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Lexikon der Mathematik: japanische Mathematik

Bezeichnung für die im folgenden näher definierte Entwicklung der mathematischen Wissenschaften im japanischen Raum.

Der Ausdruck wasan, der wörtlich übersetzt „japanische Mathematik“ bedeutet, bezeichnet eine mathematische Tradition, die während des Feudalregimes der Tokugawa (1600-1868) einen großen Aufschwung erlebte. Sie war stark geprägt durch einige wenige alte chinesische Schriften, die japanische Gelehrte via Korea und portugiesischer Jesuitenmissionare während des 17. Jahrhunderts in Form von Neuauflagen entdeckten. Die chinesischen Werke zur Mathematik und Kalenderrechnung stammten vorwiegend aus dem 13. Jahrhun dert, der Blütezeit dieser Wissenschaften in China (Chinesische Mathematik). Die ersten Publikationen von Mathematikmanualen in japanischer Sprache, das „Buch zur Teilung“ (1622) von Môri Shigeyoshi und die „Schätzung der Oberflächen und Volumina“ (1622) von Momokawa Chihei spiegelten die Interessen der Händler, Handwerker und Samurai von niederem Rang wider.

Das 1627 erstmals veröffentlichte „Jinkôki“ (wörtl. Unabänderliche Abhandlung) von Yoshida Mitsuyoshi (1598-1672) war das beliebteste Manual der Edo-Zeit und trug wesentlich zur schnellen Verbreitung der Arithmetik im 17. Jahrhundert in Japan bei. Weitere Manuale lieferten grundlegende Algorithmen zur Wurzelziehung oder zur Lösung algebraischer Gleichungen. Wesentliche Veränderungen erfuhr die wasan-Tradition durch die Beiträge von Seki Takakazu (?-1708) und von Takebe Katahiro (1664-1739) im Bereich der Algebra bzw. der Trigonometrie.

Eine in der Edo-Zeit weit verbreitete Tradition bestand auch in der Aufzeichnung vorwiegend geometrischer Probleme auf hölzernen Votivtafeln (jap. sangaku), die in Schreinen und Tempeln nicht nur zur Herausforderung anderer Geometer, sondern auch zum Dank an die Götter für die Entdeckung eines Theorems aufgehängt wurden. Eine erste Sammlung von sangaku-Auf- gaben, „Vor dem Tempel aufgehängte Mathematische Aufgaben“ (jap. Shimpeki Sampo), wurde 1789 von dem Mathematiker Kagen Fujita publiziert. In Japan sind heute noch ca. 820 solcher Tafeln erhalten.

Im Unterschied zur Medizin und Astronomie erlebte die wasan-Tradition keine Erschütterung durch die Öffnung Japans und die Einführung westlicher Wissenschaften im 18. Jahrhundert. Ohne den Rahmen dieser Tradition in Frage zu stellen wurde sie bis ins 19. Jahrhundert fortgeführt, obgleich bereits zahlreiche Kontakte zur westlichen Mathematik bestanden.

Erst durch den Beschluß der neuen Regierung Meiji 1872, in Grundschulen westliche Mathematik zu lehren, erfolgte der allmähliche Zusammenbruch ihrer Grundmauern. Eines der Hauptprobleme in der Assimilation westlicher Mathematik war dabei die Findung eines Konsens zur Kreation einer einheitlichen wissenschaftlichen Terminologie, für die das „Komittee zur Festlegung übersetzter Terminologie“ (jap. sûgaku yakugokai) der 1877 gegründeten Mathematischen Gesellschaft in Tokyo verantwortlich war.

[1] Fukagawa, H.; Pedoe, D.: Japanese Temple Geometry Problems. Charles Babbage Research Centre Winnipeg, 1989.
[2] Horiuchi, A.: Les mathématiques japonaises à lépoque dEdo. Librairie Philosophique J. Vrin (Mathesis), Paris, 1994.
[3] Mikami, Y.: The Development of Mathematics in Chinaand Japan. Teubner (Abhandlungen zur Geschichte derMathematischen Wissenschaften mit Einschluss ihrer An-wendungen begruendet von Moritz Cantor) Leipzig, 1913.

  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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