Metzler Philosophen-Lexikon: Dionysius Areopagita
Gesicherte biographische Daten über den Verfasser des Corpus Dionysiacum (CD) gibt es nicht. Er selbst gibt sich als der in Act. Apost. 17,34 erwähnte Schüler des Apostels Paulus Dionysios Areopagites aus. Von Eusebios wird er als erster Bischof Athens bezeugt (Eccl. hist. III 4,6). Später wurde er durch Identifikation mit dem Bischof von Paris und späteren Märtyrer Dionysius zum Nationalheiligen Frankreichs. Seit Abaelard (12. Jh.) wurden immer wieder Zweifel an der Authentizität laut. Ende des 19. Jahrhunderts gelang die Einordnung des CD ins späte 5./frühe 6. Jahrhundert. Entscheidend war der Nachweis der Abhängigkeit von den Schriften des Neuplatonikers Proklos (gest. 485). Bestimmte Angaben zur Meßliturgie seiner Zeit legen den syrischen Raum als Heimat nahe.
Der zeitgeschichtliche Kontext war geprägt durch die christologischen Auseinandersetzungen um das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Natur in Christus. In diesem Zusammenhang wurden die Werke des D. 532 erstmals bezeugt. Gleichwohl lag ihre Zielsetzung primär nicht auf diesem Gebiet. Gedacht als Deutung der Hl. Schrift, thematisierten sie die Möglichkeiten menschlichen Gotteslobes (»h´ymnos«) durch Gotteserkenntnis auf begrifflich-biblischem und mystisch- liturgischem Wege, aber auch die Frage nach Gottes Selbstoffenbarung durch Schöpfung und Kirche. Dabei entschärfte die Nutzung der spätantiken platonischen Metaphysik und Methodik den Gegensatz des Christentums zur zeitgenössischen, hoch entwickelten paganen Philosophie und sicherte zugleich deren Überleben im Rahmen christlicher Theologie. Überliefert sind vier Traktate: Über die Himmelshierarchie^ – peri uranias hierarchias – De caelesti Hierarchia (CH), Über die kirchliche Hierarchie^ – peri ekklesiastikēs hierarchias – De ecclesiastica hierarchia (EH), Über die Gottesnamen^ – peri theiōn onomatōn – De divinis nominibus (DN), Über die mystische Theologie^ – peri mystikēs theologias – De Mystica Theologia (MT). Hinzu kommen zehn Briefe (Ep). In diesen Schriften wird auf weitere sieben, nicht erhaltene Abhandlungen verwiesen. Diese sind vermutlich fiktiv, um den Eindruck einer umfassenden Systematik zu erwecken. Doch reichen die mit den Verweisen verbundenen inhaltlichen Angaben aus zur Rekonstruktion der intendierten Systematik.
EH behandelt die Abfolge der Engelshierarchien^ (»hierarchiai«). Entsprechend platonischer Überzeugung von der notwendigen Vermittlung unterschiedlicher Wirklichkeitsebenen bilden die Engelshierarchien als intuitive Geistwesen zwischen dem transzendenten Gott und dem seelischmenschlichen Bereich eine vermittelnde Instanz. Der Wirklichkeitsaufbau ist triadisch: Gott, Engel, Mensch (neuplatonisch analog Eines (»hen«), Intellekt (»nus«), Seele (»psychḗ«)). Doch der Engelsbereich ist auch in sich triadisch strukturiert in Anlehnung an die Proklische Triade Sein^ (»on«), Leben^ (»zōḗ«), Erkenntnis^ (»nóēsis«) als konstitutive Implikate jedes Intelligiblen. Die sich so ergebenden drei Hauptstufen oder Hierarchien sind dann jeweils abermals dreifältig strukturiert. Diesen drei mal drei Stufen werden die neun biblischen Engelsnamen zugeordnet: 1. Hierarchie: Seraphim, Cherubim, Throne; 2. Hierarchie: Herrschaften, Mächte, Gewalten; 3. Hierarchie: Prinzipien, Erzengel, Engel (VI 2). Ihr Wesen wird bestimmt als »heilige Ordnung und Wissen und Wirksamkeit, die sich an das Göttliche, soweit möglich, angleicht und die auf die ihr von Gott her eingegebenen Erleuchtungen hin in einer ihr gemäßen Form zur Gottesnachahmung hinaufstrebt« (III 1). Dies wird präzisierend mit Hilfe der Triade Reinigung^, Erleuchtung^, Vollendung^ beschrieben (III 2). Der Lebensvollzug der Engel besteht also in der Aufnahme der göttlichen Erleuchtung durch die Hierarchien hindurch (VII– IX). Zugleich vermitteln sie die Selbstoffenbarung Gottes weiter in den Bereich der Menschen hinein (IX 2).
In EH wird die triadische Struktur (3×3) analog auf den Bereich der menschlich-irdischen Kirche übertragen (I 2.4): 1. Hierarchie: Sakramente (Firmung (IV), Eucharistie (III), Taufe (II)), 2. Hierarchie: Kleriker (Bischof, Priester, Diakon) (V), 3. Hierarchie: Nicht-Kleriker (Mönche, Gemeindeglieder, Unvollkommene) (VI). Auch hier wird das Licht Gottes stufenweise von oben nach unten^ weitergereicht. Die kirchlichen Hierarchien sind vom Bemühen um eine Angleichung an Gott bestimmt (I 3). Ihr Lebensvollzug läßt sich ebenfalls jeweils durch die Triade Reinigung^, Erleuchtung^ und Vollendung^ charakterisieren. Jede dieser drei Wirksamkeiten ist je einer der drei Stufen jeder Hierarchie als Spezifikum zugeordnet: Die oberste Hierarchie (Sakramente) reinigt, erleuchtet und vollendet, die unterste Hierarchie (Nicht- Kleriker) empfängt Reinigung, Erleuchtung und Vollendung, die Kleriker als mittlere Hierarchie vermitteln zwischen beiden (V 3). Deren liturgische Handlungen werden als sichtbare Darstellung der kreativen und doch in Identität verbleibenden Wirksamkeit Gottes dargestellt.
DN setzt in der Behandlung der biblischen Gottesprädikate als einziger Quelle für ein Wissen von Gott (I 1) eine patristische Tradition fort, ist in der Durchführung aber vor allem der Interpretation des Platonischen Dialogs Parmenides durch Proklos verpflichtet. Nach Proklos entfaltet sich die Fülle der Wirklichkeit je nach Grad an Einheit in abgestufter Form: transzendenter Gott, Intellekt bzw. Götterordnung, Weltseele, Körperwelt, Materie. Erst ab der zweiten Ebene, den göttlichen Intellekten, sind positive Namen^ möglich, die transzendente Gottheit dagegen kann nur negativ beschrieben werden. Da D. als Christ eine Vielzahl von Göttern ablehnte, faßte er die Bereiche von göttlicher Transzendenz und Intellekt zusammen. So konnte er außer den negativen auch positive Aussagen auf Gott selbst beziehen. Entsprechend unterscheidet D. einleitend eine negativ aussagende Theologie (»apophatikḗ«), die die Transzendenz, und eine positiv aussagende Theologie (»kataphatikḗ«), die die Allursächlichkeit Gottes beschreibt (I 5). Letztere bildet das Thema von DN, sofern es um rein begriffliche und primär für Gott gültige Namen wie Gut^, Eins^, Weisheit^ geht (I 8). Sie können Gott freilich nur in seinen Wirkungen auf die Schöpfung, nicht seinem Wesen nach beschreiben (I 5). In weiterer Präzisierung werden in DN von diesen auf Gott insgesamt bezogenen Namen noch die nur für einzelne Gottespersonen als internen Emanationen Gottes je spezifisch gültigen Namen unterschieden (II). Im Hauptteil (IV–XIII) wird der transzendenten Gottheit gut^ als erster Name zugesprochen (IV). Das zugehörige Platonische Grundproblem, die Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen in der Welt (Theodizee), wird ausführlich mitbehandelt (IV 13). Die Kapitel V–VII besprechen die systematisch nachfolgenden Namen seiend^, Leben^, Weisheit^ (bei Proklos Sein^, Leben^, Erkenntnis^). Kraft^ (VIII), groß^ – klein^, identisch^ – verschieden^, gleich^ – ungleich^, Stand^ – Bewegung^, Gleichmäßigkeit^ (IX), allmächtig^, alt an Tagen (X), Frieden^ (XI), Heiliger der Heiliger^, König der Könige^, Herr der Herren^, Gott der Götter^ (XII) setzen die Reihe fort. Dabei entstammen trotz der ausschließlich biblischen Nachweise einige Namen primär neuplatonischer Terminologie (V–VII, IX) oder stimmen mit ihr überein (VIII, XI). Prinzip der Abfolge der Begriffe scheint deren zunehmende sachliche Komplexität zu sein. Mit dem Platonischen Zentralbegriff des Einen wird schließlich die Begriffsreihe wieder an den transzendenten Ursprung zurückgebunden (XIII). Dies entspricht der platonischen Reflexionsbewegung von Verbleib, Hervorgang und Rückwendung, die generell das Verhältnis von Verursachtem zur Ursache beschreibt (XIII 3).
Die MT bildet den Höhepunkt der Theologie des D. In jeder sonstigen, positiv verfahrenden Theologie werden Gott als einfachster, ursächlicher Instanz deduktiv immer komplexere Sachverhalte zugesprochen. Da Gott alle Begrenzung übersteigt, bleibt diese Art der Gotteserkenntnis immer unvollkommen. Die Mystik bewegt sich umgekehrt von dem unähnlichsten geschöpflichen Bereich aus induktiv auf den überseienden Gott zu. Der Aufstieg wird negativ erreicht durch stufenweise Wegnahme (»aphaíresis«) der Merkmale aller nicht mit Gottes Wesen identischer Wirklichkeitsbereiche (III): der ungestalteten Materie, des Körpers, der Seele, des Intellekts (IV–V). Jenseits aller begrifflich faßbaren Bestimmtheit und aller geschöpflichen Erkenntnismöglichkeiten (V) ist Gott in einem alles Licht übersteigenden Dunkel verborgen (I 1). Das menschliche Geschöpf wendet sich im mystischen Aufstieg reflexiv auf seine Ursache zurück bis hin zur vollen Einung (I 3). Dies findet in der Liturgie eine sichtbare Entsprechung: dem stufenhaften mystischen Aufstieg (I 3) entsprechen Reinigung, Erleuchtung, Vollendung durch die Sakramente (EH V 3), der Reflexionsbewegung der Rundgang des inzensierenden Bischofs durch den Kirchenraum vor der Eucharistie (EH III 3). Da jedes Geschöpf unmittelbares Werk Gottes ist, vollzieht sich der mystische Aufstieg nicht durch die Hierarchien von Kirche und Engeln hindurch, sondern wird von jeder Stufe aus unmittelbar gemäß den je gegebenen Möglichkeiten.
Die zehn Ep sind an Adressaten der fingierten Zeit um 100 n. Chr. gerichtet, Kleriker aller Ränge und Mönche, aber auch an den Evangelisten Johannes (X). Sie setzen teilweise die großen Schriften ergänzend fort: Ep I, II und V die MT, III und IV mit der Inkarnation die (nicht existenten) Theologischen Entwürfe, IX mit der Auslegung geschöpflicher Merkmale in Anwendung auf Gott die (nicht existente) Symbolische Theologie. Doch auch Fragen praktischen christlichen Verhaltens werden behandelt, wie in Ep VI und VII der rechte Umgang mit Irrlehren. Ep VIII empfiehlt die Milde als entscheidende christliche Tugend. Ep X prophezeit dem Evangelisten Johannes das baldige Ende seines Exils auf Patmos.
Das CD hatte eine bedeutende Nachwirkung. Bald nach Erscheinen wurde es in den Streit um den Monophysitismus (nur eine gottmenschliche Natur in Christus) hineingezogen (aufgrund von DN II 9, Ep IV). Die Scholien des Johannes von Skythopolis (6. Jh.) wiesen jedoch seine Orthodoxie nach. Seitdem war es fester Bestandteil der byzantinischen und syrischen Theologie, v. a. bei Maximus Confessor (7. Jh.) und Johannes Damascenus (7./8. Jh.). Im Westen ging der entscheidende Impuls von der lateinischen Übersetzung des Eriugena (9. Jh.) aus. Eine starke Breitenwirkung erfolgte aber erst vom 11. Jahrhundert an im Rahmen des universitären Unterrichts. In Negativer Theologie, Engelslehre, Mystik und hierarchischer Strukturierung der Wirklichkeit beeinflußte das CD Mystiker wie Meister Eckhart und Johannes Tauler, Scholastiker wie Albertus Magnus und Thomas von Aquin sowie Nikolaus von Kues. Der bedeutendste literarische Einfluß des Mittelalters liegt in Dantes Divina Commedia vor. DA wirkte über die Renaissance (Ficino) hinaus bis in den Deutschen Idealismus.
Schäfer, Ch.: Unde malum. Die Frage nach dem Woher des Bösen bei Plotin, Augustinus und Dionysius. Würzburg 2002. – Louth, A.: Dionysios the Areopagite and the Terminology of the Apophatic. In: Hägg, H. F. (Hg.): Language and negativity. Oslo 2000, S. 29–50. – Andia, Y. de (Hg.): Denys l’Aréopagite et sa postérité en orient et en occident. Paris 1997. – Suchla, B. R.: Verteidigung eines platonischen Denkmodells einer christlichen Welt. Göttingen 1995. – Rorem, P.: Ps.-Dionysius, A Commentary on the Texts and Introduction to their Influence. Oxford 1993.
Christian Pietsch
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