Metzler Philosophen-Lexikon: Cicero, Marcus Tullius
Geb. 3. 1. 106 v. Chr. in Arpino; ermordet 7. 12. 43 v. Chr. bei Gaeta
Die Iden des März hatten neben ihren politischen Folgen auch zumindest eine literarische Konsequenz. Während des Komplotts gegen Caesar war dessen sechs Jahre älterer Zeitgenosse C. mit der Abfassung einer religionsphilosophischen Schrift beschäftigt. Der Staatsstreich bewog den Autor, das zweite Buch seines Traktats Von der Weissagung mit einer persönlichen Präambel zu versehen: »Ich habe mich immer wieder gefragt, mir oft überlegt, auf welche Weise ich möglichst vielen nützlich werden kann, um so nie eine Pause darin eintreten zu lassen, beizutragen zum Wohle der Republik. Da kam mir nichts Wichtigeres in den Sinn, als meinen Mitbürgern die Wege der höchsten Wissenschaften zu weisen, und das habe ich, wie ich meine, schon in mehreren Büchern erreicht.« An diese Standortbestimmung (Philosophie nicht um ihrer selbst willen, sondern als Dienst am Staat, zum Wohle der Gemeinschaft der Bürger) schließt der Verfasser eine Art Rechenschaftsbericht an: Er gibt sein »Schriftenverzeichnis«, eine systematische Aufzählung von 13 Titeln mit insgesamt 35 Büchern. Die Einleitung schließt mit einer wiederholten und detaillierten Programmerklärung: Anlaß zur Niederschrift philosophischer Werke war dem durch Caesars Alleinherrschaft aus der politischen Entscheidungsmacht verdrängten Konsular »der schwere Fall des Staates«. Er hoffte, durch solche Werke »das Gemüt von den Beschwerden zu erleichtern« und eben den Römern insgesamt zu nützen. Auch das Ziel wird genannt: »Kein Gebiet der Philosophie soll es mehr geben, das nicht auch in lateinischer Sprache zugänglich gemacht ist.«
Zu diesem Zeitpunkt hat C. ein bewegtes politisches Leben hinter sich. Seine philosophische Schulung erfuhr er in Athen und auf Rhodos, er hörte den Akademiker Antiochos, den Epikureer Zenon und den Stoiker Poseidonios. Der Aufsteiger aus der Provinz hat sich bald als Anwalt und Redner den Weg zu den höchsten Staatsämter zu bahnen vermocht; er ist im Jahre 63 Konsul gewesen und hat als Jahres-Lenker des Staates mit Wort und Waffen die Revolte des Catilina niedergeschlagen. Das brachte ihm Feinde genug, und eine Verbannung (April 58 bis September 57) mußte durchgestanden werden. Auch als Provinzialgouverneur von Kilikien (Juli 51 bis Juli 50) hatte C. sich zu bewähren – er war kein Pontius Pilatus, seine Amtszeit blieb unspektakulär. Komplizierter war die Situation im Bürgerkrieg. Als Caesar Anfang 49 den Rubikon überschritt, stellte sich C. nach langem Zaudern auf die Seite des Senats; nach der Niederlage des Pompeius mußte er bis zum September 47 auf die Begnadigung durch den Sieger Caesar warten. Unter dessen Alleinherrschaft war kein Raum mehr für den Politiker C. – der Philosoph C. begann sein systematisches Werk, ein Leben lang vorbereitet durch Lektüre, Diskussionen und Studien, durch den Tod seiner Tochter Tullia emotional bewegt und letzten Fragen zugewandt. Erst die Ermordung Caesars brachte einen Umschwung; nun meldete sich auch der Redner, der Politiker wieder zu Wort. Doch schon anderthalb Jahre später endete sein Leben in der Ächtung der neuen Herren Antonius und Octavian, von deren Häschern C. 43 auf der Flucht getötet wurde.
Das philosophische Werk beruht auf griechischen Quellen, denen der Meisterstilist lateinischen Klang und römische Farben gab. Seine Aufzählung beginnt mit der Ermahnung zur Philosophie, dem Protreptikos Hortensius. Das Werk, vom 62jährigen C. 45 verfaßt, ist bis auf etwa 100 kurze Fragmente verlorengegangen. Es hat aber in der Geistesgeschichte seine Spuren hinterlassen: Seine Lektüre bekehrte den jungen Augustinus zur Philosophie. Die Akademischen Abhandlungen (Academici libri quattuor, etwa 46) erklären, warum sich der Autor der sogenannten Neueren Akademie anschließt: Sie erscheint ihm unter all den philosophischen Schulen und Sekten seiner Zeit »am wenigsten anmaßend, am meisten sich gleichbleibend und geschmackvoll« – man sieht, wie hier für den Denker und Autor C. neben den inhaltlichen Kriterien der Zurückhaltung im Urteilen und der Konsequenz im Lehren auch die formale Seite, die Art der Darstellung, ihre Rolle spielt. An die Erkenntnislehre schließt sich verschiedenerlei zu Fragen der praktischen Ethik an: 5 Bücher Über das höchste Gut und das größte Übel (De finibus bonorum et malorum), ebenso viele mit dem Titel Gespräche in Tusculum (Tusculanae disputationes, 45), gewidmet Fragen wie Tod, Schmerz, Leid, Gemütsbewegungen. Es folgen religionsphilosophische Erörterungen über Das Wesen der Götter (De natura deorum, 44) und die in Arbeit befindlichen Erörterungen Über die Weissagekunst (De divinatione). Freilich ist die Liste hier noch nicht zu Ende. Hinzu tritt das früher (54–51) verfaßte große Werk Vom Staat (De re publica), von dessen 6 Büchern uns wiederum nur Teile erhalten geblieben sind, gipfelnd in der berühmten spekulativen Vision vom Somnium Scipionis (Traum des Scipio). C. erwähnt auch noch kleinere Gelegenheitsschriften, wie Laelius de amicitia (Laelius oder die über Freundschaft) und Cato maior de Senectute (Cato oder über das Alter). Er vergißt auch nicht seine der rhetorischen Theorie gewidmeten Hauptwerke zu erwähnen: De oratore (Vom Redner), sodann die in ihm selbst gipfelnde Geschichte der römischen Beredsamkeit mit dem Titel Brutus, schließlich noch der Traktat Der Redner. Ihre Einfügung bezeugt den engen Kontakt zwischen Rhetorik und Philosophie in C.s Zeit und Werk. Wir Modernen können nur noch die dem in Athen studierenden Sohn als Verhaltenskodex gewidmeten 3 Bücher Vom rechten Handeln hinzufügen, ferner die Paradoxe der Stoiker sowie De legibus (Die Gesetze); durch sie wird, in der Nachfolge Platons, die Schrift Der Staat detailliert ergänzt. Freilich dürfen wir auch die zahlreichen philosophischen Passagen in Reden, Briefen und Dichtungen nicht vergessen, die teilweise noch einer systematischen Auswertung harren.
Die Weite dieses Werkes ist eindrucksvoll genug, seine Wirkung nicht minder. C. erst hat die lateinische philosophische Sprache geschaffen, hat, aus griechischem Gedankengut schöpfend, um die Prägung von Begriffen gerungen, die in der von ihm geformten Fassung dann in den europäischen philosophischen Diskurs eingegangen sind, ja in vielen Fällen ihn überhaupt erst möglich gemacht haben. Darin hat man eine Schwäche sehen wollen, hat sich dabei auch seines eigenen Wortes bedient: »Das sind eigentlich Abschriften, entstanden mit geringer Mühe; ich füge nur die Worte hinzu, und an denen habe ich Überfluß.« Aber so gewiß C. vor den großen schöpferischen Denkern der antiken Philosophie auch zurücktritt, so gewichtig ist sein Beitrag zur Geschichte der Philosophie: Er hat ihr das Imperium Romanum erschlossen und damit den Strom geistiger Tradition von den Griechen zu den Römern, den ersten Erben Griechenlands, hingelenkt zu allen späteren Denkschulen Europas. Daß er das vermochte, ist nicht nur Resultat seines Intellekts und seiner rhetorischen Meisterschaft, sondern auch seiner persönlichen Hingabe an die Philosophie: In seinem berühmten Hymnus (am Anfang des letzten Buches der Gespräche in Tusculum) preist er sie: »O du Führerin durch das Leben, du Finderin der Vollkommenheit, du Vernichterin unserer Fehler – was wäre das Leben der Menschen ohne dich?«
Leonhardt, Jürgen: Ciceros Kritik der Philosophenschulen. München 1999. – Ders.: Art. »Cicero«. In: Der Neue Pauly. Stuttgart/Weimar 1996ff., Bd. 2, Sp. 1191–1202. – Powell, Jonathan G. F.: Cicero the Philosopher. Oxford 1995. – Gigon, Olof: Die antike Philosophie als Maßstab und Realität. München 1977. – Görler, Woldemar: Untersuchungen zu Ciceros Philosophie. Heidelberg 1974.
Bernhard Kytzler
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