Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Salomon Munk
Geb. 14.5.1803 in Glogau (Polen);
gest. 5.2.1867 in Paris
M., Sohn des Gemeindebeamten Lippmann Samuel Munk, genoß eine traditionelle Erziehung und Ausbildung besonders unter dem Rabbiner Jakob Joseph Oettinger. In Berlin besuchte er das Joachimstaler Gymnasium und soll bei Eduard Gans Griechisch- und Lateinunterricht erhalten haben. Ab 1824 studierte er an der Universität Berlin bei Hegel, Bopp und Boeckh und arbeitete in der Hebraica-Sammlung der Handschriftenabteilung der königlichen Bibliothek. Im Jahre 1827 studierte M. in Bonn Arabisch bei Freytag und Sanskrit bei Lassen und belegte Vorlesungen bei Niebuhr und A.W. von Schlegel. Da er hier als Jude keine Aussicht auf eine Laufbahn an der Universität hatte, verließ er Deutschland: »Für die Lage der Juden in Preussen ist keine Verbesserung von Seiten der Regierung zu erwarten […]. Dagegen zu schreiben ist ganz unzweckmässig; man hat genug für und wider die Juden geschmiert, dieser Stoff ist erschöpft. Es ist unter der Würde der Juden, ihr wohlgegründetes Recht nach läppischen Flugschriften zu vertheidigen, zumal da ihre Gegner jedem Gefühl allgemeiner Menschenliebe unzugänglich sind« (an den Schwager John Meyer am 24.7.1833).
Im Jahre 1828 kam M. nach Paris. Im Collège de France studierte er Arabisch bei Silvestre de Sacy, Persisch bei Antoine Quatremère, Sanskrit bei Antoine de Chézy und auch Hindustani. Er lebte als Privatlehrer bei der Familie Rothschild. M. war mit Samuel Cahen befreundet, dem Direktor der jüdischen Schule in Paris und Herausgeber der französischen Bibelübersetzung (an der sich M. beteiligte), sowie mit Victor Cousin, dem ungekrönten König der Philosophie in Frankreich. In M.s Arbeiten paarte sich philologische Akribie mit einem großen Sachverstand für die jüdisch-arabische Philosophie des Mittelalters. Er publizierte in dem Dictionnnaire de la conversation, der Encyclopédie de gens du monde, dem Journal Asiatique, Le Temps und dem Dictionnaire des sciences philosophiques von Adolphe Franck (1844–1852). Die Artikel in letzterem hat M. später in überarbeiteter Form in seinen Mélanges de philosophie juives et arabes (1857–1859) veröffentlicht. Die anderen Aufsätze enthielten Übersetzungen des arabischen Poeten al-Ḥarīrī, Auszüge aus der persischen Dichtung und der Sanskritliteratur.
Stets war M. auch politisch sehr aktiv, wie besonders als Experte in der Damaskus-Affäre (1840). Nachdem in Damaskus zu Unrecht Juden des Ritualmordes beschuldigt worden waren, reiste M. zusammen mit einer von Moses Montefiore und Adolphe Crémieux geleiteten Delegation nach Alexandria, wo der Vize-König Muhammad Ali residierte, um die Angeklagten erfolgreich zu befreien: »Es fand sich ausser mir in Paris keine andere Person, welche alle jene Bedingungen (Kenntnis der hebräischen und arabischen Sprache) erfüllen konnte, und da es sich hier um keine Privatsache, sondern um eine Angelegenheit handelt, welche die Gemeinsache der Juden geworden ist, so durfte ich meine Mitwirkung nicht verweigern« (an die Mutter am 26.6.1840). Weitere Aktivitäten M.s in jüdischen Angelegenheiten waren die Gründung einer jüdischen Schule in Kairo, wo er auch Handschriften für die Bibliothèque Impérial in Paris erwarb, die Tätigkeit als Sekretär des Consistoire centrale des Israélites de France (1844) und als Präsident der Alliance Israélite Universelle. M. nahm eine Sonderstellung unter den deutschen Wissenschaftlern des Judentums in Frankreich ein, denn er erhielt 1838 eine Anstellung in der Bibliothèque Royale, wurde 1858 in die Académie des Inscriptions et Belles Lettres am Institut de France gewählt und wurde schließlich sogar 1864 Ernest Renans Nachfolger auf dem begehrten Lehrstuhl für Hebraistik im Collège de France.
Neben seinem Spezialgebiet der jüdisch-arabischen Philosophie publizierte M. auch auf dem Gebiet der Archäologie. Ihm verdanken wir die erste moderne wissenschaftliche Beschreibung des Heiligen Landes, Palestine. Description géographique, historique et archéologique (1845). Als Historiker wollte er die Geschichte der Hebräer hinsichtlich ihrer rationalen Beweggründe schreiben. Deren einzige Mission sei es gewesen, »Gott zu kennen und ihn sich erkennen zu lassen, nicht über den Umweg einer subtilen Metaphysik, sondern durch eine unmittelbare Offenbarung (Palestine, 99). Das Ziel von Moses sei es gewesen, «eine demokratische Regierung zu stiften«. Der Monotheismus und das Prinzip der Gleichheit seien die wichtigsten Ideen gewesen, die die mosaische Lehre begründet hätte.
Im Jahr 1846 machte M. die aufsehenerregende Entdeckung, daß sich hinter dem Autor des nur auf lateinisch überlieferten philosophischen Werkes Fons Vitae, Avicebron, der jüdische Philosoph Salomon ibn Gabirol verbarg. Durch hebräische Zitate aus diesem Werk bei Shem Tov ibn Falaquera bewies M., daß der Autor der Fons Vitae, der bislang als ein arabischer Neuplatoniker galt, ein jüdischer Philosoph und Dichter war. Seinen bis heute anhaltenden internationalen Ruf jedoch verschaffte sich M. durch die Herausgabe und französische Übersetzung des arabischen Textes des »Führers der Verwirrten« von Maimonides (1856–1865), wie auch dessen fortlaufende Kommentierung. Sie war von ihm gedacht als »Repertorium für diejenigen, die Auskünfte über die Theologie der Juden und die arabische Philosophie suchen«, welches in der Tat seine Relevanz als Enzyklopädie des mittelalterlichen jüdisch-arabischen Denkens bis heute nicht verloren hat.
In seinen Mélanges de philosophie juive et arabe (1857–1859) hat M. eine Beschreibung der Philosophie und Poetik Salomon ibn Gabirols vorgelegt, wie auch eine kleine Geschichte der jüdischen und arabischen Philosophie des Mittelalters. M. verstand diese Arbeit, in der er gleichzeitig eine Synthese seiner verschiedenen Entdeckungen anstrebte, als einen Beitrag zur Geschichte der Gefahr der Häresie: »Die Rolle Ibn Gabirols im Mittelalter ist im Grunde dieselbe, die sein Glaubensgenosse Philon an der Grenze zur alten Welt hatte. Letzterer hat mehr oder weniger direkt die Philosophen der neuplatonischen Schule beeinflußt, aber genauso wie Ibn Gabirol blieben ihm die Konsequenzen seines Eklektizismus verborgen, da er sich hinter der Autorität der religiösen Traditionen versteckte« (Mélanges, 305). M. widmete sich auch dem Sohar, dessen Abfassung er entgegen der traditionellen Annahme, wonach der Sohar durch Rabbi Shimon ben Jochaj geschrieben worden sei, ins 13. Jahrhundert verlegte. Erst sehr viel später wurde durch Gershom Scholem diese umstrittene These bewiesen.
Für M. war es unmöglich, das jüdische Denken ohne die arabische Philosophie zu verstehen. Eigentlich gab es für ihn gar keine eigenständige jüdische Philosophie: »Eine solche Philosophie existiert gar nicht und die Juden dürfen nur das Verdienst in Anspruch nehmen, eines der Zwischenglieder gewesen zu sein, durch das die spekulativen Ideen des Orients im Abendland überliefert wurden« (Mélanges, 469). Die Größe des Maimonides sei gewesen, daß er die Juden in das »Heiligtum der Philosophie« eingeführt habe. »Im Grunde spielen die Juden als Nation oder als religiöse Gesellschaft in der Geschichte der Philosophie nur eine sekundäre Rolle; das war eben nicht ihre Mission. Sie teilen jedoch mit den Arabern das Verdienst, während der Jahrhunderte der Barbarei die philosophische Wissenschaft aufbewahrt und verbreitet zu haben und in einer bestimmten Epoche auf die europäische Welt einen zivilisierenden Einfluß ausgeübt zu haben« (Mélanges, 511).
Werke:
- La philosophie chez les Juifs (Archives Israélites, Bd. VIII), Paris 1850 (dt. B. Beer, Philosophie und philosophische Schriftstellerei der Juden, Leipzig 1852).
- Le Guide des égarés, arab. Text, franz. Übersetzung, 3 Bde., Paris 1856–1865 (Nd. Lagrasse 1979).
- Mélanges de philosophie juive et arabe, Paris 1857–1859 (Nd. Paris 1988). Cours de langues hébraïque, chaldaique et syriaque au Collège de France, Paris 1865. –
Literatur:
- H. Hirschfeld, Kritische Bemerkung zu M.s Ausgabe des Dalalat al-Hairin, in: MGWJ 39 (1895), 404–413 und 460–473.
- M. Schwab, S.M. Sa vie et ses oeuvres, Paris 1900.
- P. Simon-Nahum, La cité investie. La ›science du Judaïsme‹ français et la République, Paris 1991.
- A.L. Ivry, S.M. and the »Mélanges de Philosophie juive et arabe«, in: JSQ 7,2 (2000), 120–126.
Dominique Bourel
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.