Metzler Philosophen-Lexikon: Lévinas, Emmanuel
Geb. 12. 1. 1906 in Kaunas (Litauen);
gest. 25. 12. 1995 in Paris
Wenn es seit einiger Zeit innerhalb der späten Philosophie des 20. Jahrhunderts eine Bewegung gibt, jüdische Inhalte, jüdische Begriffe und jüdische Paradoxa in die sonst weitgehend anders geprägte philosophische Tradition einzuführen, und wenn diese Bewegung so etwas wie eine Mode zu werden beginnt, dann gehört der jüdische Philosoph L. in diese Mode jedenfalls nicht hinein. Er liegt ihr voraus und er befindet sich jenseits ihrer. Die gedankliche und sprachliche Anstrengung, die sein Werk auf jeder Seite, in jedem Satz, in jedem Atemzug charakterisiert, ist nicht die eines voraussehbaren Ganges, sie ist die des Ausbrechens, des Zerreißens eingeübter, eingefleischter Gedanken, die freilich immer mehr sind als Gedanken: Gedachtes, das sich sedimentiert, abgelagert hat und auf dem Grunde alles dann wieder zu Denkenden liegt und es bestimmt. Daraus also ist dies Denken ein ständiger und ständig schmerzlicher Auszug.
L. schrieb in französischer Sprache. Er ist jedoch – in Litauen geboren – im Russischen und Hebräischen aufgewachsen, wie er selbst sagte: mit der hebräischen Bibel, mit Puschkin und Tolstoi. Er studierte seit 1923 in Straßburg, ab 1930 in Paris, dazwischen (1928–1929) in Freiburg im Breisgau bei Husserl und Heidegger, der im Wintersemester 1928/29 die Nachfolge Husserls antrat. Im Zweiten Weltkrieg während mehrerer Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft, schwor sich L., deutschen Boden nie mehr zu betreten, und er hat diesen Schwur gehalten. Die Shoah – über alle Erfahrung gehende und doch erfahrene Erfahrung des Unmenschlichen, Gegenmenschlichen – ist die unablässige Unruhe seines Denkens. Es ist geschult an der Husserlschen Phänomenologie, auf die es ständig Bezug nimmt, es ist beeindruckt durch Heideggers Denken und doch durch eine äußerste, immer wieder neu hergestellte Distanz von ihm getrennt; eine Abstandnahme, die der gesamten abendländischen Ontologie seit Parmenides gilt. Dennoch steht L. auch selber in der Tradition dieses Philosophierens, die er zugleich kritisch und positiv aufnimmt und in unermüdlicher Weise uminterpretiert (wie etwa den Gedanken des »Jenseits des Seins« bei Platon oder die »Idee des Unendlichen in uns« bei Descartes). Aber diese Tradition ist nicht seine einzige. Nicht weniger bedeutend ist für L. die jüdische Überlieferung: der Bibel und des Talmud – und die Geschichte des jüdischen Volkes. Das L.sche Denken ist der Punkt des bewußten Zusammentreffens dieser beiden Traditionen. Es gab vor L. solche Punkte der Begegnung: Maimonides, Moses Mendelssohn, Franz Rosenzweig. Gerade letzterer ist an entscheidender Stelle zu nennen – und von L. auch genannt, wenn es darum geht, den Umkreis zu bezeichnen, in den sein Denken gehört. L.’ Wahlheimat wurde Frankreich. Hier hat er gelebt und gelehrt: Seit 1947 als Direktor der »École Normale Israélite Orientale«, seit 1961 als Professor für Philosophie zunächst in Poitiers, dann in Paris-Nanterre und zwischen 1973 und 1976 an der Sorbonne.
Die Werke L.’ lassen sich in zwei Gruppen gliedern: einerseits die sich ausdrücklich als philosophisch verstehenden Werke und andererseits die seit 1957 von L. mündlich vorgetragenen Talmudinterpretationen und weitere Arbeiten zu »Themen« des Judentums. Zur ersten Gruppe gehören (in Auswahl): La théorie de l intuition dans la phénoménologie de Husserl (1930; De l existence à l existant, 1947, erweitert 1967), deutsche Teilübersetzung: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie (1983), Le temps et l autre (1948; Die Zeit und der Andere, 1984), Totalité et infini. Essai sur l extériorité (1961; Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, 1987), Humanisme de l autre homme (1973; Humanismus des anderen Menschen, 1989), Autrement qu être, ou au-delà de l essence (1974; Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 1991), De Dieu qui vient à l idée (1982; Wenn Gott ins Denken einfällt, 1985). Zur zweiten Gruppe gehören (wiederum in Auswahl): Difficile liberté. Essais sur le judaïsme (1963, erweitert 1976; Schwierige Freiheit. Versuche über das Judentum, 1992), Quatre lectures talmudiques (1968; Vier Talmud-Lesungen, 1993), Du sacré au saint. Cinq nouvelles lectures talmudiques (1977), Lau-delà du verset (1982). – Eine genauere Verhältnisbestimmung dieser beiden Typen von Arbeiten zueinander – nicht nur was einzelne Themen angeht (wie das des Antlitzes, der Nächstenliebe, des Fremden, der Gastlichkeit, des Gebots, des Gottesnamens usw.), auch nicht nur was allgemein das Verhältnis philosophischen Denkens zur nichtoder vorphilosophischen Erfahrung betrifft, sondern ebenso was L.’ Denkbewegung und Sprachstil ausmacht – wird zu den entscheidenden Aufgaben einer künftigen L.-forschung gehören.
Man hat in bezug auf die philosophische Entwicklung L.’ im Anschluß an einen seiner wichtigsten Interpreten, Stephen Strasser, drei Phasen unterschieden: eine erste, die die frühen Werke umfaßt bis ausschließlich Totalität und Unendlichkeit, eine zweite, die eben in Totalität und Unendlichkeit ihr Hauptwerk hat, und eine dritte Phase, die durch das zweite Hauptwerk Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht und die es vorbereitenden bzw. auf es folgenden Aufsätze gebildet wird. L. selbst hebt hervor, wie Jenseits des Seins sich von Totalität und Unendlichkeit dadurch unterscheidet, daß es sich von der Sprache der klassischen Ontologie, der Totaliät und Unendlichkeit noch verhaftet blieb, so sehr es doch gegen diese andachte, gelöst habe. Dieses Unternehmen der Loslösung, der Vermeidung traditioneller ontologischer Begrifflichkeit macht die ungewöhnliche Sprach- und Denkform der späten Texte von L. aus, die sich im Titel Autrement qu être ou au-delà de l essence bereits ankündigt und ganz auf ihre Weise konzentriert.
Trotz der deutlich erkennbaren Fortentwicklung des L.schen Denkens ist ein Grundanliegen von den frühesten Werken bis zu den spätesten deutlich erkennbar, ein Anliegen, das immer präziser – gerade in einer immer gewagteren Sprache immer präziser, seiner eigenen Konsequenzen und Implikationen immer bewußter – zur Formulierung gelangt. Dies Grundanliegen besteht darin, die Bedeutung des Anderen zu denken. Die Begegnung mit dem Anderen geht in einer »anarchischen«, nicht nur ursprünglichen, sondern »vor-ursprünglichen«, dementsprechend das formal-logische Denken fundamental in Frage stellenden Weise meinem Welt- und Selbstverhältnis voraus. Sie ereignet sich als »Beziehung« (L. selber setzt dies Wort in Anführungszeichen) einer unaufhebbaren, uneinlösbaren Asymmetrie zwischen dem Anderen und mir. »Beziehung«, in der der Andere mir immer zuvorkommt, mir immer überlegen ist einfach in seiner »Ander-heit«, mich anruft und angeht – und so mich überhaupt erst zu einem Ich macht: »me voici«, »hier bin ich»: ich zunächst als »mich«, als Akkusativ, als Angeklagter vor der Anderheit des Anderen, die Armut und Erhabenheit ineins ist und die in ihrer Anderheit radikal unvergleichlich ist und immer mehr Anderheit wird.
Diesen Gedanken profiliert L. gegenüber der philosophischen Tradition, vornehmlich gegenüber jenen Denkern, denen er besonders nahe ist: Husserl und Heidegger. Er zeigt auf, wie die Husserlsche »Intentionalität«, wie die Relation von »Noesis und Noema«, ebenso wie die Heideggersche Fundamentalontologie (das »Dasein, dem es in seinem Sein um dies Sein selbst geht«, »die Sorge«, das »Mit-Sein«; aber auch der Seinsbegriff des späten Heidegger) den Anderen seiner Andersheit berauben und darum umgekehrt von der tatsächlichen Erfahrung des Anderen in Frage gestellt werden. Diese Infragestellung betrifft die abendländische Ontologie in grundsätzlicher Weise. Gegen sie versucht L., die Ethik als Prima philosophia zu denken; wie er selbst sein philosophisches Anliegen zusammenfaßt: Ethik, die der Ontologie vorausgeht. Die Begegnung mit dem Anderen, der mich in eine nicht endende Verantwortung herausruft, in der ich immer schuldig bin – und je mehr ich mich meiner Verantwortung stelle, immer schuldiger werde –, ist nicht ein Spezialfall von Beziehung, von Verhältnis zur Welt, sie ist jener Grundfall eines Verhältnisses, von dem alle andern Verhältnisse: zu mir selbst, zur Welt, zu den Gegenständen in der Welt, zur Gesellschaft immer nur abgeleitet, dem gegenüber sie nachträglich sind.
Das philosophische Denken, das sich traditionell im Bereich dieser Nachträglichkeit bewegte, hat nun die Aufgabe, jene Erfahrung zu ent-dekken, zu ihr zurückzuführen, die früher und uneinholbar anders ist als das »Sein des Seienden«, aber auch als das »Ereignis des Seins«, von dem der späte Heidegger spricht, nämlich eben: »jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht«. Dies »jenseits des Seins« meint nicht nur eine andere (vielleicht bisher nicht berücksichtigte) Seinsweise eines Seienden, es meint nicht nur als Alternative zum Sein das Nicht-Sein, es meint gegenüber der Alternative von Sein und Nicht-Sein ein Drittes, das diese Alternative schlechthin transzendiert. Was ist dies? Was kann es geben jenseits von Sein und Nicht-Sein? Dies Transzendierende, die Transzendenz schlechthin, ist nach L. das Antlitz oder auch das Bedeuten, die Spur, die Sprache.
Das Begegnen des Anderen (in seiner Hilflosigkeit, Nacktheit und Erhabenheit), sein Bedeuten, das gar nicht etwas Bestimmtes bedeutet, nur das Begegnen, das Bedeuten selber, sein Mich-Anrufen (ohne Worte und ohne Verfolgen eines Ziels oder Zwecks), sein Zerreißen meiner Gegenwart als Eröffnung von Zeit, seine Nähe in einer zugleich unüberbrückbaren, grundsätzlichen »Trennung« – das ist nach L. Sprache. »Dire«, Sagen vor allem Gesagten. Alles Gesagte (»dit«), aller einzelne Ausdruck: Sprache als Kommunikation, Grammatik, Wortschatz, als Mitteilung usw. ist immer nur Aktualisierung – und auch schon Desavouierung – des (demgegenüber) immer ursprünglicheren Sagens. Aber dies »immer ursprünglicher« ist eben nicht nur ursprünglicher, es ist vor-ursprünglich: es ist vor Allem, uneinholbar in seinem Vor, und unbeantwortbar in jeder immer neu gegebenen und zu gebenden Antwort. – Antwort, die ich selber bin. Antwort auf ein Bedeuten jenseits von Sinn; Gegenüber – einem Antlitz.
Die Begegnung mit dem Anderen begreift L. als Ereignis. Es ist nicht ableitbar – weder aus dem Horizont eines Weltverständnisses noch aus dem Gang der Geschichte (in der wir immer schon stehen, die uns immer schon bedingt); es ist im Gegenteil die Transzendenz, die einbricht in diese Geschichte: die Sprengung der logischen, ontologischen, aber auch historischen Ganzheit – und als solche Möglichkeit eines Urteils über die Geschichte jenseits ihres Ausgangs. Idee des Guten und der Güte verstanden als Ethik, als Herausgerufensein, als Einsetzung in die Freiheit, für den anderen zu sein. »Investitur«, wie L. sagt, Bekleidung mit der Freiheitˆ – bis hin zum Geisel-Sein, bis hin zur Stellvertretung.
Die L.schen Formulierungen wirken hier oft äußerst radikal, geradezu übertrieben. Es wäre jedoch ein fundamentales Mißverständnis, die Exzessivität der Sprache und der Gedanken als dem hier Gedachten äußerlich anzusehen, als vermeidbar oder auf ein »erträgliches« Maß reduzierbar. Das Denken L.’ ist nichts anderes als das Denken dieser Exzessivität, es ist kein Denken des Normalen, Alltäglichen, Ausgeglichenen, es ist vielmehr das Nach-Denken der Erfahrung des Anderen, der in das Normale und Alltägliche einfällt, als in den Ort des Nicht-mehr-Normalen (und noch nie Normalen!), Un-Alltäglichen und bleibend Unausgeglichenen.
Jacques Derrida hat in seinem 1964 erstmals erschienenen Aufsatz »Gewalt und Metaphysik« das L.sche Vorhaben untersucht und daraufhin befragt, ob es denn möglich sei, dem griechischen Logos in so grundsätzlicher Weise zu entkommen, wie L. es beansprucht, ob nicht immer aller Ausbruch aus diesem Denken ihm immer noch angehöre durch die Sprache, in der es gedacht wird und in der es vor allem einzelnen Gedanken immer schon steht. Auf diese Anfrage ist, wenn man so will, das späte Hauptwerk Autrement qu être ou audelà de l essence die L.sche Erwiderung. Aber nicht nur dies späte Werk, auch schon die früheren Texte – und an ihrer Spitze Totalität und Unendlichkeit – sind nicht nur der Versuch, gegen eine »griechisch« bestimmte Tradition des Denkens anzudenken, sie sind auch das Zeugnis einer Erfahrung, die ihrem eigenen Selbstverständnis nach – und zwar unwiderlegbar – dem griechischen Logos widerspricht.
Es ist die Pluralität, die Zweiheit, die sich nicht auf eine ihr zugrundeliegende Einheit zurückführen läßt (aus der alle Pluralität dann erst wieder abzuleiten wäre), die den Ausgangspunkt und die ständige Herausforderung des L.schen Denkens ausmacht, eine Herausforderung, von der es nichts nachgeben kann. » Alles, was ich versucht habe, ist, ein Verhältnis zu finden«, sagt L., »das nicht Addition ist. Wir sind so an den Begriff der Addition gebunden, daß es uns oftmals erscheint, als sei eigentlich die Zweiheit des Menschen ein Verfallen«
Taureck, Bernhard H. F.: Emmanuel Lévinas zur Einführung. Hamburg 1997, 2002. – Derrida, Jacques: Adieu. München u.a. 1999. – Waldenfels, Bernhard: Antwortregister. Frankfurt am Main 1994. – Wiemer, Thomas: Die Passion des Sagens. Zur Deutung der Sprache bei Emmanuel Lévinas und ihrer Realisierung im philosophischen Diskurs. Freiburg/München 1988. – Strasser, Stephan: Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in Emmanuel Lévinas’ Philosophie. Den Haag 1978. – Derrida, Jacques: »Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Lévinas’.« In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Übersetzt von R. Gasché. Frankfurt am Main 1976. – Wenzler, Ludwig: Zeit als Nähe des Abwesenden. Diachronie der Ethik und Diachronie der Sinnlichkeit nach Emmanuel Lévinas. Nachwort zu E. Lévinas: Die Zeit und der Andere. Hamburg 1984. – Blanchot, Maurice: L’entretien infini. Paris 1969.
Hans-Christoph Askani
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