die Renaissance, Breslau 1929.
  • Das Judentum und die geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts, Breslau 1935 (Nd. Hildesheim 1974). –

Literatur:

  • Th. Meyer, Ernst Cassirer und A.L. – Was heißt und zu welchem Ende studiert man Philosophiegeschichte, in: Trumah 11 (2001), 71–87.

Thomas Meyer

  • Die Autoren

Abel, Wolfgang von (Heidelberg): J¯usuf al-Ba˙s¯ır
Abrams, Daniel (Jerusalem): Isaak der Blinde
Adelmann, Dieter (Wachtberg): Manuel Joel
Adunka, Evelyn (Wien): Simon Dubnow, Jacob Klatzkin, Hugo Bergman, Ernst A. Simon
Albertini, Francesca (Freiburg): Isaak Heinemann
Bechtel, Delphine (Paris): Chajim Schitlowski
Biller, Gerhard (Münster): Theodor Herzl
Boelke-Fabian, Andrea (Frankfurt a. M.): Theodor Lessing
Bourel, Dominique (Jerusalem): Lazarus Bendavid, Salomon Munk, Alexander Altmann
Bouretz, Pierre (Paris): Leo Strauss, Emmanuel Lévinas
Brämer, Andreas (Hamburg): Zacharias Frankel
Bruckstein, Almut Sh. (Jerusalem): Steven S. Schwarzschild
Brumlik, Micha (Frankfurt a. M.): Sigmund Freud, Ernst Bloch, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt
Davidowicz, Klaus (Wien): Jakob L. Frank
Davies, Martin L. (Leicester/GB): Marcus Herz, David Friedländer, Sabattja Wolff
Delf von Wolzogen, Hanna (Potsdam): Fritz Mauthner, Gustav Landauer, Margarete Susman
Doktor, Jan (Warschau): Dov Bär aus Meseritz, Elijahu Zalman
Elqayam, Abraham (Ramat Gan): Shabbetaj Zwi, Nathan von Gaza
Feiner, Shmuel (Ramat Gan): Isaak Euchel
Fraenkel, Carlos (Berlin): Abraham ibn Da’ud, Jehudah und Shmuel ibn Tibbon, David Qimchi, Gersonides, Chasdaj Crescas, Spinoza, Harry Wolfson, Shlomo Pines
Fraisse, Otfried (Rodheim): Abraham ben Moshe ben Maimon, Moshe ibn Tibbon
Freudenthal, Gad (Châtenay-Malabry): Israel Zamosc
Freudenthal, Gideon (Tel Aviv): Salomon Maimon
Funk, Rainer (Tübingen): Erich Fromm
Gelber, Mark H. (Beer-Sheva): Nathan Birnbaum, Max Brod
Goetschel, Roland (Straßburg): Moses Luzzatto
Goetschel, Willi (New York): Hermann L. Goldschmidt
Guetta, Alessandro (Paris): Samuel Luzzatto, Elijah Benamozegh
Hadas-Lebel, Mireille (Paris): Flavius Josephus, Eliezer Ben-Jehuda Harvey, Warren Zev (Jerusalem): Lewi ben Abraham aus Villefranche
Hasselhoff, Görge K. (Bornheim): Jacob Guttmann
Haußig, Hans-Michael (Berlin): Isaak Baer Levinsohn, Salomon Ludwig Steinheim, Zwi Hirsch Kalischer, Samuel Holdheim
Hayoun, Maurice-Ruben (Boulogne): Nachmanides, Isaak ibn Latif, Moshe Narboni, Jakob Emden
Heimböckel, Dieter (Bottrop): Walther Rathenau
Heitmann, Margret (Duisburg): Jonas Cohn
Herrmann, Klaus (Berlin): Jochanan Alemanno
Heschel, Susannah (New Hampshire): Abraham Geiger
Hiscott, William (Berlin): Saul Ascher
Huss, Boaz (Cambridge/Mass.): Moshe ben Shem Tov de Leon
Idel, Moshe (Jerusalem): Abraham Abulafia
Jospe, Raphael (Jerusalem): Shem Tov ibn Falaquera
Kasher, Hannah (Ramat Gan): Joseph ibn Kaspi
Kaufmann, Uri (Heidelberg): David Kaufmann
Kilcher, Andreas (Münster): Baal Schem Tov, Heinrich Graetz, Heinrich Loewe, Chajim Nachman Bialik, Otto Weininger, Gershom Scholem
Kratz-Ritter, Bettina (Göttingen): Salomon Formstecher
Kriegel, Maurice (Paris): Isaak Abravanel
Krochmalnik, Daniel (Heidelberg): Nachman Krochmal
Kurbacher-Schönborn, Frauke A. (Münster): Sarah Kofman
Lease, Gary (California): Hans-Joachim Schoeps
Leicht, Reimund (Berlin): Sa+adja Gaon, Bachja ibn Paqudah, Abraham bar Chijja
Lenzen, Verena (Luzern): Edmond Jabès, Schalom Ben-Chorin
Levy, Ze’ev (Hefer, Israel): David Baumgardt
Lindenberg, Daniel (Paris): Manasse ben Israel, Isaak de Pinto
Mattern, Jens (Jerusalem): Jacob Taubes
Mendes-Flohr, Paul (Jerusalem): Moses Mendelssohn, Martin Buber, Nathan Rotenstreich
Meyer, Thomas (München): Benzion Kellermann, Albert Lewkowitz
Miletto, Gianfranco (Halle): Isaak Aboab, Elijah Levita, David Gans, Abraham Portaleone, Leone Modena
Möbuß, Susanne (Hannover): Philon von Alexandrien, Isaak Albalag, Elijah Delmedigo
Morgenstern, Matthias (Tübingen): Samson R. Hirsch, Aharon D. Gordon, Abraham Kook, David Neumark, Isaac Breuer, Jeshajahu Leibowitz
Morlok, Elke (Jerusalem): Joseph Gikatilla
Mühlethaler, Lukas (New Haven): Muqamma˙s, Qirqis¯an¯ı, Joseph ibn Zaddiq, Sa+d ibn Kamm¯una
Münz, Christoph (Greifenstein): Emil L. Fackenheim, Irving Greenberg
Necker, Gerold (Berlin): Abraham ibn Ezra, Israel Saruq, Abraham Kohen de Herrera
Niewöhner, Friedrich (Wolfenbüttel): Uriel da Costa
Petry, Erik (Basel): Leon Pinsker
Rauschenbach, Sina (Berlin): Joseph Albo
Ravid, Benjamin (Newton Centre/MA): Simon Rawidowicz
Rigo, Caterina (Jerusalem): Jakob Anatoli, Moshe ben Shlomo von Salerno, Jehudah Romano
Roemer, Nils (Hampshire/GB): Moses Hess
Ruderman, David (Philadelphia): George Levison
Schad, Margit (Berlin): Rapoport, Michael Sachs
Schäfer, Barbara (Berlin): Achad Haam, Micha J. Berdyczewski
Schröder, Bernd (Saarbrücken): Eliezer Schweid, David Hartman
Schulte, Christoph (Potsdam): Max Nordau
Schwartz, Yossef (Jerusalem): Isaak Israeli, Salomon ibn Gabirol, Jehudah Halewi, Maimonides, Eliezer aus Verona
Stenzel, Jürgen (Göttingen): Constantin Brunner
Studemund-Halévy, Michael (Hamburg): Jonathan Eybeschütz
Tarantul, Elijahu (Heidelberg): Jehudah he-Chasid
Valentin, Joachim (Freiburg): Jacques Derrida
Veltri, Giuseppe (Halle): Shimon Duran, Jehudah Abravanel, Joseph Karo, Azarja de’ Rossi, Moshe Cordovero, Jehudah Löw von Prag, Israel Luria, Chajim Vital
Voigts, Manfred (Berlin): Erich Gutkind, Felix Weltsch, Oskar Goldberg, Erich Unger
Waszek, Norbert (Paris): Eduard Gans
Wendel, Saskia (Münster): Jean François Lyotard
Wiedebach, Hartwig (Göppingen): Samuel Hirsch, Moritz Lazarus, Hermann Cohen
Wiese, Christian (Erfurt): Isaak M. Jost, Leopold Zunz, Solomon Schechter, Benno Jacob, Leo Baeck, Julius Guttmann, Mordechai Kaplan, Max Wiener, Ignaz Maybaum, Joseph B. Soloveitchik, Hans Jonas, Abraham Heschel, Eliezer Berkovits, André Neher
Wilke, Carsten (Xochimilco, Mexiko): Juan de Prado, Isaak Orobio de Castro

Die Herausgeber

Otfried Fraisse, promovierte an der FU Berlin zu mittelalterlicher jüdisch-arabischer Philosophie; freier Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig.

Andreas B. Kilcher, Hochschuldozent am Institut für Deutsche Philologie II (neuere deutsche Literatur) in Münster. Bei Metzler ist erschienen: »Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma« (1998) und »Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur« (Hg., 2000).

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