Metzler Philosophen-Lexikon: Labriola, Antonio
Geb. 2. 7. 1843 in Cassino;
gest. 2. 2. 1904 in Rom
In der Geschichte des Sozialismus traf und trifft L. auf interessiertes Vergessen; noch immer liegen große Teile seines Werks und sein Briefwechsel in deutscher Sprache nicht vor, und die Beschäftigung mit L. hat den Charakter des Nachrufs. Die Vossische Zeitung beklagte 1904 den Verlust eines »der eifrigsten und kenntnisreichsten Vermittler deutschen Geistes zwischen Deutschland und Italien«, und Franz Mehring schrieb in Die Neue Zeit: »In seinem Geist war innere Verwandtschaft mit dem Geiste eines Marx und eines Engels Selbst wenn es eine marxistische Orthodoxie gäbe, wie es sie nicht gibt, so wäre Labriola nie ihr Anhänger geworden. Er wußte den historischen Materialismus, der ihm die Quintessenz des wissenschaftlichen Sozialismus war, mit schöpferischer Kraft zu handhaben.«
L. ist einer der großen Intellektuellen des europäischen Sozialismus, Übersetzer wissenschaftlicher und ästhetischer Kulturen in die Sprache eines originären Marxismus italienischer Prägung, vor und mit Antonio Gramsci Begründer der Theorie der Arbeiterbewegung als »Philosophie der Praxis« und als »kritischer Kommunismus«. Im Bewußtsein »Verstehen heißt Überwinden« und »Überwinden heißt auch Verstanden haben« hat L. in der Epoche des italienischen risorgimento, der nationalstaatlichen Einigung, der Industrialisierung und der Entstehung der Arbeiterbewegung eine Theorie der »Gesamtheit aller Verhältnisse des sozialen Lebens« programmatisch entworfen, in der er vor allem das Denken Giambattista Vicos, den spezifisch neapolitanischen Hegelianismus Spaventas, Spinoza und die klassische deutsche Philosophie Kants und Hegels zu integrieren wußte. Große Bedeutung hatten für ihn zugleich die Sprachphilosophie und die Psychologie: »Vielleicht – und sogar sicherlich – bin ich auf Grund meiner rigoros hegelianischen Erziehung und erst nachdem ich durch die Herbartsche Psychologie und die Steinthalsche Völkerpsychologie sowie andere gewandelt bin, um 1879/80ˆ Kommunist geworden.« Psychologie und Sozialpsychologie wurden für L. zu Schlüsseln zur Erklärung von komplexen sozialen, politischen und kulturellen Erscheinungen der industriellen Revolution.
Wegmarken von L.s intellektueller Entwicklung sind die kritische Aneignung des philosophischen Erbes und ein Denken in polemischer Auseinandersetzung mit Strömungen des Zeitgeistes, in denen L. die Preisgabe unabgegoltener Momente der Tradition und die Gefährdung ethischpolitischer Rationalität sieht. Bereits 1862 eröffnet er eine der für ihn zeitlebens wichtigen Fronten: Mit Una risposta alle prolusione di Zeller verbindet er sein Interesse an der Erkenntnistheorie mit der Polemik gegen die Kant-Revision des »Zurück zu Kant«, gegen Neukantianismus und Positivismus. Arbeiten, die er während seiner Tätigkeit als Lehrer veröffentlicht – wie Origine e natura delle passioni secondo l Etica di Spinoza (1866), La dottrina di Socrate secondo Senofonte, Platone ed Aristotele (Dissertation, 1871) – und der berufliche Anfang als Hochschullehrer in Neapel mit einer Esposizione critica della dottrina di G.B. Vico (1871) belegen, wie das nun verstärkte Interesse an Herbarth und der Völkerpsychologie und die ersten Veröffentlichungen nach dem Ruf an die Universität Rom 1874, die antipositivistische Richtung: L.s Denken zielt auf die Totalität der Geschichte.
Einem Zwischenspiel des Eintretens für die politische Rechte 1874 folgen radikaldemokratisches Engagement und – eine erste Näherung an die Arbeiterbewegung – 1876 Vorlesungen im römischen Arbeiterbildungsverein. Die Ideen seiner Freiheitsschrift Il concetto della libertà (1878) verbinden sich mit volksaufklärerischen pädagogischen Interessen, die ihn 1879 zum Studium des Erziehungssystems erstmals nach Deutschland führen. Im Rückblick hält L. fest: »Zwischen 1879–80 war ich fast schon entschieden in der sozialistischen Auffassung; doch immer mehr aus allgemeiner Geschichtsauffassung als aus innerem Drange einer persönlich tätigen Überzeugung.« Seine intellektuelle Biographie wird in den späten 80er und in den 90er Jahren zum Spiegel eines allgemeinen Prozesses: Der wissenschaftliche Sozialismus der II. Internationale erwächst aus der Allianz zwischen Intellektuellen bürgerlicher sozialer und kultureller Herkunft und der sozialistischen Bewegung, in deren Entfaltung auch L. in erster Linie philosophisch-theoretisch eingreift. Sein Vortrag vom 20. 6. 1889, Del socialismo, leitet die Wende zum organisierten Marxismus ein, der der Bruch mit den Anarchisten und der Radikaldemokratie vorausgeht. Die Verfassung des italienischen Sozialismus – er ist »bis auf wenige Ausnahmen entweder unklarer Republikanismus oder lauter Anarchismus« – und der dialektischen Theorie – »Um dasselbe zu sagen, muß ich hier in Italien statt von der dialektischen von der genetischen Methode sprechen« – läßt L. Anschluß an die deutsche marxistische Sozialdemokratie suchen; mit Ausnahme von Engels (Briefwechsel 1890 bis 1895) stößt L. freilich auf das Befremden unerwiderter Nähe. Dies ergibt sich zum einen aus dem Verfall der Hegelschen Dialektik-Tradition in Deutschland; Sätze wie: »Der wissenschaftliche Sozialismus ist nicht mehr die auf die Dinge angewandte subjektive Kritik, sondern die Entdeckung der Selbstkritik, die in den Dingen liegt«, haben im sozialdarwinistisch und positivistisch verfremdeten kautskyanischen Sozialismus kein Echo; zum andern aus dem Vordringen der Tendenz, die Geschichte nach dem Modell der Darwinschen Evolutionsbiologie zu begreifen. L.s historizistische Übersetzung des Marxismus wird zum extremen Gegenpol des darwinistischen »Sozialismus«, den in der II. Internationale mit größerem Erfolg Enrico Ferri (Socialismus und moderne Wissenschaft, 1895) propagiert; mit der Ablösung durch Ferri endet L.s Beziehung zum deutschen Sozialismus. Der mehrheitlich nun kaum mehr widersprochenen These Ferris, es sei der »Marxistische Socialismus eine Weiterführung der naturwissenschaftlichen Denkweise«, hat L. das die Nähe zu den Wissenschaften nicht preisgebende und der Priorität der »Philosophie der Praxis« nicht entgegenstehende – zugleich antipositivistische wie anti- reduktionistische und antiökonomistische – Programm entgegengesetzt, man müsse die Geschichte »mit denselben Augen ansehen wie die Natur, aber berücksichtigen, daß der Mensch der Schöpfer der Geschichte ist«. Der »Kommunismus« ist in diesem Sinne »eine Wissenschaft« sui generis, befreit von den spekulativen Abstraktionen der Metaphysik wie von der empiristischen Fixierung auf den Status quo der »Tatsachen« der bürgerlichen Gesellschaft.
L. hat der Wissenschaft, der demokratischen Entwicklung und der Arbeiterbewegung ein in seinen hegelianisierenden Tendenzen problematisches, in seiner Natur und Geschichte im Konzept der Dialektik übergreifenden Theorie ein wegweisendes und aktuelles Werk aufgegeben. Sein Veto gegen einen objektivistischen Determinismus, zugleich gegen den anarchosyndikalistischen Aktionismus Georges Sorels, sein Plädoyer für ein historisches Begreifen der Bedingungen demokratischer sozialistischer Hegemonie und gegen eine ökonomistische Verzerrung der Beziehung zwischen »Basis- und Überbaustrukturen« – sie sind in seinen in deutscher Sprache vorliegenden Schriften Zum Gedächtnis des Kommunistischen Manifests (1895), Über den historischen Materialismus (1896), Sozialismus und Philosophie. Briefe an G. Sorel (1898) als Quintessenz eines kritischen Kommunismus und als Erwartung ausgesprochen, »daß der Marxismus ohne Krise des Marxismus fortgeführt werden kann«. Kaum ein anderer Theoretiker des Sozialismus hat wie L. Zeugnis davon abgelegt, daß die Theorie ihr Ziel verfehlt, wenn sie »ein Plagiat dessen ist, was sie expliziert«; ihr Ziel ist Erklärung der Geschichte als Erklärung möglicher humaner Zukunft.
Labriola. D’un siècle à l’autre. Sous la direction de G. Labica et J. Texier. Paris 1988. – Centi, B.: Antonio Labriola. Dalla Filosofia di Herbarth al materialismo storico. Bari 1984. – Nikititsch, L.: Antonio Labriola. Biographie eines italienischen Revolutionärs. Berlin 1983.
Hans Jörg Sandkühler
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