Metzler Philosophen-Lexikon: Löwith, Karl
Geb. 9. 1. 1897 in München;
gest. 24. 5. 1973 in Heidelberg
»Die Auslieferung (des Menschen) an das geschichtliche Denken ist nicht nur dem historischen Materialismus und in anderer Weise dem metaphysischen Historismus von Hegel eigentümlich, sie kennzeichnet auch alles nachhegelsche und nachmarxistische Denken. Man glaubt auch im bürgerlich-kapitalistischen Westen, dessen Produkt der Marxismus ist, weder an eine natürliche Weltordnung, an die Vernunft des physischen Kosmos, noch an ein Reich Gottes. Man glaubt nur noch an den Geist der Zeit, an den Zeitgeist, the wave of futureˆ, das Geschick der Geschichte, vulgär verstanden oder sublim. Wenn uns die Zeitgeschichte aber irgend etwas lehrt, dann offenbar dies, daß sie nichts ist, woran man sich halten und woran man sein Leben orientieren könnte. Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren wollen, das wäre so, wie wenn man sich bei einem Schiffbruch an den Wogen festhalten wollte.« L. hat diese Warnung in Marxismus und Geschichte (1957/58) ausgesprochen und damit nicht nur auf Jacob Burckhardt angespielt, dessen Beharrlichkeit angesichts eines vom Fortschrittsoptimismus ergriffenen 19. Jahrhunderts er ein frühes, fasziniertes Buch gewidmet hat (Jacob Burckhardt. Der Mensch inmitten der Geschichte, 1936). L. hat diesen Akzent gegen den Zeitgeist gesetzt, weil ihn eine Kluft von den politischen, philosophischen oder theologischen Versuchen trennte, aus der mit Marx, Nietzsche und Kierkegaard empfundenen Krise der Moderne herauszukommen. In einem Zeitalter, in dem, vermutlich wie in keinem zweiten, der Mensch an die Geschichte ausgeliefert worden ist, erscheint L.s Skepsis bemerkenswert unzeitgemäß. Doch handelt es sich nicht um die Unzeitgemäßheit, auf die man gewöhnlich trifft, wenn davon die Rede ist, sondern um jene, die sich mit Nietzsche außerhalb der christlichen Zeitrechnung und Heilsgewißheit weiß.
L. wuchs wohlbehütet als einziger Sohn eines hochgeachteten und sehr erfolgreichen Kunstmalers auf. Nach außen herrschte bürgerliche Ruhe und Saturiertheit – man bewohnte eine großzügige Stadtwohnung und eine Sommervilla am Starnberger See – nach innen herrschte angespannte Wachheit: Im Alter von 13 Jahren las L. Kant, Schleiermacher und Fichte, aber auch Nietzsches Zarathustra als emotionsgeladenen Schlüsseltext der Moderne, der ihn nicht nur – nach dem von Nietzsche diagnostizierten Zusammenbruch der christlichen Metaphysik – für die erneut zu stellende Frage empfänglich machte, warum etwas und vielmehr nicht nichts ist, sondern auch für die Folgen, die sich aus der mit Nietzsche greifbar gewordenen Säkularisation des Verhältnisses von Mensch und Welt ergaben. Zunächst zog L. – als Freiwilliger – in den Ersten Weltkrieg, wurde 1915 an der österreichisch-italienischen Front bei einem nächtlichen Spähtruppunternehmen schwer verwundet und Ende 1917 entlassen. Er begann, Biologie und Philosophie zu studieren – bei Alexander Pfänder und Moritz Geiger, dem »Münchner Kreis« der Phänomenologie; zur Zeit der Räterepublik wurde es ihm in München »zu laut«; er zog nach Freiburg, hörte bei Edmund Husserl und lernte dessen Assistenten Martin Heidegger kennen, »der uns in Husserls Logische Untersuchungen einführte, aber auch in Dilthey, Bergson und Simmel. Die spürbare Intensität und der undurchsichtige Tiefgang von Heideggers geistigem Antrieb ließ alles andere verblassen und machte uns Husserls naiven Glauben an eine endgültige philosophische Methode abspenstig. Diese ersten Freiburger Studienjahre von 1919 bis 1922 waren eine unvergleichlich reiche und fruchtbare Zeit. Alles, wovon meine Generation auch heute noch geistig zehrt, wurde damals hervorgebracht, nicht obwohl, sondern weil alles im Zeichen der Auflösung stand und auf eine kritische Erneuerung aus war. Auch Heideggers Anziehungskraft beruhte auf einem produktiven Abbau, der Destruktionˆ der überlieferten Metaphysik auf ihre fragwürdig gewordenen Fundamente hin« (Curriculum vitae, 1959). Nach dem Abschluß der Dissertation bei Moritz Geiger (Auslegung von Nietzsches Selbstinterpretation und von Nietzsches Interpretationen, 1923) folgte L. Heidegger nach Marburg: »In diesen entscheidenden Jahren nach dem Zusammenbruch von 1918 wurde ich durch die Freundschaft mit P. Gothein vor die Wahl gestellt: sollte ich mich dem Kreis um St. George und Gundolf anschließen, oder als Einzelgänger Heidegger folgen, der auf ganz andere Weise eine nicht minder diktatorische Macht über die jungen Gemüter ausübte, obwohl niemand von seinen Hörern verstand, worauf er eigentlich abzielte. In Zeiten der Auflösung gibt es verschiedene Arten von Führernˆ, die sich nur darin gleichen, daß sie das Bestehende radikal verneinen und entschlossen sind, einen Weg zu dem Einen was not tutˆ zu weisen. Ich entschied mich für Heidegger.« Freilich nicht mit dem Gewicht, das Heidegger, Carl Schmitt, Ernst Jünger u. a. dem Begriff der Entscheidung zumaßen – »Das Pathos der praktischexistentiellen Entscheidung, welches Kierkegaard und Marx gegen die bestehende Christenheit und gegen die bestehende Gesellschaft inspiriert hatte, erwachte in den 20er Jahren zu einer neuen Aktualität, um zu einem theologischen, philosophischen und politischen Dezisionismus zu führen – und zu verführen«. Davon handelt eine 1935 pseudonym erschienene Polemik gegen den Politischen Dezisionismus von C. Schmitt und ein in Frankreich 1946 erschienener Aufsatz über Die politischen Implikationen von Heideggers Philosophie der Existenz – in Sartres Les Temps Modernes.
In jenen Marburger Tagen zählten Hans-Georg Gadamer, Gerhard Krüger und Leo Strauss zu L.s persönlichen Freunden. 1928 habilitierte sich L. bei seinem Lehrer Heidegger mit der Untersuchung Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen; die phänomenologische Methode, mit der er in diesem Buch die formale Struktur des Miteinanderseins beschrieb, setzte er deutlich gegen Heideggers Verfahren ab; L. beabsichtigte eine philosophische Anthropologie, nicht aber eine universale Fundamentalontologie, wie sie Heidegger mit Sein und Zeit ein Jahr zuvor vorgelegt hatte. 1930 widmete er dessen methodischem Anspruch eine erste kritische Studie: Phänomenologische Ontologie und protestantische Theologie.
Seit dem Habilitationsvortrag L. Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1928) hat der im Laufe der 30er Jahre ungemein produktive L. zahlreiche größere Arbeiten zur philosophischen Entwicklung im 19. Jahrhundert vorgelegt (Hegel und Hegelianismus, 1931; Theorie und Praxis als philosophisches Problem, 1931; Max Weber und Karl Marx, 1932; Die philosophische Kritik der christlichen Religion im 19. Jahrhundert, 1933; Kierkegaard und Nietzsche oder philosophische und theologische Überwindung des Nihilismus, 1933; Kierkegaard und Nietzsche, 1933 u.a.m.). Von einer intensiven Beschäftigung mit den gerade erschienenen Frühschriften von Marx ausgehend, versuchte er einen ersten synthetischen Blick für die philosophisch ungewiß gewordene Stellung des Menschen zu entwickeln. Er bemerkte bei Feuerbach den anthropologisch-theologisch begründeten Rückschritt hinter Hegels Philosophie des absoluten Geistes, bei Marx den Umschlag von Philosophie in Marxismus, bei Kierkegaard den verzweifelten Aufstand des gewissenhaften Einzelnen gegen die christliche Kirche, bei Max Weber – zunächst – eine unzulängliche Wertethik subjektiven Zuschnitts. Gemessen an Hegels Vollendung der klassisch-idealistischen Philosophie waren dies Stadien eines »vorläufigen Philosophierens«, das am prägnantesten in Nietzsches »Philosophie der Zukunft« zum Ausdruck kam. Es ist kein Zufall, sondern in der Aufbruchstimmung der 20er und 30er Jahre begründet, daß L. mit Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (1935) eine Studie vorlegte, mit der er Nietzsche philosophisch vor seinen Verkündern und Vollendern (Simmel, Bertram, Andler, Klages, Baeumler, Jaspers, Heidegger) zu retten suchte. An anderer Stelle hat er in einer biographischen Reflexion den zeitgenössischen Bezug der Auseinandersetzung um Nietzsche dargelegt: »Auch heute, nach 27 Jahren seit meiner ersten Zarathustralektüre, wüßte ich die Geschichte des deutschen Geistes mit niemand anderem zu beschließen, obgleich ich der deutschen Revolution die Einsicht in die Gefährlichkeit des gefährlich Lebenˆ verdanke. Nietzsche ist und bleibt ein Kompendium der deutschen Widervernunft oder des deutschen Geistes. Ein Abgrund trennt ihn von seinen gewissenlosen Verkündern, und doch hat er ihnen den Weg bereitet, den er selber nicht ging. Auch ich kann nicht leugnen, daß der Wahlspruch, den ich in mein Kriegstagebuch schrieb: navigare necesse est, vivere non estˆ, auf vielen Umwegen und doch direkt zu Goebbels’ heroischen Phrasen führt.« Gerade wegen des scheinbar eindeutigen Charakters, den Nietzsches Denken seit seinen ersten Interpreten – Gabriele D’Annunzio war einer der frühesten – angenommen hatte, kam es L. darauf an, Nietzsche als eine »Frühgeburt des kommenden Jahrhunderts«, als »Philosophen einer noch unbewiesenen Zukunft« zu zeigen: »Er ließ deshalb im Zarathustra die Frage offen, was er nun eigentlich sei: ein Versprecher oder ein Erfüller, ein Erobernder oder ein Erbender, ein Herbst oder eine Pflugschar, ein Dichter oder ein Wahrhaftiger, ein Befreier oder ein Bändiger – weil er wußte, daß er weder das eine noch das andere, sondern beides ineins war.«
Während dieses Buch – mit geringfügigen Änderungen versehen – noch in Deutschland erscheinen konnte, mußte L. sein Burckhardt-Buch ein Jahr später in einem schweizer Verlag veröffentlichen. L.s persönliches Schicksal, das sich aus der Machtergreifung der Nationalsozialisten ergab – seit 1935 fiel er unter die Nürnberger Gesetze –, hat er in einem 1940 geschriebenen, aber erst 1986 herausgegebenen Bericht Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 geschildert. Unter dem Aspekt der mit dem Ende des Ersten Weltkriegs herandrängenden »Aufgabe« einer philosophisch begründeten und politisch zu verwirklichenden »neuen« Identität der Deutschen enthält dieses Buch, geschrieben mit dem Zug eines »großen Moralisten« (Reinhart Koselleck), ebenso scharfe wie beklemmende Momentaufnahmen einer öffentlichen, akademisch mitgetragenen Radikalisierung, aber auch eindringliche Porträts von Max Weber, Albert Schweitzer, Edmund Husserl, Karl Barth und Martin Heidegger. Dessen Stranden im Fahrwasser der Nationalsozialisten erläutert L. als ein theoretisches Scheitern, als ein unverständliches und nicht ausdrückliches Zögern zwischen der »reichsdeutschen« und der »alemannischen« Lösung der existentiellen bzw. politischen Konflikte der Zeit: »Die Möglichkeit von Heideggers philosophischer Politik entspringt nicht einer Entgleisung, die man bedauern könnte, sondern dem Prinzip seiner Existenzauffassung, welche den Geist der Zeit im doppelten Sinn bestreitet.« L. hat dieses Argument im gleichen Jahr in Der europäische Nihilismus. Betrachtungen zur Vorgeschichte des europäischen Krieges weiter ausgeführt.
L.s erzwungene Flucht vor den Folgen einer geistig-politischen Erneuerung Deutschlands durch die Nationalsozialisten reicht – begleitet von einer denkwürdigen Kontroverse zwischen Leo Strauss und Carl Schmitt über die Differenz von politischer Philosophie und politischer Theologie – rund um den Erdball. Zunächst seit 1934 in Italien beheimatet, emigriert er 1938 nach Sendai in Japan und 1941 nach den Vereinigten Staaten – kurz vor dem Überfall der Japaner auf den amerikanischen Flottenstützpunkt Pearl Harbour. L. hat mit Gleichmut auf diese Ereignisse reagiert. In lakonischer Kürze hat er in das Handexemplar seines gerade erschienenen Buchs Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts eingetragen: »Erhalten am 18. 1. 1941 in Sendai, unmittelbar nach der Rückkehr von Peking und vor der Übersiedlung nach New York.« Die Bedeutung dieses Buchs, das ins Italienische, Japanische, Englische und Französische übersetzt wurde und seit seiner – mit beachtlichen Veränderungen und Kürzungen versehenen – deutschen Neuausgabe (1949) zu einem internationalen Standardwerk wurde, hat der befreundete Leo Strauss unmittelbar nach dem ersten Erscheinen beschrieben: »Dieses Buch sollte alle interessieren, die das Aufkommen des europäischen und insbesondere des deutschen Nihilismus verstehen wollen. Als sein Thema kann man die Verwandlung des europäischen Humanismus, vertreten durch Goethe und Hegel, in den deutschen Nihilismus, vertreten durch Ernst Jünger, bezeichnen. Seine These lautet, daß die philosophiegeschichtliche Entwicklung, die von tödlicher Konsequenzˆ war, den Schlüssel zum gegenwärtigen Geschehen in Deutschland bietet.« L. selbst hat aus dem Geist des 19. Jahrhunderts, auf den er sich angewiesen wußte, eine weitergehende Begründung für dieses Buch gegeben: »(Dieses Jahrhundert) ist die Zeit der großen historischen Werke von Ranke und Mommsen, Droysen und Treitschke, Taine und Burckhardt und einer phantastischen Entwicklung der Naturwissenschaften. Es ist nicht zuletzt Napoleon und Metternich, Mazzini und Cavour, Lassalle und Bismarck, Ludendorff und Clémenceau. Es erstreckt sich von der großen Französischen Revolution bis 1830 und von da bis zum Ersten Weltkrieg. Es hat Schlag auf Schlag zum Heil und Unheil der Menschen die gesamte technische Zivilisation geschaffen und Erfindungen über die ganze Erde verbreitet, ohne die wir uns unser alltägliches Leben überhaupt nicht mehr vorstellen können. Wer von uns könnte leugnen, daß wir noch durchaus von diesem Jahrhundert leben und eben darum Renans Frage – es ist auch die Frage von Burckhardt, Nietzsche und Tolstoi – verstehen: de quoi vivra-t-on après nous?ˆ. Gäbe es darauf eine Antwort nur aus dem Geist der Zeit, so wäre dies das letzte, ehrliche Wort unserer noch vor 1900 geborenen und im Ersten Weltkrieg gereiften Generation die entschiedene Resignation, und zwar einer, die ohne Verdienst ist, denn die Entsagung ist leicht, wenn sich das meiste versagt.«
Als der Druck der Deutschen Botschaft in Tokio zu stark wurde, hat L. Japan verlassen, um auf Vermittlung der beiden Theologen Reinhold Niebuhr und Paul Tillich eine Stellung am theologischen Seminar in Hartford (Conn.) anzutreten. L. begann im Zuge dieser neuen Tätigkeit, sich mit der frühkirchlichen Patristik zu beschäftigen; er faßte den Plan, die endzeitlichen, d.h. eschatologischen Strukturen christlicher Heilserwartung und Heilsgewißheit auf deren »Nach«-Geschichte in der bürgerlichen Geschichtsphilosophie bis Hegel, Comte und Marx zu übertragen und deren Mythologisierung des Fortschritts als endzeitliches, theologisches Residuum zu entlarven. Das Buch, in dem L. diese These vortrug, ist zuerst 1950 unter dem Titel Meaning in History, in deutscher Übersetzung treffender als Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (1953), erschienen. Zuvor (1950) hat L. dessen »verschärfte Leitgedanken« unter demselben Titel in der Festschrift veröffentlicht, die Martin Heidegger zum 60. Geburtstag gewidmet war. L. vertrat die Auffassung, daß Heideggers Erneuerung der Philosophie trotz ihrer waghalsigen Annäherung an die vorsokratische Überlieferung nie den christlichen Horizont heilsgeschichtlicher Erwartung verlassen hat. Dieses Faktum verkennend, bewege sich Heideggers Denken in einem unmerklichen Zirkel zwischen endlichem »In-der-Welt-sein« und eigentlichem »Sein«, in der Hoffnung auf den »weltgeschichtlichen Augenblick«, in dem sich ein »Erlöser« zu erkennen gibt. Die Defizite einer solchen Ontologie ohne Sein, die einen Unterschied zwischen vulgärer und sublimer Geschichte offen läßt, hat Heidegger mit einer geschichtsphilosophischen Radikalisierung von Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen kompensiert; er reduziert sie auf den Willen zur Macht und erhebt damit im Namen »zukünftiger« Entwürfe und Lösungen pathetisch gegen sein eigenes Zeitalter Einspruch. Heideggers ebenso zweideutige wie zweifelhafte Fahrt in eine neuerliche »Hinter-Welt« – Nietzsches polemische Übersetzung von Metaphysik – beruht auf einem Begriff von Weltgeschichte und weltgeschichtlichem Ereignis, wie er erst im christlichen Äon bekannt geworden ist. So sehr Heidegger einen »ursprünglichen« Weltbegriff betont, er verfällt einer unbestimmten Endzeiterwartung, die religiöser, philosophischer, aber auch politischer Natur oder alles zugleich sein kann.
1949 wurde L. an die »New School for Social Research« in New York berufen, ein Sammelbekken exilierter Intellektueller. Hans-Georg Gadamer bewirkte schließlich, daß L. 1952 einen Ruf nach Heidelberg erhielt. L. fand die Universitätsverhältnisse »merkwürdig unverändert« vor. Er veröffentlichte 1953 Heidegger ...Denker in dürftiger Zeit, eine umfassende kritische Studie, geschrieben, um »den Bann eines betretenen Schweigens und eines sterilen Nachredens von seiten einer gefesselten Anhängerschaft zu brechen«. Heidegger stellte zwar eine radikale Herausforderung dar, erst recht in einer nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs deutungsbedürftigen Welt, aber so schwankend seine Haltung in der Frage nach dem Unterschied von vulgärer und eigentlicher Geschichte gewesen war, so vieldeutig war seine Antwort auf die Frage, in welcher Sprache das Sein zum »In-der-Welt-Sein« spricht, ob als Welt, als Gott oder als Dichter. Als weitere Buchveröffentlichung folgte 1956 Wissen, Glaube und Skepsis, in der L. durch die Auseinandersetzung mit christlichen Denkern wie Augustinus, Pascal und Kierkegaard eine Klärung des Verhältnisses von christlichem Glauben und Philosophie herbeizuführen suchte.
L. hat sein umfangreiches Werk – es umfaßt nahezu dreihundert Titel – mit zwei Büchern beschlossen. Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche (1967) war als Einführung in die theologischen Implikationen der neuzeitlichen, bürgerlich-rationalistischen Metaphysik gedacht und verfolgte eine mit Von Hegel zu Nietzsche und mit Weltgeschichte und Heilsgeschehen verwandte Thematik; sie gipfelte in Nietzsches Säkularisation des dreieinigen Verhältnisses von Gott, Mensch und Welt und der Wiedereinsetzung eines natürlichen Gegenüber von Mensch und Welt. Die letzten Jahre L.s galten der Beschäftigung mit Paul Valéry, in dem er, wie in der Gestalt Jacob Burckhardts, einen Geistesverwandten, einen »solitaire«, entdeckt hatte (Paul Valéry. Grundzüge seines philosophischen Denkens, 1970). In dessen Werk schien sich L., nach einer langen, disziplinierten Beschäftigung mit den historischen Verläufen, den Ursachen und den Folgen des abendländischen Denkens die »Möglichkeit authentischer Philosophie« (Henning Ritter) zu eröffnen.
L. hat – auch dies ungewöhnlich im Verlauf der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts – seine durch die japanischen Exiljahre bedingten Erfahrungen im Umgang mit dem fernöstlichen Denken auf Geschichtsphilosophie und Weltbegriff der westeuropäischen Neuzeit bezogen (Natur und Geschichte, 1951; Bemerkungen zum Unterschied von Orient und Okzident, 1960). Wie weit ihn diese Erfahrungen von einer bis in die Frühscholastik zurückreichenden ontotheologischen Tradition entfernten, mag das Fazit belegen, das L. in seinem Curriculum vitae gezogen hat: »Wie weit es immer dem Menschen gelingen mag, sich die Natur durch Bearbeitung anzueignen und seine Herrschaft über sie auszudehnen, sie wird niemals zu unserer Umwelt, sie bleibt immer sie selbst, so wie in Heideggers ontologischer Rede das Sein sich darin erweist, daß es es selbst ist. Von dieser Welt, die nicht eine Welt unter andern und keine bloße Ideeˆ (Kant) oder ein Horizontˆ (Husserl) oder Entwurfˆ (Heidegger) ist, sondern die eine und ganze wirkliche Welt, ließe sich sagen, was die Theologie in ihren Gottesbeweisen von Gott gesagt hat: daß über sie hinaus nichts noch Größeres denkbar ist. Sie braucht aber auch gar nicht als existierend bewiesen zu werden, denn sie weist sich alltäglich und fortwährend selber aus, obwohl wir von unserer Weltgemäßheit zumeist so wenig wissen, wie die Zugvögel, die sich auf ihrem Flug am Stand der Sonne orientieren. Wir können keinen Augenblick existieren ohne die Welt, aber diese kann auch ohne uns sein.«
Donaggio, Enrico: Karl Löwith. Una sobria inquietudine. Mailand 2003. – Wolin, Richard: Heidegger’s Children. Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas and Herbert Marcuse. New York 2001. – Francescelli, Leonardo: Karl Löwith. Le sfide della modernità tra Dio e nulla. Rom 1997. – Jaeger, Michael: Autobiographie und Geschichte. Wilhelm Dilthey, Georg Misch, Karl Löwith, Gottfried Benn, Alfred Döblin. Stuttgart/Weimar 1997. – Liebsch, Burkhard: Verzeitlichte Welt. Variationen über die Philosophie Karl Löwiths. Würzburg 1995. – Ries, Wiebrecht: Karl Löwith. Stuttgart 1991. – Habermas, Jürgen: Karl Löwith. Stoischer Rückzug vom historischen Bewußtsein [1963]. In: Ders.: Philosophisch-politische Profile. Wozu noch Philosophie? Frankfurt am Main 1981. – Gadamer, Hans-Georg: Karl Löwith. In: Ders.: Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau. Frankfurt am Main 1977. – Timm, Herrmann: Amor fati? Karl Löwith über Christentum und Heidentum. In: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 19 (1977), S. 78–94. – Riedel, Manfred: Karl Löwiths philosophischer Weg. In: Heidelberger Jahrbücher 14 (1977), S. 120–133. – Anz, Wilhelm: Rationalität und Humanität. Zur Philosophie von Karl Löwith. In: Theologische Rundschau 36 (1971), S. 62–84.
Bernd Lutz
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