Metzler Philosophen-Lexikon: Haeckel, Ernst
Geb. 16. 2. 1834 in Potsdam;
gest. 9. 8. 1919 in Jena
Aus naturwissenschaftlicher Sicht kann das 19. Jahrhundert vor allem durch die Entdeckung der Evolution gekennzeichnet werden. Dabei ist es besonders H. zu verdanken, daß die Lehre von der Abstammung der Arten in Deutschland rasch verbreitet und in ihrer Bedeutung erkannt wurde. Sein Einfall war es auch, Tier- und Pflanzengruppen in Form von Stammbäumen anzuordnen. Schon wenige Jahre nach dem Erscheinen von Darwins Hauptwerk weitete H. in seinem wichtigsten Buch über die Generelle Morphologie der Organismen von 1866 die Idee der Evolution in eine neue Grundlagenwissenschaft um, die Phylogenie (Entwicklungsgeschichte der Arten). Er betonte dabei, daß die Biologie eine historische Wissenschaft ist und widersetzte sich den Versuchen, sie der Physik ähnlich zu machen und auf Mathematik zu gründen. Mit Kunstfertigkeit und Phantasie entwarf H. die Stammbäume des Lebens. Und seine zoologischen Studien über Radolarien und Schwämme, mit denen er sich früh einen Namen als Naturforscher gemacht hatte, inspirierten ihn zu einem Buch über die Kunstformen der Natur. In seinem großen Werk von 1866 entwickelte H. auch den Gedanken, der heute am stärksten mit seinem Namen verbunden ist, das sogenannte »Biogenetische Grundgesetz«, demzufolge die Entwicklung eines Individuums die Evolution der Art wiederholt. H. formulierte diesen Parallelismus so: »Die Ontogenesis ist die kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenesis Das organische Individuum wiederholt während des raschen und kurzen Laufes seiner individuellen Entwicklung die wichtigsten von denjenigen Formveränderungen, welche seine Voreltern während des langsamen und langen Laufes ihrer paläontologischen Entwicklung nach den Gesetzen der Vererbung und Anpassung durchlaufen haben.« Die bekannteste Evidenz für die Umwege bei der Ontogenese über Anlagen von stammesgeschichtlichen Vorläufern sind die Kiemen- und Schwanzanlagen des menschlichen Embryos. Der Embryo ist dabei nicht irgendwann ein Fisch, er zeigt nur einige seiner Merkmale. Inzwischen ist klar, daß H.s Idee vor allem als heuristisches Prinzip Bedeutung hat, ansonsten aber so direkt nicht zutrifft. Allerdings bleiben den Biologen auch heute noch die Mechanismen der Entwicklung und ihre Verbindung zur Evolution verborgen. Sie muß durch die Gene hergestellt werden, die H. noch nicht kannte, obwohl sie durch Gregor Mendel zur selben Zeit erstmals beschrieben wurden.
Der Enthusiasmus, mit dem H. sein Grundgesetz um 1870 verbreitete, machte die Rekapitulationstheorie jahrzehntelang populär und erfolgreich. Hörer aus aller Welt kamen zu seinen Vorlesungen nach Jena. Hier hatte H. seit 1865 den Lehrstuhl für Zoologie inne. Seine große Aufmerksamkeit für die Evolution erklärt sich dadurch, daß er mit dieser Konzeption die Möglichkeit sah, die Herkunft des Menschen auf »natürliche« Weise zu erklären. Er führte diesen Gedanken in seinem überaus erfolgreichen Buch Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868) aus, mit dem er vor allem zur universalen Verbreitung des Darwinistischen Gedankens unter den Intellektuellen beitrug. Bei der Darstellung der Evolution kam es ihm vor allem darauf an, die finalistischen Argumente zu widerlegen, die zu ihrer Erklärung vorgebracht wurden. Im Gefolge dieser Argumentation bezog H. allerdings philosophisch mehr und mehr eine »materialistische« Position. In seinem populärsten und vielfach aufgelegten Werk Die Welträthsel von 1899 entwickelte er eine Naturphilosophie, die auf Vorstellungen der Entstehung des Universums aus einer einzigen Ursubstanz und auf dem Prinzip der Entwicklung gründete – und nannte sie Monismus. Vordergründig sollte der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft dienen, tatsächlich aber symbolisiert er, in den Worten Meyer-Abichs, »auf markante Art den Niedergang des philosophischen Denkens in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts«. In dem 1906 von H. gegründeten »Deutschen Monistenbund« entfalteten sich, über den Sozialdarwinismus hinausgehend, rassistische Anschauungen, die in der nationalsozialistischen Ideologie breite Resonanz fanden. – Heute sollte daran erinnert werden, daß die Bezeichnung »Ökologie« auf einen Vorschlag von H. zurückgeht. Schon 1877 hatte er angeregt, daß sich solch eine Wissenschaft mit dem »Naturhaushalt« beschäftigen sollte.
Uschmann, Georg: Hundert Jahre »Generelle Morphologie«. In: Biologische Rundschau (1967). – Altner, Günter: Charles Darwin und Ernst Haeckel. Zürich 1966.
Ernst Peter Fischer
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