Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: David Baumgardt
Geb. 20.4.1890 in Erfurt;
gest. 1963 in den USA
B. begann seine philosophische Lehrtätigkeit an der Universität Berlin im Jahre 1924 und hatte dort von 1932 bis 1935 eine Professur inne. Im Jahre 1935 wurde er von der spanischen Regierung zu einem Festvortrag anläßlich des 800. Geburtstags von Maimonides eingeladen. Aus politischen Gründen kehrte er nicht nach Deutschland zurück und emigrierte zunächst nach England, 1939 dann schließlich in die Vereinigten Staaten. In den folgenden zwei Jahren unterrichtete er in Pendle Hill, Wallingford (Pennsylvania), und von Zeit zu Zeit als Gastprofessor an der Columbia University in New York. Von 1941 bis 1954 wirkte er als Fachreferent für Philosophie an der Library of Congress in Washington. B. blieb wissenschaftlich ein Außenseiter.
B.s frühe Arbeiten behandeln das Problem der Modalitäten bei Immanuel Kant, Edmund Husserl und Alexius Meinong und die ethischen Anschauungen Kants, dessen Formalismus er hierbei kritisierte. Jedoch die Ethiken Herders, Hemsterhuis’ und Jacobis stufte B. nur als »Vorläufer« einer modernen Ethik ein. Ein weiteres Forschungsfeld war die deutsche philosophische Romantik, insbesondere die Mystik Franz von Baaders (Franz von Baader und die philosophische Romantik, 1927). Nach seiner Auswanderung nach England lernte er den Utilitarismus Jeremy Benthams (1748–1832) kennen, der ihm zum Ausgangspunkt seines ethischen Hedonismus wurde. B. strebte eine Art Synthese aus Benthams Utilitarismus und Kants Moralphilosophie an. Damit bezog B. seine Inspiration aus zwei einander scharf entgegengesetzten philosophischen Anschauungen: der metaphysischen Moraltheorie Kants, die er als eine »kopernikanische Revolution in der Ethik« bezeichnete, und dem empirizistischen Utilitarismus Benthams. Für B. verband beide Theorien der Versuch, rationale und kritische Grundlagen für eine säkulare und autonome Ethik zu formulieren. Durch die Synthese beider Systeme in Form seines »kritischen Hedonismus« hoffte B., den traditionellen Utilitarismus von seiner pragmatischen Tendenz befreien zu können. Dies war B.s Anliegen in seinem großen posthum veröffentlichten Buch Jenseits von Machtmoral und Masochismus (1977), welches den Untertitel »Hedonistische Ethik als kritische Alternative« trägt. Trotz vieler interessanter Ansätze vermag dieses Buch aber die gewünschte Alternative nicht hervorzubringen, weil es die ethische Forschung nur bis zu den Schriften Sartres in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts berücksichtigt und den Einfluß Wittgensteins und der analytischen Philosophie auf die modernen ethischen Konzepte übersieht.
Im fünften und sechsten Kapitel dieses Buches stellt B. die Frage, ob die Idee der Lust die Basis einer Maximierung des Glücks sein könne und sinnloses Leiden zu eliminieren vermöge. Während ein egoistischer Hedonismus sich nur mit der auf sich selbst gerichteten Lust beschäftige und der Pein anderer gleichgültig gegenüberstehe, strebe der widerspruchsfreie Hedonismus das Maximum des Glücks für alle an. Dieser schon von Bentham vorgebrachten Position fügte B. aber unter dem Einfluß Kants hinzu, daß die individuellen Forderungen nach Glückseligkeit moralisch nur zu rechtfertigen seien, wenn das Prinzip des größten Glücks für alle auch die Schaffung eines harmonischen Zusammenlebens aller Beteiligten einschließe. Es gehe nicht darum, menschliche Motive zu loben oder zu tadeln, sondern die Folgen menschlicher Handlungen zu bewerten.
Ein integraler Bestandteil von B.s allgemeinen philosophischen Arbeiten war die jüdische Philosophie von Maimonides bis Hermann Cohen und Martin Buber. Obwohl B. ein säkularer Jude war, faszinierte ihn das jüdische religiöse Erbe. Aber im Gegensatz zu seinen ethischen Studien nahm seine Beschäftigung mit der jüdischen Philosophie nicht die Form von systematischen Untersuchungen an, sondern schlug sich hauptsächlich in verstreut publizierten Artikeln nieder. Er selber bezeichnete die Resultate dieser Beschäftigung als »Gedankensplitter«, die einen wichtigen Platz in seinen umfangreichen Notizbüchern einnehmen. B.s Zugang zur jüdischen Philosophie entsprach der der liberalen Tradition im deutschen Judentum, wurde aber auch durch seine allgemeine Philosophie beeinflußt. Wie sich in B.s Denken religiöse Probleme des Judentums und allgemein philosophische durchdrangen, zeigt seine Behandlung der biblischen Geschichte der ʽaqedah (»Opferung Isaaks«). Im Gegensatz zu S. Kierkegaard stellte sie für B. ein Paradigma unlösbarer moralischer Konflikte dar. Während Kierkegaard Abraham wegen seiner Bereitschaft, Vaterliebe und Ethik dem göttlichen Gebot zu unterstellen, als »Glaubensheld« pries, darf laut B. die Ethik auch nicht durch ein göttliches Gebot aufgehoben werden. Weitere philosophische Überlegungen zur Bibel stellte er in dem Essay »The Bible today: A Jewish viewpoint« (1941) an. Dort untersucht er – ohne eine eindeutige Antwort gefunden zu haben – das Problem, ob die Bibel als Grundlage eines kohärenten ethischen Systems dienen könne. Angeregt wurde B. dazu durch Benthams Satz, daß »die Heiligen Schriften der Juden benutzt werden könnten, um ein Gesetz zu begründen, jedoch nur ein nationales«.
B.s Interesse an der hebräischen Bibel war auf ihre Ethik gerichtet, die er jedoch nicht wie im Neuen Testament als eine unbedingte Liebe, sondern als eine Verbindung von Liebe und Gerechtigkeit bestimmte. Die hebräische Bibel verlange nicht, den Feind zu lieben, sondern ihm Barmherzigkeit zu erweisen. Es bestehe kein Widerspruch zwischen Judentum und Eudämonismus (wiederum gemäß Bentham). Viele Stellen in der Bibel, besonders bei den Propheten und in den Psalmen als auch im Talmud, bestätigten dies. Ziel seiner jüdischen Studien war die Betonung jüdischer Konzepte, die nach B. von besonderer ethischer Bedeutung waren, wie Nächstenliebe, Schutz des Fremdlings u.a. Mit seiner zunehmenden Beschäftigung mit der Ethik nahm aber auch B.s kritische Einstellung gegenüber der traditionellen jüdischen Religion zu, weil viele ihrer Gebote nicht mehr in Einklang mit modernen ethischen Prinzipien gebracht werden können, wie z.B. der Status der Frau.
Das Hauptinteresse B.s auf dem Gebiet der jüdischen Tradition galt jedoch den Philosophen, insbesondere Maimonides, B. Spinoza, M. Mendelssohn, S. Maimon, M. Lazarus, H. Steinthal, H. Cohen, M. Buber und F. Rosenzweig. Zu Maimonides äußerte sich B. bei verschiedenen Gelegenheiten mit dem Interesse, die Verbindung von Vernunft und Glaube in seinem Denken zu erhellen. Während Maimonides in seinem halachischen Werk, der Mishneh Torah (»Wiederholung des Gesetzes«), den Geist des talmudischen Judentums hochgehalten habe, habe er diesen in seinem »Führer der Verwirrten« von dogmatischen Elementen mit Hilfe einer vom Glauben inspirierten Metaphysik befreit. Er sei insofern geradezu ein Vorläufer Kants gewesen, weil bei beiden nur die Ratio als alleinige Erkenntnisquelle akzeptiert wurde. Der Philosoph jedoch, den B. am meisten schätzte, war Spinoza, dessen Ethik insbesondere mit ihrer Theorie der Affekte viele Gedanken von Benthams Utilitarismus und seines eigenen ethischen Hedonismus antizipiert habe. Schon in seiner Antrittsvorlesung »Spinoza und Spinozismus« an der Universität Berlin und auch später immer wieder drückte er sein Bedauern darüber aus, daß Spinoza keine Aufnahme in das jüdische Denken gefunden habe, während Kant von den jüdischen Denkern nachhaltig verehrt werde. B. wollte ihn in das Pantheon der jüdischen Denker zurückführen, weil er trotz seiner Verbannung einer der größten jüdischen Philosophen gewesen sei – eine Meinung, die heute von vielen Forschern geteilt wird.
In den Philosophien von S. Maimon, M. Lazarus und H. Steinthal galt B.s Interesse ihren ethischen Überlegungen. Unter diesen nahm besonders Lazarus’ Ethik des Judentums eine wichtige Position ein. In seiner angewandten Ethik sah B. eine Übereinstimmung mit seinen eigenen Intentionen, während er Lazarus’ und Steinthals kritische Verurteilungen des Hedonismus nicht annehmen konnte. Zu Hermann Cohen hatte B. ein ambivalentes Verhältnis. Er hielt ihn neben Marx und Freud für einen der größten Denker des deutschen Judentums im 19. Jahrhundert. Jedoch kritisierte er seine Religionsphilosophie u.a. wegen ihrer assimilatorischen Tendenzen und ihrer »hemmungslosen Eulogien«, denen nach B. rationalistische Grundlagen fehlten. Schließlich mißbilligte er auch, daß Cohen die Ethik der Religion unterordnet und auf apologetische Weise Tugenden als etwas spezifisch Jüdisches darstellt, wie er sich auch dessen Angriffen auf Spinoza und den Zionismus widersetzte.
Die zahlreichen Unzulänglichkeiten von B.s ethischem Hedonismus trugen dazu bei, daß B. sein Werk nicht zum Abschluß bringen konnte. Weiterhin leidet sein ethischer Hedonismus an derselben Schwäche, die die meisten ethischen Theorien seit Kant aufweisen, nämlich an ihrem Anspruch, als Theorie konsistent zu sein. Vielmehr bedürften sie einer meta-ethischen Theorie, wie z.B. in der Philosophie Emmanuel Lévinas’, wodurch die Konsistenz der Argumente verstärkt werden könnte. Ein weiterer Kritikpunkt ist die Tatsache, daß in B.s Denken die Gewährleistung der objektiven Bedingungen, die nötig sind, um subjektive Gefühle wie Lust und Wohlgefühl zu verwirklichen, eine untergeordnete Rolle spielen.
Werke:
- Spinoza und Mendelssohn, Berlin 1932.
- Der Kampf um den Lebenssinn unter den Vorläufern der modernen Ethik, Leipzig 1933.
- Bentham and the Ethics of today, with Bentham Manuscripts hitherto unpublished, Princeton 1952 (Nd. New York 1966).
- Maimonides: the Conciliator of Eastern and Western Thought, Bangalore 1955.
- Mystik und Wissenschaft. Ihr Ort im abendländischen Denken, Witten-Ruhr 1963.
- Jenseits von Machtmoral und Masochismus. Hedonistische Ethik als kritische Alternative, Meisenheim am Glan 1977.
- History of modern Ethics (unpublished). [Das Archiv B.s befindet sich im Leo Baeck Institut in New York]. –
Literatur:
- J. Frank u.a., Horizons of a Philosopher. Essays in Honor of D.B., Leiden 1963.
- H. Schlodder, Der kritische Hedonismus D.B.s, M.A., Universität Mainz 1980.
- Z. Levy, D.B. and Ethical Hedonism, Hoboken 1989.
Ze’ev Levy
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