Metzler Philosophen-Lexikon: Adler, Max
Geb. 15. 1. 1873 in Wien;
gest. 28. 6. 1937 in Wien
A. zählt – neben Otto Bauer, Rudolf Hilferding und Karl Renner – zu den wichtigsten und originellsten Vertretern des Austromarxismus. Charakteristisch für diese um die Jahrhundertwende in Österreich entstandene Variante des wissenschaftlichen Sozialismus ist unter anderem der Versuch, die Marxsche Lehre philosophisch zu begründen bzw. zu erweitern und ihre materialistische Geschichtsauffassung kritisch zu hinterfragen. A. geht in seinen Arbeiten noch einen entscheidenden Schritt darüber hinaus: Er will den Marxismus durch Kants transzendentale Methode erkenntnistheoretisch untermauern, was ihm vor allem durch die von ihm eingeführte Kategorie des »Sozialapriori« möglich erscheint; er fordert, die materialistische Geschichtstheorie nicht nur zu revidieren, sondern sie durch eine kausalteleologische zu ersetzen; er warnt im Zusammenhang mit seinem Konzept des »Neuen Menschen« vor einer gesellschaftlichen Revolution, die die Notwendigkeit der Revolutionierung des Bewußtseins außer acht läßt, und schließlich führt er die Begriffe der »politischen und sozialen Demokratie« ein, die sowohl in der Staatslehre der Weimarer Republik als auch der Bundesrepublik Deutschland von großer Bedeutung sein sollten.
A. wurde 1873 als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften promovierte er 1896 an der Universität seiner Heimatstadt, legte 1902 die Anwaltsprüfung ab und ließ sich anschließend als »Hof- und Gerichtsadvokat« in einem Wiener Arbeiterviertel nieder. Schon sehr früh hatte er sich – nicht zuletzt unter dem Einfluß von Carl Grünberg, dem »Vater des Austromarxismus« und späteren Direktor des legendären Frankfurter »Instituts für Sozialforschung« – dem Sozialismus zugewandt. An der von ihm mitbegründeten ersten österreichischen Arbeiterschule gab er seit 1904 Kurse und engagierte sich von dieser Zeit an zunehmend in verschiedenen Erziehungsorganisationen der sozialdemokratischen Partei seines Landes, da für ihn die richtige Bewußtseinsbildung einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft bedeutete. Die Habilitierung an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien stand aufgrund seiner politischen Überzeugung anfänglich in Frage; erst die engagierte Unterstützung des liberalen Staatstheoretikers Hans Kelsen vermochte 1919 den Widerstand der konservativen Professorenschaft zu brechen. Zwei Jahre später konnte er eine außerordentliche Professur übernehmen und sich nun ganz der wissenschaftlichen, schriftstellerischen und politischen Arbeit widmen. Obwohl seine Thesen zum Teil erheblich von der offiziellen Haltung der Arbeiterpartei Österreichs abwichen, ja die Lehre von Marx und Engels in Richtung auf eine idealistische Theorie zu verändern trachteten, war A. in den 20er Jahren einer der wichtigsten, wenn auch umstrittensten Köpfe der Sozialdemokratie seines Landes. Sein Bekenntnis zum Prinzip des Klassenkampfes, zur Revolution und zur Diktatur des Proletariats ließen ihn sogar als Vertreter der Linksopposition innerhalb des Austromarxismus erscheinen. Zu dieser Meinung trug erheblich die Tatsache bei, daß A. sich selbst lediglich als Interpret, nicht aber als Kritiker bzw. Erneuerer des klassischen Marxismus verstand und noch dort Unterschiede bestritt oder zumindest bagatellisierte, wo sie offen zutage lagen. Als 1934 die sozialdemokratische Partei in Österreich von Kanzler Dollfuß verboten wurde, behielt zwar A. seine Lehrerlaubnis, aber sein Wirken wurde dennoch sowohl durch die politischen Zustände des Landes als auch durch das Nachlassen seiner physischen Kräfte stark gemindert. Im Juni 1937, ein halbes Jahr vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich, starb er in Wien.
Bereits in seinem philosophischen Erstlingswerk Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft, das 1904 im wichtigsten Organ der Austromarxisten, den »Marx-Studien«, erschien, entwickelte A. eine Theorie, der er zeitlebens treu bleiben sollte: Ausgehend von der Annahme, daß es möglich sein müsse, den Weg zum Sozialismus nicht nur als historisch, sondern auch als anthropologisch-gesellschaftlich notwendig nachzuweisen, machte er sich daran, die Marxsche Lehre um Kants idealistische Erkenntnistheorie zu erweitern. Das Soziale, so A., ist nicht etwas, das im Laufe des Zusammenlebens zwischen den Menschen entsteht und sich entwickelt, sondern es ist im Bewußtsein von Anfang an, d.h. vor jeder gesellschaftlichen Erfahrung, vorhanden. Die Kenntnis der Kategorie des »Sozialapriori«, deren Entdeckung A. selbst als seine größte wissenschaftliche Tat bezeichnete, ist somit eine wesentliche Voraussetzung für das Verständnis der historischen Vergesellschaftung: Die ökonomischen Verhältnisse, die vom Marxismus als die entscheidenden Triebkräfte der Gesellschaft angesehen werden, müssen auf ihre geistigen Ursprünge zurückgeführt werden. Damit aber hat A., der die Marxsche Lehre ausschließlich als Soziologie verstand, die materialistische Geschichtsauffassung bewußt über Bord geworfen. Dennoch hält er an der Überzeugung fest, daß Marx das »kausale Getriebe der Geschichte«, das unabhängig vom menschlichen Sollen auf den Sozialismus zulaufe, richtig analysiert habe, daß aber die erkenntniskritische Methode zum ersten Mal ermögliche, es direkt in eine Teleologie zu überführen, »ohne doch irgendwie an der Geschlossenheit seiner kausalen Bestimmtheit Abbruch zu erleiden«. A. hob auf diese Weise den Widerspruch zwischen der historischen Gesetzlichkeit und der Notwendigkeit zur revolutionären Tat auf, der im Zentrum der Überlegungen von Eduard Bernstein und anderen revisionistischen Theoretikern gestanden hatte. Im Laufe seines Schaffens erfährt die Idee, Marx durch Kant idealistisch zu erweitern, nur geringe Modifikationen; schon die Titel vieler seiner Arbeiten weisen auf diese Kontinuität hin: Marx als Denker (1908), Der soziologische Sinn der Lehre von Karl Marx (1914), Das Soziologische in Kants Erkenntniskritik (1924), Kant und der Marxismus (1925), Lehrbuch der materialistischen Geschichtsauffassung (1930) sowie Das Rätsel der Gesellschaft. Zur erkenntniskritischen Grundlegung der Sozialwissenschaften (1936).
A.s politische Vorstellungen waren demgegenüber einem starken Wandel unterworfen. Stellte sich ihm zum Beispiel anfänglich die »Reform des Bewußtseins« als treibende Kraft der Revolution dar, so war es in seinem Spätwerk vor allem der bewaffnete Kampf des Proletariats, dem er diese Funktion zutraute. In den 20er Jahren favorisierte er die Idee eines »Dritten Weges« zum Sozialismus, dessen Motor die Sozialdemokratie und dessen Mittel eine Verbindung von Rätesystem und Parlamentarismus sein sollte. In seinem wohl folgenreichsten politischen Werk Die Staatsauffassung des Marxismus (1922) führte er darüber hinaus die Unterscheidung von »politischer« und »sozialer Demokratie« ein, die nicht nur bei Staatstheoretikern seiner Zeit heftige Diskussionen auslöste. Während er unter der politischen Demokratie die bürgerliche Staatsform versteht, die zwar formalpolitische, nicht aber wirtschaftliche Gleichheit beinhaltet und folglich in Krisenzeiten von der herrschenden Klasse nach Belieben aufgegeben werden kann, will er unter der sozialen Demokratie die Verwirklichung des Sozialismus verstanden wissen. Diese Unterscheidung erlaubte es ihm, die bestehenden demokratischen Verhältnisse zu verurteilen, ja sie als Diktatur zu brandmarken, ohne gleichzeitig die Demokratie als solche ablehnen zu müssen.
Somek, Alexander: Soziale Demokratie. Jean-Jacques Rousseau, Max Adler, Hans Kelsen und die Legitimität demokratischer Herrschaft. Wien 2001. – Möckel, Christian: Sozial-Apriori, der Schlüssel zum Rätsel der Gesellschaft. Leben, Werk und Wirken Max Adlers. Frankfurt am Main 1993. – Pfabigan, Alfred: Max Adler. Eine politische Biographie. Frankfurt am Main/New York 1982. – Leser, Norbert: Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Der Austromarxismus als Theorie und Praxis. Wien 1968. – Heintel, Peter: System und Ideologie. Der Austromarxismus im Spiegel der Philosophie Max Adlers. Wien/München 1967.
Norbert J. Schürgers
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