Metzler Philosophen-Lexikon: Klossowski, Pierre
Geb. 9. 8. 1905 in Paris;
gest. 12. 8. 2001 in Paris
Die Seele der Heiligen Theresa von Avila bemächtigt sich zu ihrer Reinkarnation des Körpers eines jungen androgynen Lustknaben, an dessen Körperausscheidungen sich eine Hummel gütlich tut, welche die Seele des Großmeisters (d.h. des Stellvertreters Gottes) des Templerordens in sich aufgenommen hat, dessen Widersacher Nietzsche sich wiederum in die Gestalt eines Ameisenbären geflüchtet hat. – K., Sohn einer aus Polen stammenden Familie, Bruder des Malers Balthus K., lernt in seiner Jugend Rilke und Gide kennen, absolviert seinen Militärdienst, übersetzt zusammen mit Pierre Jouve Hölderlin und findet schließlich in Georges Bataille sein großes literarisches Vorbild. 1934 tritt er in den Dominikanerorden ein, eine Episode, die er 1947 mit der Veröffentlichung seines atheistischen Credo Sade, mon prochain endgültig abschließt.
Die literarische Umsetzung seiner Nietzsche-Interpretation legte K. bereits vor ihrer theoretischen Ausformulierung in der Roman-Trilogie Les Lois de l Hospitalité (1965; Die Gesetze der Gastfreundschaft) vor. Der Band vereinigt drei Texte, die zuvor einzeln erschienen waren: Roberte ce soir (1954; Heute abend, Roberte), La Révocation de l édit de Nantes (1959; Der Widerruf des Edikts von Nantes), Le Souffleur ou Le Théâtre de société (1960; Der Souffleur oder Theater in geschlossener Gesellschaft). Alle drei Texte kreisen um die Figur der Roberte und ihre verschiedenen Identitäten. Der Ehemann Octave unterwirft sie den Gesetzen der Gastfreundschaft, d.h. sie muß den Gästen – z.B. einem Riesen und einem Zwerg – und ihren (vor allem sexuellen) Wünschen vollständig gehorchen. Octave glaubt, auf diese Weise die Persönlichkeit Robertes in all ihrer Vielfalt ausleuchten zu können. Die Unternehmungen führen jedoch zu einer letztlichen Auflösung der Identität, ja der Realität überhaupt. Es kommt zu Zweifeln, ob Roberte wirklich Roberte ist, ob wirklich Octave ihr Gatte ist oder nicht vielmehr der Schriftsteller Théodore Lacase, der ein Buch mit dem Titel »Roberte ce soir« verfaßt hat und eigentlich K.ˆ (= Klossowski?) ist. Die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen (vgl. schon K.s ersten Roman La Vocation suspendue, 1950); die Figuren spielen sich selbst in Theateraufführungen oder in szenisch nachgestellten erotischen Bildern oder Filmen, die sie ihrerseits selbst abbilden und auch selbst betrachten. In diesem Spiel mit sexuellen Abenteuern, philosophischen Vorträgen, eingelegten Dramenfragmenten usw. offenbart sich, vielleicht deutlicher noch als in seiner Schrift über den Circulus vitiosus, die eigentliche Neuinterpretation von Nietzsches Gedanken der Ewigen Wiederkehr. Anders als bei Nietzsche kehrt bei K. nicht das Gleiche wieder; die Nicht-Identität der Existenz manifestiert sich – gleichsam potenziert – darin, daß sie ständig das Andere in sich aufnimmt. Die eigene Vergangenheit als Rest einer möglichen Identifikationsbasis wird dem Ich entrissen, es bleibt lediglich formal als Leerstelle bestehen, als »Vakanz des Ichs«. Immer neue Gedanken, Worte oder Blicke erfüllen diese Leerstelle Ich und lassen sie zu einer unendlichen Metamorphose der Außenwelt werden: »Ich kann mich bei jedem Wort fragen, ob ich denke oder ob andere in mir oder für mich denken oder mich denken, oder auch denken, bevor ich selbst wirklich denke, was sie denken.«
Die o. g. zentrale Szene seines Schlüsselromans Le Baphomet (1965) umschreibt auf metaphorischer Ebene das entscheidende Problem des Denkens von K.: Identität bzw. Nichtidentität des Ichs mit sich selbst. Und auch sein geistiger Vater taucht in dieser Szene auf: Friedrich Nietzsche und ganz besonders dessen Theorem von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen (vgl. Nietzsche et le Cercle vicieux, 1969; Nietzsche und der Circulus vitiosus deus). Was bei K. die Faszination Nietzsches ausmacht – er übersetzte 1954 dessen Fröhliche Wissenschaft – sind indessen nicht allein seine philosophischen Aussagen, es ist vor allem sein Leben, ja K. beschreibt in mehreren Arbeiten Nietzsches gesamtes philosophisches Denkgebäude als »Variationen über ein persönliches Thema«. Für K. ist die Lehre von der Ewigen Wiederkehr nicht in erster Linie eine theoretische Erkenntnis, sondern vielmehr eine pseudo-religiöse Offenbarungserfahrung des Menschen Nietzsche, die einer existentiellen Stimmung, einer »Intensitätsfluktuation« entspringt. Diese gewissermaßen unlehrbare Lehre zielt nicht primär auf das theoretische Denken des Rezipienten, sondern auf seine praktische Existenz, deren Identität sie radikal in Frage stellt, indem sie unablässig bewußt macht, »daß ich anders war, als ich jetzt bin«. Zugleich mit dieser Negation der Identität des Ichs negiert K. auch die Existenz des Garanten dieser Identität, die Existenz Gottes; auch hier folgt er Nietzsche und seiner Proklamation vom Tod Gottes, wobei er diese Erkenntnis und ihre praktischen Konsequenzen bereits bei Sade findet (Sade, mon prochain): »Der Akzent (d. i. des Tods Gottesˆ) muß auf den Verlust der gegebenen Identität gelegt werden. Der Tod Gottes öffnet der Seele all die möglichen Identitäten Die Offenbarung der Ewigen Wiederkunft bringt notwendig die sukzessive Realisierung aller möglichen Identitäten mit sich.«
In einer populären neueren Literaturgeschichte wird K. als »romancier du fantasme« definiert; diese Charakterisierung bezeichnet in der Tat formelhaft den Kern seines philosophischen und schriftstellerischen Schaffens: Auflösung der Realität und des Ich, an deren Stelle ein an Georges Bataille und dem Surrealismus geschultes literarisches Universum einer phantastischen Welt tritt, in der Gott zwar tot ist, die aber auch ihren Gott anbetet: An die Stelle der Identität tritt die reine Intensität der (meist sexuellen) Ekstase, der unverbunden nebeneinander stehenden Augenblicke, die nun die Stelle von Nietzsches kontinuierlicher Wiederholung des immer Gleichen einnehmen. Die endgültige Auflösung des Ichs bedeutet in K.s Denken die höchste Form des Willens zur Macht und ist die »glanzvolle Trophäe« (Gilles Deleuze) der Existenz.
Kaufman, Eleonor: The Delirium of Praise. Baltimore 2001. – Durham, Scott Philip: The Poetics of Simulation. Yale 1993. – Arnaud, Alain: Pierre Klossowski. Paris 1990. – Madou, Jean-Paul: Démons et simulacres dans l’œuvre de Pierre Klossowski. Paris 1987. – Pfersmann, Andreas: L’Expérience du discontinu. Pierre Klossowski et la modernité. Paris 1985. – Deleuze, Gilles: Pierre Klossowski ou Les corps-langages. In: Critique 21 (1965), S. 199–219.
Ulrich Prill
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