Metzler Philosophen-Lexikon: Herodot
Geb. ca. 484 v. Chr. in Halikarnassos;
gest. ca. 424 v. Chr. in Thurioi (?)
H., der »Vater der Geschichte« (Cicero), ist der Schöpfer der ethisch-narrativen Geschichtsschreibung. Diese Art der Historiographie unterscheidet sich von der pragmatisch-akribischen Geschichtsforschung eines Thukydides durch die Konzentration historischer Ereignisse in einer exemplarischen, lehrhaften Erzählung. Kennzeichnend für H. ist dabei, daß er die berichteten Ereignisse unter das Urteil der Nemesis, der Göttin der ausgleichenden und strafenden Gerechtigkeit, stellt: alle Vorgänge, Gegebenheiten und Handlungen werden bewertet nach der ethischen Norm des Maßes. Daher finden sich in vielen seiner Geschichten Beispiele von Hybris, Frevel und Verblendung sowie die Gestalt des Warners. Dem menschlichen Handeln sind nach H.s Auffassung Grenzen gesetzt durch das Schicksal. Jede Grenzverletzung führt deshalb zu einem frevelhaften Verhalten, das die göttlichen Mächte zum Eingreifen ins menschliche Leben nötigt. Insofern sind Schuld und Sühne häufig die Antriebskräfte geschichtlichen Wirkens. Trotz seiner Skepsis am Anthropomorphismus Homers und an vielen der mitgeteilten Wundergeschichten scheint sich für H. die Faktizität des Schicksals gerade aus der Geschichte zu bestätigen. Ihn bewegte keine Geschichtstheologie, sondern die Einsicht, daß im Leben des Einzelnen wie der Völker das Unverfügbare als unabänderliches, unbegreifliches Schicksal in Erscheinung tritt. Daraus erklären sich zuletzt die wechselvollen Geschichtsverläufe wie die Instabilität des menschlichen Glücks.
Zu Beginn (im »prooímion«) der Historien – diese wurden durch die hellenistischen Philologen in neun Bücher entsprechend der Zahl der Musen eingeteilt – nennt H. die wesentlichen Motive für seine Geschichtsschreibung: »Herodotos von Halikarnassos gibt hier eine Darlegung seiner Erkundungen, damit bei der Nachwelt nicht in Vergessenheit gerate, was unter Menschen einst geschehen ist; auch soll das Andenken an große und wunderbare Taten nicht erlöschen, die die Hellenen und die Barbaren getan haben, besonders aber soll man die Ursache wissen, weshalb sie gegeneinander Kriege führten.« Danach versteht er sein Werk als Erinnerungsarbeit und als Analyse der Kriegsursachen, die er in den kulturellen, religiösen und machtpolitischen Differenzen der Völker erblickt. Daß er dabei mythische und realhistorische Umstände gleicherweise als ursächlich ansieht, belegt schon das erste Buch der Historien, wo als Kriegsursache ein Frevel, nämlich ein Frauenraub, als Erklärung herangezogen wird. Wichtiger als diese problematische Aitiologie sind seine völkerkundlichen und geographischen Mitteilungen, also seine breit angelegten Beschreibungen der Sitten und Gebräuche, der Lebensformen und Institutionen der behandelten Völker, wobei besonders die Nachrichten über die Lyder, die Babylonier, die Skythen und – über diese am ausführlichsten – die Ägypter von Interesse sind (Inhalt der ersten fünf Bücher).
Den Schwerpunkt seines Geschichtswerkes bilden die Kriegszüge der Perser gegen die Griechen mit dem Xerxes-Zug als Finale (480/479 v. Chr.). Für die Perserkriege ist H. bis heute die Hauptquelle geblieben. Während die ersten drei Bücher der Historien keinen einheitlichen Erzählstrang aufweisen, sondern die Welt des Orients und der Hellenen in ganzer Fülle mit Fabulierlust auseinandergelegt wird, konzentriert sich der Stoff in den drei folgenden Büchern auf die Perser sowie auf Athen und Sparta, um schließlich in den Ereignissen von 480/479 v. Chr., der Niederlage der Perser, zu kulminieren. Außer dieser zunehmenden Verdichtung auf den epochalen Gegensatz zwischen Asien und Europa, Barbaren und Hellenen, in dem sich zugleich der Gegensatz von Freiheit und Knechtschaft, von Masse und Individualität niederschlägt, ist für H.s Erzählweise die sog. archaische Ringkomposition charakteristisch: Er geht von einer Person (z.B. Kroisos) oder von einem Ereignis aus und kehrt nach langen Erzählpartien (z.B. die Geschichte des lydischen Königreiches) am Ende wieder zu dem Ausgangspunkt zurück.
Neben einer Anzahl von »lógoi«, in sich abgeschlossenen und selbständigen Erzählungen, verwendet er Sagen, Anekdoten, novellistische Einlagen und Märchen, um dem Geschehen Anschaulichkeit zu verleihen. Ebenso löst er vielfach die Handlung in dramatische Szenen mit Rede und Gegenrede auf. Aus den abgeschlossenen Erzähleinheiten sind eine Reihe von Stücken in die Motivgeschichte der Weltliteratur eingegangen (z.B. Gyges-, Kroisos- oder Polykrates-Episode). Auffällig ist, daß H. die Geschichte Athens und Spartas nicht in einem Zusammenhang erzählt, sondern in Exkursen über das ganze Werk verteilt. Seine proathenische Perspektive – gewonnen aus der Bewunderung für das Perikleische Athen – zeigt sich in diesem formalen Element ebenso wie in seiner Bewertung der Perserkriege als Verteidigung der Freiheit durch die Athener: Der freie Zusammenschluß von Bürgern unter einem Gesetz wie in der attischen »pólis« (Bürgerschaft) erscheint ihm als Ideal gegenüber der persischen Monarchie. Trotz dieser Haltung berichtet er über die Barbaren mit Sachlichkeit, will er ihnen wie den Griechen ein ehrendes Andenken (Kleos) bewahren; er orientiert die Chronologie seines Werkes an der Abfolge der Barbarenkönige (Kroisos, Kyros, Kambyses, Dareios, Xerxes). Schließlich vermeidet er jede Apotheose des Krieges und unterzieht den griechischen Partikularismus der Kritik.
Seine Informationen und Materialien hat H. auf seinen ausgedehnten Reisen gesammelt. Diese führten ihn nach Kleinasien, Syrien, Babylonien, Persien, an die Küste des Schwarzen Meeres, nach Thrakien, Makedonien, nach Ägypten sowie nach Unteritalien und Sizilien. Außerdem hat er die Werke einiger älterer Chronisten und Logographen konsultiert (besonders Hekataios von Milet), Orakelsammlungen und Inschriften ausgewertet und Dichtungen wie die Perser des Aischylos berücksichtigt. Seine Überzeugungen sind von der delphischen Tradition, der sophistischen Staatsauffassung und der Theologie der Tragödie abhängig. Mythische, mündlich-volkstümliche und dokumentarische Überlieferungen behandelte er als gleichberechtigt, wenn auch insgesamt die mündliche Tradition dominiert. Im siebten Buch der Historien schreibt er: »Doch ist meine Pflicht, alles, was ich höre, zu berichten, freilich nicht, alles Berichtete zu glauben. Dies gilt für mein ganzes Geschichtswerk.« Im ersten Buch nennt er sein Werk »Darlegung meiner Erkundungen« (»historia apódeixis«), womit mehr als nur eine Sammlung von Tatsachen gemeint ist, nämlich eine Anordnung des Materials zu einem Zweck. Damit geht H. über seine Vorläufer, die Chronisten, hinaus.
Über die Biographie H.s wissen wir nur wenig: Er stammte von einer karischen Familie ab, war ein Gegner des Tyrannen von Halikarnassos und lebte deshalb für einige Zeit in Samos in der Verbannung. In Athen gewann er die Freundschaft des Sophokles; später (444 v. Chr.) nahm er an der athenischen Gründung von Thurioi in Unteritalien teil, wo er wohl gestorben ist. Seine Wirkung in der Antike reichte von Anspielungen bei Aristophanes und Kommentaren zu seinem Werk durch die Alexandriner bis zur methodischen Kritik des Thukydides und den Streitschriften gegen seine Geschichtsdarstellung (Plutarch).
Schulte-Altedorneburg, Jörg: Geschichtliches Handeln und tragisches Scheitern. Herodots Konzept historiographischer Mimesis. Frankfurt am Main u.a. 2001. – Bichler, Reinhold: Herodots Welt. Der Aufbau der Historie am Bild der fremden Länder und Völker, ihrer Zivilisation und ihrer Geschichte. Berlin 2000. – Marg, Walter (Hg.): Herodot. Eine Auswahl aus der neueren Forschung. Darmstadt 31982. – Pohlenz, Max: Herodot, der erste Geschichtsschreiber des Abendlands. Neue Wege zur Antike 2, 7/8 (1937).
Helmut Bachmaier
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