Metzler Philosophen-Lexikon: Aristippos
Geb. um 435 v. Chr. in Kyrene;
gest. nach 366 v. Chr.
A.’ Philosophie der Lust ist geistiger Ausdruck einer Tendenz, die der griechischen Welt im 4. vorchristlichen Jahrhundert nach der Katastrophe des Peloponnesischen Krieges zu schaffen machte. Sie manifestiert sich positiv als Rückzug ins Private, negativ in der »Abwendung vom Staat« (Jacob Burckhardt). Ihr hatte das Sokratische Denken vorgearbeitet. In Auseinandersetzung mit der herkömmlichen Praxis der Polis wie mit der radikalen Kritik der Sophisten gelangt ein Tugend-Begriff zur Herrschaft, der, weit entfernt, sich durch positive Bestimmtheit zu profilieren, aus der engsten Verbindung mit dem Gedanken persönlicher Autonomie seinen besonderen Gehalt gewinnt. Dank dieser Situation haben die einflußreichsten sokratischen Schulen, die kynische und die hedonistische, im gemeinsamen Ausgang von der zentralen Fragestellung ihres Ahnherrn entgegengesetzte Antworten auf das Problem gefunden, wie die lediglich formell charakterisierte Position der moralischen Autonomie des Individuums zu besetzen sei. Durchaus gemeinsam ist den konkurrierenden Sekten das Prinzip der Autarkie, der Unabhängigkeit von den Bindungen gegebener Lebenszusammenhänge. Im Gegensatz zu Kynikern wie Antisthenes und Diogenes von Sinope jedoch sieht A., das Schulhaupt der Hedoniker, die Bedingung für die Aufrechterhaltung jener Selbstgenügsamkeit nicht im Negieren aller kulturell vermittelten Bedürfnisse, sondern in deren kluger, besonnener Befriedigung. Sind den Kynikern Begriffe wie »eutéleia« (Einfachheit) und »pónos« (Last) sakrosankt, so steht für A. beim Versuch, das Prinzip der Eudämonie zu bestimmen, die Lust (»hedonḗ«) obenan. A.’ Herkunft ist oft genug mit diesem Prinzip in Zusammenhang gebracht worden, war doch Kyrene seines Reichtums und seiner urbanen Atmosphäre wegen weithin berühmt. Enthusiasmus für die Gestalt des Sokrates verschlug den Kyrenaiker bald nach Athen. Er blieb – als dessen Anhänger – seinem persönlichen Stil treu: Im Gegensatz zu Sokrates selbst lehnte er es, was ihm als sophistische Unsitte angekreidet wurde, nicht ab, Honorar entgegenzunehmen.
Gemäß der Sokratischen Rückwendung auf die Innerlichkeit des ethisch gesinnten Individuums ist es auch bei A. eine subjektive Funktion, die zur näheren Bestimmung dessen dient, was als Wesen den Maximen des »guten Lebens« zugrundeliegt: die Funktion des Rezeptiven, des Fühlens. Damit aber wird erstmals eine Bewußtseinssphäre erschlossen, die durch den Modus unmittelbarer Gegebenheit gekennzeichnet ist. Dieses positivistische oder phänomenalistische Element gehört zur Signatur der kyrenaischen Schule, die man als erste bekannte Formation einer sensualistischen Aufklärungsphilosophie bezeichnen kann. So wird die Erfahrung der subjektiven Bedingtheit aller Sinneswahrnehmung von A.’ Nachfolgern zu einer skeptizistischen Erkenntnislehre ausgearbeitet, die offenkundig bestimmten Spielarten des englischen Empirismus des 18. Jahrhunderts gleicht. Die auf solche Weise ausgezeichnete Domäne des Bewußtseins vermißt schon A. mit Hilfe einer primitiven Affektenlehre, die sich in ihrer Bilderwelt, dem behaupteten Vorrang der körperlichen Lust entsprechend, als Dynamik des Fühlens entwirft: Lust wird als sanfte, Unlust als heftige Bewegung, die Indifferenz als Ruhelage beschrieben. Daß gerade die sanfte Bewegung der »hedonḗ« den entscheidenden Wertakzent trägt, ergibt sich aus der Vereinigung jener Elementarpsychologie mit dem Sokratischen Prinzip der persönlichen Autarkie, der Souveränität des Subjekts über die Macht der andrängenden Leidenschaften. Demgemäß werden die mit falschen Vorstellungen verbundenen Affekte – Neid, Aberglauben, Liebesleidenschaft – perhorresziert. Die von A. stammende, zunächst auf das Verhältnis zur Hetäre Lais gemünzte Sentenz: »Ich besitze, doch ich werde nicht besessen« faßt jenen Anspruch auf souveränen Umgang mit den Sinnenfreuden prägnant zusammen. In der Figur des Hedonikers hat der Weise zum Lebemann gefunden: »Herr der Lust ist nicht, wer sich ihrer enthält, sondern wer sich ihrer zu bedienen weiß, ohne sich von ihr fortreißen zu lassen.«
Diese gewissermaßen höfische Lebenskunst bekundet sich in der Biographie von A. eindrücklich genug: Der Philosoph verkehrte, wie Platon, am syrakusischen Hof des jüngeren Dionys, wo er, wie Anekdoten überliefern, die Konversationsfertigkeit eines geistesgegenwärtigen Opportunisten glänzend zu entfalten wußte. Nicht zufällig inspirierte die atmosphärische Nähe solcher Lebensweise zum Daseinsmodell des geselligen Skeptikers der neuzeitlichen Aufklärungsepoche über zwei Jahrtausende später Christoph Martin Wieland zu seinem Aristipp-Roman. Dabei ist A.’ Hedonismus nicht nur durch die sozial überformte Vorstellung des rechten Maßes temperiert. Ihm ist auch der rationale, utilitaristische Kalkül einer Abwägung zwischen Lust- und Unlustquantitäten im Vergleich von Gegenwart und Zukunft keineswegs fremd. Selbst anderen Sokratikern erschien diese Rechenkunst, wie Platons früher Dialog Protagoras bezeugt, als diskutable Lebenstechnik.
Die Lehre von A. ist in der Folge – Ende des 4. Jahrhunderts – differenziert und abgewandelt worden: durch Theodoros, der den Begriff der Lust zu vergeistigen bestrebt ist, durch Hegesias, dessen pessimistische Neufassung des Hedonismus dem Prinzip kynischer Bedürfnislosigkeit nahekommt, endlich durch Annikeris, der gegenüber der egoistischen Grundtendenz der Kyrenaiker an die Bedeutung sozialer Sympathiegefühle erinnert. Der Systematisierungsarbeit des sog. »jüngeren Aristipp« ist es zu verdanken, daß das hedonistische Gedankengut zur Basis einer wirkungsmächtigen Philosophie avancieren konnte, deren oft verketzerter Einfluß bis in die Neuzeit reicht: der Philosophie Epikurs.
Döring, Klaus: Art. »Aristippos«. In: Der Neue Pauly. Stuttgart/Weimar 1996ff., Bd. 1, Sp. 1103–1104. – Döring, Klaus: Der Sokratesschüler Aristipp und die Kyrenaiker. Stuttgart 1988. – Giannantoni, Gabriele: I cirenaici. Florenz 1958.
Thomas Horst
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