Metzler Philosophen-Lexikon: Kepler, Johannes
Geb. 27. 12. 1571 in Weil der Stadt;
gest. 15. 11. 1630 in Regensburg
»Ich kam also vorzeitig zur Welt, mit zweiunddreißig Wochen, nach 224 Tagen, zehn Stunden«, notiert der 26jährige K. im Familienhoroskop. Sein Leben beginnt unter denkbar schlechten Voraussetzungen. Der Vater Heinrich ist ein »bösartiger, unnachgiebiger, streitsüchtiger« Mann, K.s Mutter Katharina »klatschsüchtig und zänkisch, von schlechter Veranlagung«. K. ist nicht nur kurzsichtig, sondern leidet zusätzlich unter Mehrfachsehen, hat ständig mit Geschwüren, Fieberanfällen und Ausschlägen zu kämpfen. So verurteilt er auch seinen eigenen Charakter: »Dieser Mensch hat in jeder Hinsicht eine hundeähnliche Natur.« Aber K. ist hochbegabt. Nach der Lateinschule in Adelberg und Maulbronn studiert er am Tübinger Stift Theologie, um Geistlicher zu werden. Als man ihm noch vor seinen Abschlußprüfungen eine Stelle als Professor für Mathematik in Graz anbietet, nimmt er an.
Am 19. Juli 1595 – K. hat das Datum notiert – erfaßt ihn ein Gedanke, den er als die entscheidende Entdeckung seines Lebens betrachtet: Das Universum ist aus regelmäßigen geometrischen Körpern aufgebaut. Die Vision, daß sich den Planetenbahnen genau die vollkommenenˆ Vielflächner Tetraeder, Kubus, Oktaeder, Dodekaeder und Ikosaeder einschreiben ließen, führt er in seinem ersten Buch Mysterium Cosmographicum (1596) aus. Sie bestimmt fortan sein Denken und bildet das zentrale Motiv seiner Astronomie. Das Buch findet geteilte Aufnahme, aber ein Mann erkennt hinter den mystischen Spekulationen K.s naturwissenschaftliches Genie: Tycho Brahe. Als sich K. am 1. Januar 1600 auf den Weg nach Prag macht, um den kaiserlichen Hofmathematiker aufzusuchen, weiß er, daß Brahe die präzisen astronomischen Beobachtungsdaten besitzt, die er als Gerüst für sein Modell des Kosmos benötigt. In der Nachfolge Brahes, der 1601 stirbt, bleibt K. bis zum Tod Rudolfs II. in Prag. Dort entstehen die Dioptrik (1611), die ihn zum Begründer der modernen Optik macht, und auf der Basis des noch umstrittenen kopernikanischen Weltbildes und der Braheschen Daten die Astronomia Nova (1609). Diese enthält die ersten beiden der K.schen Gesetze: Die Planeten bewegen sich in Ellipsen und nicht in Kreisen; und Planeten bewegen sich nicht mit gleichförmiger Geschwindigkeit, sondern so, daß eine gedachte Gerade vom Planeten zur Sonne in gleicher Zeit gleiche Flächen bestreicht. Wie Galilei, mit dem K. vergebens in engeren Kontakt zu kommen sucht, betrachtet er die mathematisch gedeutete Empirie als Schlüssel zur Wirklichkeit, aber im Unterschied zu Galilei versucht er die quantifizierte Welt in der Tradition des Mittelalters theologisch zu durchdringen. Im Mittelpunkt seines Denkens steht der Entwurf eines geordneten Kosmos, dem er seine revolutionären naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zuordnet. Newton muß das 3. K.sche Gesetz – die Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten verhalten sich wie die Kuben ihrer mittleren Entfernung von der Sonne – im gewaltigen Gedankengebäude der Harmonices Mundi (1619) überhaupt erst ausfindig machen, wo es in einer umfassenden Zusammenschau von Geometrie, Astronomie, Astrologie, Theologie und Erkenntnistheorie unterzugehen drohte. K. ist von der Überzeugung durchdrungen, daß die Grundstruktur der Welt harmonisch ist und auf Gott verweist: »Lobpreiset ihn, ihr himmlischen Harmonien, lobpreist ihn alle, die ihr Zeugen der nun entdeckten Harmonien seid. Lobpreise auch du, meine Seele, den Herrn, deinen Schöpfer, solange ich sein werde. Denn aus ihm und durch ihn und in ihm ist alles.« Am Beginn der modernen Naturwissenschaft, deren rasante Entwicklung zu mechanistischer Weltsicht und der Trennung von Erkenntnistheorie und Ethik führen wird, steht ein Mann, der die Einheit der Welt, die Einheit der Wissenschaft und die Übereinstimmung des Menschen mit den Ordnungen des Kosmos denkt. Die Harmonices Mundi sind der letzte Weltentwurf, der die Empirie in ein Gesamtverständnis von Gott, Mensch und Welt einbindet. Die Fakten müssen stimmen, deshalb K.s langwierige Berechnungen, aber sie besitzen keinen Wert an sich. Ihr Wert besteht darin, in mathematischer Darstellung die Vollkommenheit des Universums zu demonstrieren.
Doch in seinem Traum von einer Welt, in der Musik und Mathematik die höchsten Werte sind, verliert K. nicht den Blick für die bitteren Realitäten der Zeit. Er verteidigt seine Mutter in einem gegen sie angestrengten Hexenprozeß so hartnäkkig bis zu ihrem Freispruch, daß in den Prozeßakten der verräterische Vermerk zu finden ist: »Die Verhaftin erscheint leider mit Beistand ihres Herrn Sohns, Johann Keplers Mathematici.« Den Religionswirren, die schließlich in den Dreißigjährigen Krieg münden, steht K. verständnislos gegenüber. Auf der einen Seite von der württembergischen Kirche exkommuniziert, weil er die gegen die Calvinisten gerichtete Konkordienformel nicht unterschreibt, auf der anderen Seite als Lutheraner Opfer gegenreformatorischer Maßnahmen, versucht K. seiner Überzeugung treu zu bleiben: »Es tut mir im Herzen wehe, daß die drei großen Factiones die Wahrheit unter sich also elendiglich zerrissen haben, daß ich sie stückweise zusammensuchen muß, wo ich deren ein Stück finde.« Trotz des Krieges ständig unterwegs, um Geld einzutreiben und die Drucklegung seiner Bücher zu organisieren, zuletzt im Dienste Wallensteins, dem er das Horoskop stellt, ist K. auf einer Reise in Regensburg gestorben.
Ferguson, Kitty: Tycho & Kepler. London 2002. – Lemcke, Mechthild: Johannes Kepler. Reinbek 1994. – Koestler, Arthur: Die Nachtwandler. Die Entstehungsgeschichte unserer Welterkenntnis. Bern/Stuttgart/Wien 1959.
Matthias Wörther
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