Metzler Philosophen-Lexikon: Hamann, Johann Georg
Geb. 27. 8. 1730 in Königsberg;
gest. 21. 6. 1788 in Münster
In der Italienischen Reise schreibt Goethe, als er über seine Lektüre Giambattista Vicos berichtet, es sei »gar schön, wenn ein Volk solch einen Ältervater besitzt; den Deutschen wird einst Hamann ein ähnlicher Kodex werden«. Ein solcher »Ältervater« ist H., den Friedrich Karl von Moser den »Magus im Norden« nannte, nicht geworden. Dabei war seine zeitgenössische Wirkung beträchtlich, jedenfalls bei der jüngeren Generation. Sie war von ihm fasziniert, weil er sich dem »blendenden Zeitgeiste« (Goethe) vehement widersetzte. H. selbst nannte sich »Metacriticus«; 1759 schrieb er an Kant: »Ich bin keiner ihrer Zuhörer, sondern ein Ankläger und Widersprecher.« Die Sokratischen Denkwürdigkeiten (1759) und die Aesthetica in nuce (1762) wurden als Programmschriften der neuen Geniepoetik verstanden. Dies war ein – allerdings produktives – Mißverständnis; Wesentliches wurde dabei übersehen. H. galt als »Vater des Irrationalismus« und als einer der angeblichen »Überwinder« der Aufklärung. Die neuere Forschung hat andere Akzente gesetzt.
An der Universität Königsberg absolvierte H. ein vielfältiges, aber ungeordnetes Studium, war Hofmeister, später Mitarbeiter eines Rigaer Handelshauses. In dessen Auftrag reiste er nach London, wo er eine tiefgehende Veränderung seiner Lebenseinstellung erfuhr. 1767 wurde er Beamter der preußischen Zollverwaltung in Königsberg; er lebte in einer nie legalisierten »Gewissensehe«. 1787 wurde H. pensioniert; er starb während einer Reise in Münster. – Bedeutsam ist H.s überaus aktive Teilnahme am geistigen Geschehen seiner Zeit; er schrieb zahlreiche Rezensionen in Königsberger Zeitungen; der Briefwechsel zeigt seine vielfältigen Beziehungen. Mit Johann Gottfried Herder und später mit Friedrich Heinrich Jacobi war er eng befreundet.
Daß H. nicht zum »Ältervater« der Deutschen wurde, liegt nicht zuletzt an seinem Stil. Gesuchte, oft dunkle Metaphorik, Kombinationen von oftmals entlegenen Zitaten, verschlüsselte Anspielungen auf Bibel, antike und zeitgenössische Autoren lassen seine Schriften hermetisch erscheinen; sie könnten, schrieb Moses Mendelssohn, »nicht anders, als durch einen weitläufigen Commentarius verstanden werden«. Dieses Schreiben ist jedoch nicht genialisches Raunen, vielmehr absichtsvoll herbeigeführte, rhetorisch durchgeformte Stilisierung. Die Wahl dieser Schreibart folgt aus der Absicht, den Leser zu aktivem Mitlesen, zu intellektueller Mitarbeit und affektiver Beteiligung am Geschriebenen zu veranlassen. Denn H.s Schreiben ist Verkündigung; er verstand sich, gerade als Kritiker seiner Zeit, als radikaler Christ. Während des Londoner Aufenthalts 1757 war er in eine tiefe existentielle Krise geraten, in der er die Lektüre der Bibel als persönliche Anrede Gottes erfuhr. Diese Erfahrung – H. nennt sie eine »Höllenfahrt der Selbsterkänntnis« – bestimmte fortan sein Denken. Zuvor bereits in aufgeklärter Tradition schriftstellerisch tätig, versteht er sich jetzt als Zeuge Christi, als »Prediger in der Wüsten«. Diese Veränderung ist jedoch nicht als eine völlige Abkehr von der Aufklärung zu verstehen, viel eher als christlich gewendete Radikalisierung bestimmter Momente insbesondere der sensualistischen Tendenz der europäischen Aufklärung; David Hume war ihm ein wichtiger Anreger. Vor allem zwei Motive leiten H.s Kritik an seiner Zeit: ein christologisch-heilsgeschichtliches Denken, in dem er seine Epoche als gottferne Endzeit begreift, und die Betonung des Konkreten und Individuellen, des ganzen Menschen mit seinen »Sinnen und Leidenschaften«, die H. den Abstraktionen und dem Systemdenken des aufgeklärten Rationalismus entgegensetzt. Solche »genaueste Localität, Individualität und Personalität« bestimmen seine Schriften; sie sind Gelegenheitsschriften, zumeist polemische (auch politische gegen Friedrich II.), von konkreten Anlässen motiviert und auf diese antwortend. Die Polemik zielt immer wieder auf die Selbstermächtigung der rationalistischen Vernunft, die H. als Herrschaftsanspruch erkennt, dabei Einsichten vorwegnehmend, die Horkheimer und Adorno über anderthalb Jahrhunderte später als die Dialektik der Aufklärung formulierten: »Denn was ist die hochgelobte Vernunft mit ihrer Allgemeinheit, Unfehlbarkeit, Überschwenglichkeit, Gewißheit und Evidenz? Ein Ens rationis, ein Ölgötze, dem ein schreyender Aberglaube der Unvernunft göttliche Attribute andichtet« (Konxompax, 1779).
H.s Christsein und seine Schreibart bilden Barrieren, die einer Auseinandersetzung, die mehr sein will als Würdigung seiner historischen Stellung und Wirkung, im Wege stehen. Mit den Fragen jedoch, die H. an seine Zeit richtete, als »Ankläger und Widersprecher« ist er auch heute von Interesse. Im besonderen gilt dies für sein Natur- und Sprachverständnis. Natur ist, auch in kritischer Absetzung von der aufgeklärten Naturwissenschaft, bereits Thema in der Aesthetica in nuce; mit Sprache hat sich H., der sich in einem emphatischen Sinne als Philologe, als Liebhaber des Worts verstand, zeitlebens beschäftigt – dokumentiert in seinen Briefen, in den Schriften, in denen er sich mit Herders Sprachtheorie auseinandersetzte, und in seiner Metakritik (1784) von Kants Kritik der reinen Vernunft. H. versteht Natur als Schöpfung und Anrede Gottes an die Menschen; Wirklichkeit begreift er als vorgegebenes Geschehen, auf das Vernunft, als vernehmendes Vermögen des Menschen, antwortet: »Nicht cogito, ergo sum, sondern umgekehrt, oder noch hebräischer Est; ergo cogito« (in einem Brief an Jacobi). In solchem, von H. durchaus historisch verstandenem In der Welt-Seinˆ des Menschen ist Sprache gleichfalls der Vernunft vorgegeben, und sie ist zugleich welt- und wirklichkeitserschließendes, poetisches Vermögen. Dies ist in dem viel zitierten Satz der Aesthetica gemeint: »Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts.« H. hat den vielfältigen Tendenzen der Moderne zu Trennung und Spezialisierung, Vereinzelung und Entfremdung widersprochen. In vielem erscheint sein Widerspruch heute anachronistisch; als radikaler Kritiker eines Fortschritts, dessen problematische Wirkungen allenthalben sichtbar sind, ist er jedoch weiterhin eine wichtige Stimme.
Bayer, Oswald (Hg.): Johann Georg Hamann. »Der hellste Kopf seiner Zeit«. Tübingen 1998. – Gajek, Bernhard (Hg.): Johann Georg Hamann. Autor und Autorenschaft. Frankfurt am Main u. a. 1996.
Reiner Wild
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