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Lexikon der Neurowissenschaft: Anosognosie

Anosognosiew [von griech. a- = nicht, nosos = Krankheit, gnosis = Erkennen], Eanosognosia, denial of illness, von J.F.F. Babinski geprägter Begriff für die Unfähigkeit, eine Krankheit (von Körperteilen oder neurologische Schäden) zur Kenntnis zu nehmen. Der Patient zeigt keine spontane Reaktion, z.B. Trauer und Klage über die Beeinträchtigung. Häufig ist Anosognosie von Konfabulationen begleitet, um die Defizite zu rationalisieren oder zu bagatellisieren. Sie beruht auf einer Deafferentierung des Assoziationscortex und tritt in der Regel mit einer schweren allgemeinen Funktionsstörung des Gehirns auf, einschließlich eingeschränkter Wachheit, vermindertem Antrieb, gestörter Orientierung und verlangsamter Denkabläufe. Inwiefern illusorische Wahrnehmungen, vergleichbar den Phantomempfindungen, bei Anosognosien eine Rolle spielen, ist unklar. – Anosognosien sind kein eigenständiges neuropsychologisches Syndrom, sondern eine Begleiterscheinung bestimmter Ausfälle. Offenbar sind eine lokalisierte und eine allgemeine Funktionsstörung des Gehirns zusammen für Anosognosien notwendig. Die erste bestimmt das Symptom, das nicht erkannt wird, die zweite die Tatsache des Nichterkennens. Deren Ursache sind meist eine Beeinträchtigung des rechten somatosensorischen Cortex und andere parietooccipitale Läsionen aufgrund von beidseitigen Insulten im Versorgungsgebiet der Arteria cerebri posterior; nur in einem Fünftel der Fälle ist die sprachdominante, linke Großhirnhemisphäre betroffen. Rein globale (kognitive Beeinträchtigung, emotionale Indifferenz) oder tiefenpsychologische Erklärungsversuche der Anosognosie gelten als widerlegt; dagegen spricht bereits die Asymmetrie der Anosognosie, die meist nur für die linke Körperseite besteht. – Am häufigsten ist die Anosognosie für eine Halbseitenlähmung (Hemiplegie), in der Regel der linken Körperseite (95 Prozent der Personen mit einer solchen Hemiplegie sind allerdings nicht anosognosisch). Die Patienten erklären auf Befragung z.B., sie hätten eine vorübergehende Schwäche, keine Lust, den Arm zu bewegen, oder gerade eine Spritze oder ein Bewegungsverbot von der Krankenschwester erhalten; werden sie aufgefordert, den gelähmten Arm zu bewegen, tun sie dies mit dem anderen Arm oder nehmen diesen zu Hilfe, um den gelähmten passiv zu bewegen. Wird im Experiment vorübergehend der gesunde Arm paralysiert, will der Patient auch diese Lähmung nicht wahrhaben. Die Anosognosie beruht also nicht auf einem selektiven Aufmerksamkeitsdefizit für nur eine Körperseite (Neglect). Bei der Anosognosie für akute corticale Blindheit (Rindenblindheit) verhalten sich die Patienten so, als könnten sie sehen oder als sei ihre Sehbehinderung auf schlechte Lichtverhältnisse zurückzuführen (ob sie visuelle Vorstellungen haben, ist unklar). Ursache der Erblindung ist eine beidseitige, meist ischämische Funktionsstörung im visuellen Cortex aufgrund eines embolischen Infarkts im Versorgungsgebiet beider Arteriae cerebri posteriores oder, seltener, eine bioccipitale Funktionsstörung nach Angiographie des hinteren Hirnkreislaufs (Arteria vertebralis und basilaris). Diese Form der Anosognosie geht meist innerhalb weniger Stunden bis Tage vorbei; sobald das Sehvermögen teilweise wiederhergestellt ist, beginnen die Patienten über ihre Erkrankung zu klagen. Eine Anosognosie für periphere Blindheit infolge einer Augenerkrankung ist sehr selten und kommt nur bei einer gleichzeitigen schweren allgemeinen Hirnschädigung vor. Im Gegensatz zur Anosognosie für akute corticale Blindheit bleibt eine für homonyme Halbseitenblindheit (Hemianopsie) sehr lange oder sogar dauernd bestehen. Sie wird dadurch kompensiert, daß die Patienten den Kopf zur Seite der ausgefallenen Gesichtsfeldhälfte wenden. Ursache ist eine parietooccipitale Läsion. Sehr selten sind Anosognosien für Taubheit (aufgrund einer beidseitigen Läsion der Scheitellappen) und für Paraplegie. Kurioserweise kann der anosognosische Patient vorübergehend Einsicht in seine Behinderung erlangen, wenn er z.B. erschreckt wird durch kaltes Wasser, das in sein Ohr getropft wird.

R.V.

Lit.:Schacter, D.L. (Hrsg.): Awareness of Deficit after Brain Damage. Oxford 1991.

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