Lexikon der Neurowissenschaft: Alexie
Alexiew [von griech. a- = nicht, lexis = das Sprechen, latein. legere = lesen], Leseblindheit, Ealexia, die Unfähigkeit zu lesen, weil Buchstaben (literale Alexie), Wörter (verbale Alexie, Wortblindheit) oder Sätze nicht erkannt werden können. Alexie ist also eine visuelle Agnosie und tritt häufig zusammen mit einer rechten homonymen Hemianopsie, einer Farbanomie und zuweilen einer leichten amnestischen Aphasie auf. Patienten mit verbaler Alexie können häufig buchstabierend lesen ( siehe Zusatzinfo ), ziehen die Graphemstruktur (Graphem) des Wortes dabei aber nicht in Betracht; z.B. wird "Scheich" als "S,c,h,e,i,c,h" buchstabiert, ohne daß der Patient erkennt, daß die Buchstabenkombinationen "sch", "ei" und "ch" mit einzelnen Konsonanten bzw. mit einem Diphthong ("ei") korrespondieren. Wenn die Buchstaben korrekt identifiziert werden, was oft nicht gelingt, kann der Patient häufig das Wort erkennen. Die verbale Alexie ist also eine Unfähigkeit, Buchstaben als Grapheme zu erkennen und Wörter graphematisch zu analysieren. Das ganzheitliche Lesen bleibt intakt; so kann z.B. das semantische Feld erfaßt werden (bei "Rußland" sagen die Patienten z.B. "Zar"). Das Defizit beruht auf einer Störung der visuellen Verarbeitung bzw. der visuell-sprachlichen Zuordnung, denn das graphematische Wissen bleibt erhalten und ermöglicht z.B. ein fehlerfreies Schreiben nach Diktat. – Nach den Symptomen und Läsionsorten werden inzwischen drei Formen der Alexie unterschieden ( siehe Tab. ): 1) Ursache der reinen, verbalen oder posterioren Alexie bzw. Wortblindheit ist gewöhnlich eine Beeinträchtigung der Verbindung zwischen dem intakten visuellen Cortex und den auf Schrift und Sprache spezialisierten Gebieten der linken Großhirnhemisphäre. Dabei kommt es zu einer Trennung des linken oder rechten visuellen Assoziationscortex von den Sprachregionen; in der Regel durch eine Läsion im Hinterhauptslappen und im linken Gyrus angularis, im Gyrus lingualis oder im Gyrus fusiformis. Alexie ist also eine Leitungsstörung. Auslöser sind häufig Infarkte in der Arteria cerebri posterior. – Bei der "reinen" Alexie können die Patienten schreiben, aber nicht lesen, was sie geschrieben haben; sie können auch nichts abschreiben, es sei denn, sie kopieren Buchstabe für Buchstabe. Sie sind aber in der Lage, vorgesprochene Buchstaben im Kopf richtig zu einem Wort zusammenzusetzen, gehörte Wörter zu buchstabieren und somästhetisch zu lesen, d.h. Wörter, die auf die Haut geschrieben wurden, mittels des Tastsinns zu erkennen. 2) Die zentrale, corticale oder aphasische Alexie kann auch zusammen mit Agraphie vorkommen (wobei dann meist keine Hemianopsie vorliegt); in diesem Fall handelt es sich nicht um eine Leitungsstörung, sondern um eine Läsion des Gyrus angularis im Scheitellappen der dominanten Hemisphäre. Hier ist nicht der visuelle Eingang in das Verarbeitungszentrum für graphematische Informationen betroffen, sondern dieses Zentrum selbst. Solche Patienten können im Unterschied zur "reinen" Alexie weder Wörter nennen, die ihnen vorbuchstabiert werden, noch laut Wörter buchstabieren, die ihnen vorgesprochen werden, noch somästhetisch lesen. 3) Die erst in jüngerer Zeit diagnostizierte anteriore, frontale oder literale Alexie bzw. Buchstabenblindheit beruht auf Läsionen im hinteren Frontallappen und geht daher oft mit einer Broca-Aphasie einher.
R.V.
Lit.:Benson, D.F. in Frederiks, J.A.M. (Hrsg.): Handbook of clinical neurology, Bd. 45. Amsterdam 1985, S. 433-455.
Alexie
Das visuelle Erkennen von Buchstaben ist bei der verbalen Alexie intakt. Griechische und kyrillische Buchstaben können gewöhnlich sicher von lateinischen Buchstaben unterschieden werden. Manche Patienten sind auch in der Lage, Zahlen zu lesen. Japanische Patienten haben große Schwierigkeiten beim Lesen von Kana (dem Schriftsystem mit phonetischen Symbolen für Silben), während das Verständnis von Kanji intakt oder zumindest besser erhalten bleibt (dieses Schriftsystem basiert auf logographischen = nicht-phonetischen Symbolen, d.h. ganzen Wörtern oder Phrasen).
Alexie
Die drei Hauptformen der Alexie
| ||||
Schriftsprache: | ||||
Lesen | verbale Alexie | totale Alexie | literale Alexie | |
Schreiben nach Diktat | keine Agraphie | schwere Agraphie | schwere Agraphie | |
Abschreiben | nur sklavisch | nur sklavisch | schlecht, mit Auslassungen | |
Benennung der Buchstaben | relativ gut | stark beeinträchtigt | stark beeinträchtigt | |
Verständnis buchstabierter Worte | gut | nicht vorhanden | teilweise vorhanden | |
lautes Buchstabieren | gut | nicht möglich | schlecht | |
Weitere Befunde: | ||||
Sprache | normal | flüssige Aphasie | nichtflüssige Aphasie | |
Motorik | keine Parese | leichte Parese | Hemiplegie | |
Apraxie | keine | manchmal | häufig | |
Wahrnehmung | rechte Hemianopsie | manchmal Hemianopsie | meist nicht beeinträchtigt | |
Angularissyndrom | fehlt | häufig vorhanden | fehlt |
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