Metzler Philosophen-Lexikon: Luhmann, Niklas
Geb. 8. 12. 1927 in Lüneburg; gest.
6. 11. 1998 in Oerlinghausen bei Bielefeld
Bekannt wurde L. einer nicht ausschließlich wissenschaftlichen Öffentlichkeit durch seine Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas, die 1971 unter dem für die Rezeption von L.s Theorie unvorteilhaften Titel Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie ...Was leistet die Systemforschung? publiziert wurde. Der Titel suggeriert, daß die Systemtheorie L.s eine konservative Sozialtechnologie sei, weil sie nur die Wirklichkeit beschreiben wolle und keinen Platz für die regulative Idee einer zukünftigen Gesellschaft zuließe. Der Vorbehalt gegen die L.sche Theorie hielt sich lange Zeit. An der Universität Münster promovierte und habilitierte L. sich 1966 bei Helmut Schelsky, der L.s Begabung früh erkannte und ihn darum 1965 als Abteilungsleiter an die Sozialforschungsstelle in Dortmund holte, nachdem er nach dem rechtswissenschaftlichen Studium nacheinander Verwaltungsbeamter am Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Landtagsreferent im niedersächsischen Kultusministerium und Referent am Forschungsinstitut der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer gewesen war. Zwischenzeitlich war er für ein Studium bei Talcott Parsons an der Harvard-Universität beurlaubt. 1968 wurde er zum Professor für Soziologie an die Reformuniversität Bielefeld berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1993 blieb, »weil man als Soziologe alles machen kann, ohne auf einen bestimmten Themenbereich festgelegt zu sein«.
In seiner programmatischen Antrittsvorlesung vom 25. Januar 1967 sagte L., daß er mit seinem Wissenschaftsprogramm der Aufklärung verpflichtet sei, allerdings nicht der »naiven« Aufklärung alten Stils, denn »vor allem zwei zentrale Prämissen der Vernunftaufklärung sind der Soziologie verdächtig geworden: Die gleiche Beteiligung aller Menschen an einer gemeinsamen Vernunft, die sie ohne weitere institutionelle Vermittlung besitzen, und der erfolgssichere Optimismus in bezug auf die Herstellbarkeit richtiger Zustände«. Für L. kann Aufklärung also nicht naive Vernunftgläubigkeit und Machbarkeitsgewißheit bedeuten. Soziologie müsse Aufklärung über Aufklärung bewirken. L. nennt das in seiner Antrittsvorlesung »Abklärung über Aufklärung«. Mit diesem Titel könnte man sein gesamtes Schaffen überschreiben. L. erläutert: »Nicht mehr Belehrung und Ermahnung, nicht mehr die Ausbreitung von Tugend und Vernunft, sondern die Entlarvung und Diskreditierung offizieller Fassaden, herrschender Moralen und dargestellter Selbstüberzeugungen wird zum dominanten Motiv.« Dies wurde für L. in den folgenden 30 Jahren der leitende Gedanke seiner Arbeiten. Die Entlarvung mancher Ideale der Aufklärung als Mythos ist ihm oft fälschlich als Zynismus ausgelegt worden. L.s Absicht hingegen war es, mit seiner Gesellschaftstheorie der Aufklärung ein zweites Stockwerk zu bauen!
L. hatte von Anbeginn seiner Tätigkeit das Interesse, eine Theorie der komplexen Gegenwartsgesellschaft zu schreiben. Mit dem Erscheinen des unwiderruflich letzten Bandes aus seinem Nachlaß, mit dem Titel Das Erziehungssystem der Gesellschaft, liegt seine Gesellschaftstheorie seit dem Jahr 2002 vollständig vor. Nach seinem Tod am 6. November 1998 erschien jeweils ein Band über das Politiksystem, über das Religionssystem und zuletzt über das Erziehungssystem der Gesellschaft. Außerdem erschien postum der Band Organisation und Entscheidung, der aber nicht zum Kanon der L.schen Gesellschaftstheorie gehört. Die Organisationstheorie ist eine andere »Abteilung« seiner Theorie.
Bei seiner Antrittsvorlesung hatte L. angekündigt, daß sein Forschungsprojekt eine »Theorie der Gesellschaft« sein werde. Er wolle sie in 30 Jahren fertiggestellt haben. Zusätzliche Kosten entstünden dabei keine, was die Universitätsverwaltung erleichtert zur Kenntnis nahm. Die wichtigsten gesellschaftlichen Subsysteme hat L. in der Folgezeit erforscht und in einzelnen Büchern dargestellt. 1984 erschien die »Einleitung«, die fast 700 Seiten stark war und Soziale Systeme heißt. Seinerzeit sagte L., daß alles, was er zuvor geschrieben habe, als »Nullserie« zu betrachten sei. Im Anschluß erschienen die einzelnen Kapitel als Darstellungen der gesellschaftlichen Subsysteme in folgender Reihenfolge: Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988), Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990), Das Recht der Gesellschaft (1993), Die Kunst der Gesellschaft (1995), Die Politik der Gesellschaft (postum 2000), Die Religion der Gesellschaft (postum 2000), Das Erziehungssystem der Gesellschaft (postum 2002).
Etwa zweieinhalb Jahre vor seinem Tod spürte L. die zunehmende zerstörerische Kraft einer heimtückischen Krebserkrankung, die von seinem Körper Besitz ergriff. Darum entschied er sich, die fast fertigen Manuskripte der Bücher, die postum erschienen sind, nicht weiter zu bearbeiten. Sein ursprünglicher Plan war es, die Bände, die die einzelnen Subsysteme der Gesellschaft zum Inhalt hatten, zuerst zu veröffentlichen und als letzten Baustein Die Gesellschaft der Gesellschaft zu publizieren, worin er zeigen wollte, wie die einzelnen Subsysteme zusammenwirkten und so die moderne Gesellschaft insgesamt ausmachen. 1996 wurde ihm klar, daß er nicht mehr die Zeit hatte, sein Lebenswerk in Gänze zu vollenden. So entschied er sich, den Band Die Gesellschaft der Gesellschaft mit den letzten ihm zur Verfügung stehenden Kräften publikationsreif zu machen. Dieses Buch erschien 1997 und L. konnte es noch in Händen halten. Damit erfüllte er pünktlich sein Versprechen, daß die Gesellschaftstheorie in 30 Jahren fertiggestellt sei.
L.s Lehrer war Talcott Parsons, der der Nachwelt sein Werk als eine gigantische Ruine genialer Geistesproduktion hinterlassen hatte, in der man sich wie in einem Labyrinth verirren und steckenbleiben kann. L. wollte – Parsons als warnendes Beispiel vor Augen – ein systematisch gegliedertes und somit übersichtliches und zugängliches Werk hinterlassen. Das war das Motiv für seine Anstrengung zweieinhalb Jahre vor seinem Tod. Die Gesellschaftstheorie L.s liegt nun als neunbändige Gesamtausgabe vor.
Bei dieser Konstruktion stellt sich die Frage, warum L. die Gesellschaft in einzelnen Systemen darstellte. Zum einen, weil die gegenwärtige Gesellschaft so komplex ist, daß sie als ganze für den Sozialwissenschaftler unüberschaubar geworden ist. Dazu ein Wort aus seiner Antrittsvorlesung: »Die Welt ist äußerst komplex, die aktuelle Aufmerksamkeitsspanne intentionalen Erlebens und Handelns demgegenüber sehr gering.« Darauf werde ich zurückkommen. Noch etwas anderes spricht indes für die Erfassung und Darstellung der gegenwärtigen Gesellschaft in einzelnen gleichberechtigten Systemen, die nicht mehr – wie in der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft – hierarchisch angeordnet sind: In der Politik der Gesellschaft sagt L., man müsse mit realistischem Blick sehen, daß die Politik heute nicht mehr die Steuerung und Leitung einer Gesellschaft übernehmen könne, wovon man einstmals in der corpus-Metapher und der von der Politik als Kopf der Gesellschaft ausging. Die Gesellschaft bestehe heute de facto aus nebeneinanderliegenden Systemen, wie dem Wirtschaftssystem, dem Rechtssystem, dem Gesundheitssystem, dem politischen System, dem Bildungssystem und vielen mehr, von denen keines Vorrang habe, auch die Politik nicht. Alle seien geschlossene Systeme, die sich selbst erhielten und sich strikt von den anderen abgrenzten. Die anderen Systeme sind für ein System Umwelt. Ein System setzt selbst die Grenzen zur Umwelt, bestimmt selbst, was zu ihm gehört, konstituiert und erhält sich selbst dadurch, daß es die Grenzen aufrechterhält und nur das unternimmt, was der eigenen Systemerhaltung dient. Hier stellt sich die Frage, was in diesem Fall das tertium comparationis ist, mit dem bestimmt wird, was beispielsweise das Rechtssystem ist und was zu ihm gehört. Wie jedes andere System ist auch das Rechtssystem der Maßstab seiner selbst. Es bestimmt von innen heraus, was Recht ist und was nicht: »Wenn Recht in Anspruch genommen wird«, sagt das Rechtssystem, »das heißt: wenn über Recht und Unrecht disponiert werden soll, dann nach meinen Bedingungen.« Alle Systeme grenzen sich in ähnlicher Weise ab. Damit unterscheiden sie sich von anderen Systemen.
Wenn wir es in der Gesellschaft mit voneinander unabhängigen und nebeneinanderliegenden Systemen zu tun haben, stelle sich die Frage, wie sie miteinander verbunden sind und aufeinander reagieren, denn, sagt L., »würde man die moderne Gesellschaft lediglich als eine Menge von autonomen Funktionssystemen beschreiben, die einander keine Rücksicht schuldeten, wäre schwer zu verstehen, wieso diese Gesellschaft nicht binnen kurzem explodiert oder in sich zerfällt«. Die Verbindung der einzelnen Systeme stellt L. in seinem Abschlußwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft dar.
Auch die Religion ist für L. ein soziales Funktionssystem neben anderen. Das Religionssystem der Gesellschaft ist, wie jedes andere soziale Subsystem, an einem binären Code orientiert, das ist eine Leitdifferenz, mit deren Hilfe systemspezifische Unterscheidungen getroffen werden. In jedem System unterscheidet man zwischen der einen und der anderen Seite, die für jedes System spezifisch ist. Der Rechtscode ist der von Recht und Unrecht. Entweder etwas ist rechtens oder nicht, dazwischen gibt es nichts Drittes, tertium non datur. Der Code im politischen System ist der von Regierung und Opposition. Die Regierung, die über die Mehrheit im Parlament verfügt, entscheidet; die Opposition nicht. Der Code im Gesundheitssystem ist der von Gesund und Krank, der im Wissenschaftssystem der von Wahr und Falsch. Das Religionssystem nun ist orientiert an dem binären Code Immanenz und Transzendenz oder Diesseits und Jenseits. Alles Immanente kann auf Transzendentes bezogen werden. Man kann auch sagen, daß Religion genau auf der Grenzlinie zwischen Leben und Tod entsteht. – Keine Kommunikation funktioniert ohne Sinn. Sinn wählt aus den unendlich vielen Möglichkeiten dessen, was kommunizierbar ist, das aus, was sich an den speziellen Kommunikationsstrom anschließen läßt. Sinn hat nach L. drei Dimensionen. In der religiösen Kommunikation wird in der Sozialdimension die Begegnung mit Gott gesucht und gefunden. In der Zeitdimension des Sinns liegt die geschichtliche Einmaligkeit der Offenbarung. In der Sachdimension finden wir in Analogie zur Codierung den Zusammenhang von Einheit und Komplexität, Gott und Welt, Religion und Kosmologie.
Wie wird nun die Kommunikation in Gang gehalten? In allen sozialen Systemen geschieht das durch ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium. Man bezieht sich auf diese Medien und kann dadurch die spezifische Kommunikation in diesem System aufrechterhalten. Dieses sei in der religiösen Kommunikation die Sünde. Sünde verbindet Diesseits und Jenseits. Man sündigt im Diesseits und wird im Jenseits dafür bestraft. Dieses Kommunikationsmedium hat den Vorteil, daß es Gott, Gnade und Seele mit einschließt. Denn man kann sich nicht aus eigener Kraft erlösen. Man braucht dazu die Gnade Gottes. Die Seele verbindet Diesseits und Jenseits. Durch Bezug auf die Sünde wird also die religiöse Kommunikation aufrechterhalten und fortgeführt. Man kann durch den Bezug auf die Sünde dagegen nicht die ökonomische Kommunikation aufrechterhalten. Im Wirtschaftssystem bezieht man sich auf das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Geld. Ein weiteres Beispiel für ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium neben der Sünde im Religionssystem und dem Geld im Wirtschaftssystem ist die Wahrheit im Wissenschaftssystem. Wissenschaftler suchen die Wahrheit ihres Forschungsgegenstands. Darum kann durch Bezug auf das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Wahrheit die Kommunikation im Wissenschaftssystem in Gang gehalten werden. So hat jedes soziale Subsystem sein spezifisches symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, das in dem System die Kommunikation aufrechterhält.
Wie alle anderen sozialen System hat auch das Religionssystem die Funktion, die Gesamtgesellschaft zu erhalten. Es mag sein, daß die Religion für die einzelnen Menschen viele Funktionen erfüllt, z.B. kann Religion Trost spenden, Ängste besänftigen, Sinnfragen plausibel beantworten, Gemeinschaft in kultischen Handlungen herstellen oder den Glauben bestätigen. Religion hat nach L. bezogen auf die Gesellschaft als ganze aber nur eine einzige Funktion. In der funktional differenzierten Gesellschaft ist diese die Erlösung von der Gesellschaft; heute bei uns – im Gegensatz zu religiös homogenen Gesellschaften – in einer Weise, daß individuell entschieden werden kann, in welcher Religionsgemeinschaft das zu geschehen hat. Und L. konstatiert in seiner unnachahmlichen Lakonik, daß die Gesellschaft arm dran wäre, wenn es diese Funktion nicht mehr gäbe. Jedes System wird von L. auf seine Funktion hinsichtlich des Erhalts und des Funktionierens der Gesamtgesellschaft bestimmt und nicht durch eine Definition oder Wesensbestimmung.
An einem anderen System, dem Erziehungssystem der Gesellschaft, zeigt L., daß die Erziehung die gesellschaftliche Funktion habe, die »Neuankömmlinge in der Gesellschaft zu denaturieren«. Die Erziehung müsse die Interaktionsregeln vermitteln, die es möglich machten, daß Menschen gesellschaftsfähig würden. Welche Schwierigkeiten es bei dieser Vermittlungsarbeit im Unterricht gibt, hatte L. zu Lebzeiten bereits in vielen Publikationen dargestellt. In dem postum erschienen Buch zum Erziehungssystem zeigt L., daß innerhalb von Organisationen die Erziehung problemloser stattfinden kann als in anderer Weise. Das ist ein Thema auch seines postum erschienenen Buchs Organisation und Entscheidung. In Organisationen »braucht der Lehrer nicht auf den Fluren umherzuirren und zu versuchen, irgendwo mit seinen Ideen akzeptiert zu werden«. Erziehung findet im Unterricht statt, der zu einer bestimmten Zeit für eine bestimmte Klasse erfolgt. Gut durchorganisierte Systeme halten höhere Komplexität aus, wie L. am Beispiel des Erziehungssystems zeigt. Organisationen gestatten es, durch Erhöhung der Komplexität die Komplexität zu reduzieren. Gesellschaftliche Aufgaben und deren Erfüllung werden Organisationen zugewiesen. Dadurch werden soziale Systeme übersichtlicher. Alle sozialen Systeme sind noch einmal in Organisationen unterteilt und gegliedert. Das Erziehungssystem z.B. verkraftet mit der Durchorganisierung eine größere Vielfalt von differenzierten Erziehungsmaßnahmen.
Die »Theorie der Gesellschaft« ist nur ein Teil von L.s gesamter Theorie, insgesamt hat sie vier Säulen. Ein weiterer Teil seiner Theorie ist die bereits genannte Organisationssoziologie. Sie wurde 1964 unter dem Titel Funktion und Folgen formaler Organisation und mit dem postum erschienenen Band Organisation und Entscheidung (2000) publiziert. Der dritte Teil seiner Theorie sind die historisch-semantischen Analysen, die unter dem Titel Gesellschaftsstruktur und Semantik in vier Bänden zwischen 1980 und 1995 und in dem Buch Liebe als Passion (1982) erschienen sind. L. untersucht darin die Wechselwirkung von semantischen Veränderungen und Gesellschaftsentwicklungen. Und der vierte Teil besteht schließlich aus seinen politischen Interventionen in aktuellen Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen und in den Buchpublikationen Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat (1981), Ökologische Kommunikation (1985), Soziologie des Risikos (1991) und Beobachtungen der Moderne (1992). – Mit dieser Einteilung wird die für unüberschaubar gehaltene, über 10.000 Seiten starke »Supertheorie«, wie L. sie selbst nannte, übersichtlich.
Mit seiner Sichtweise auf die Gesellschaft grenzt L. sich von seinem Frankfurter Kontrahenten ab. Habermas mißt das gesellschaftliche Sein am Sollen, an der Vorstellung einer zukünftigen Gesellschaft, in der die Ideale der Aufklärung Realität werden sollen. Die Habermassche Theoriekonzeption lasse sich – so meint L. – als »emanzipationskonservative Richtung in der Soziologie« bezeichnen. Mit »emanzipationskonservativ« bezeichnete L. das dogmatische Festhalten an Idealen, auch dann noch, wenn sie offensichtlich nicht mehr zur Problembewältigung taugen. Dafür soll ein Beispiel stehen, das L. nennt: In einer seiner jüngsten großen Buchpublikationen, Faktizität und Geltung, kennzeichnet Habermas die tendenzielle Aufhebung der Gewaltenteilung als Gefahr für die Demokratie. Das Bundesverfassungsgericht maße sich angestammte Aufgaben des Gesetzgebers an, und die Verwaltung nehme mehr und mehr Aufgaben der Judikative wahr. Einst ist die Gewaltenteilung eine Errungenschaft für die Konstituierung des demokratischen Rechtsstaats gewesen. L. zweifelt daran, ob diese »evolutionäre Errungenschaft am Ende dieses Jahrhunderts [er meint das 20. Jh.] unbedingt ein politisches Erfolgsrezept« sein kann. Heute müsse man, wie in jeder politischen Situation, fragen: »Was war das Problem, und wo ist es geblieben?« Vor zwei Jahrhunderten bestand das Problem darin, den demokratischen Rechtsstaat gegen den Rückfall in eine Privilegienordnung stabilisieren zu müssen. L. ist der Auffassung, daß man die Problemlösungskapazitäten mit den Idealen der Vergangenheit belaste, wenn man diese Frage heute nicht stellen würde. »Denn für evolutionäre Errungenschaften ist typisch, daß die Bedingungen ihrer Einführung nicht zugleich Bedingung erfolgreichen Gebrauchs« zu einer späteren Zeit seien.
Diese unterschiedlichen sozialphilosophischen Denkweisen nehmen vor allem in den rechtsphilosophischen Werken von Habermas und L. aus den Jahren 1992 und 1993 exemplarisch Gestalt an. Doch genau diese grundlegende Differenz wurde bereits 1971 in dem Buch Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie ...Was leistet die Systemforschung? thematisiert. Ein weiterer grundlegender Unterschied ist der, daß Habermas der Auffassung ist, daß allem wissenschaftlichen Forschen genau die Vernunft zugrunde liegt, der L. in seiner Antrittsvorlesung skeptisch begegnet. L. bezeichnet diese Einstellung als naive Vernunftgläubigkeit.
L. argumentiert im Recht der Gesellschaft, daß sich gegenwärtig andere Probleme stellten als das von Habermas benannte Problem zunehmender Aufhebung der Gewaltenteilung. Zu der Zeit, da sich der Rechtsstaat gegenüber einer Ständeordnung behaupten mußte, sei die Einführung der Gewaltenteilung von Bedeutung gewesen. Angesichts der wachsenden Arbeitslosigkeit sei das bedrohliche Phänomen heute allerdings ein anderes als das von Habermas bezeichnete. Für die durch Arbeitslosigkeit aus der Gesellschaft ausgeschlossenen Menschen habe die den Rechtsstaat garantierende Gewaltenteilung keine Relevanz. Für die gesellschaftlich Ausgegrenzten gibt es nicht Recht oder Unrecht, sondern Exklusion oder Inklusion, Ausschluß oder Dazugehören. Aber auch für andere Gruppen habe der Rechtscode gegenüber dem Code Inklusion/Exklusion oft nur geringe Bedeutung. Als Beispiel nimmt L. »mafiose Organisationen« in Gemeinden, zu denen Unternehmer und höhere Verwaltungsbeamte gehörten.
Um ein System, das der Sozialwissenschaftler gerade beobachtet, wie beispielsweise das eben genannte Rechtssystem, von anderen Systemen, die für das betrachtete System Umwelt sind, abzugrenzen, verwendet L. wie Husserl das Instrumentarium »Sinn«, das in der Systemtheorie eine zentrale Kategorie ist. Der Sinn des Sinns ist es laut Husserl, für das Bewußtsein Erlebnisse zu aktualisieren, weil der »Erlebnisstrom nie aus lauter Aktualitäten bestehen« könne. An diesen Husserlschen Gedanken knüpft L. an: »Sinn ist laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten. Da Sinn aber nur als Differenz von gerade Aktuellem und Möglichkeitshorizont Sinn sein kann, führt jede Aktualisierung immer auch zu einer Virtualisierung der daraufhin anschließbaren Möglichkeiten.« Sinn ist also das Instrumentarium, das »enérgeia« und »dýnamis« oder »actus« und »potentia« im Bewußtseinsstrom unterscheiden läßt, wobei die Möglichkeiten »bei weitem das überschreiten, was handlungsmäßig erreicht und erlebnismäßig aktualisiert werden kann«. Unsere Wahrnehmung, sagt Husserl weiter, könne an einzelne Gegenstände der Umgebung nur dadurch herankommen, daß der Sinn die Funktion übernimmt, andere Dinge »abzuschatten«. Dadurch entsteht der redundante Sachverhalt, daß wir nicht sehen, was wir nicht sehen, weil wir sehen, was wir sehen, sagt L. mit der ihm eigenen Formulierungsfreude. Das Abschatten anderer Gegenstände setze – wie Husserl meint – ein »sinngebendes Bewußtsein« voraus. In L.s Worten heißt das: »Erst wenn Sinngrenzen die Differenz von System und Umwelt verfügbar halten, kann es Welt geben.«
Jeder Sozialwissenschaftler, der selbst wiederum ein System ist, nimmt sich aus dem Ganzen, aus dem »unmarked space« – wie L. gern mit George Spencer Brown sagt – für seine Beobachtung etwas heraus und läßt damit anderes unbeobachtet, was aber als Unbeobachtetes nicht verschwindet, sondern bleibt und nur abgeschattet wird. Der Unterrichtsforscher beobachtet beispielsweise eine ausgewählte Schulklasse in einer bestimmten Hinsicht und läßt andere Klassen, das gesamte Schulsystem, mit Bezirksregierungen und Landesministerium, und andere Gegebenheiten innerhalb der Klasse unberücksichtigt. Der Beobachter trifft Unterscheidungen. Er versetzt damit alles andere in die Umwelt, um beobachten zu können. So verfährt jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler, um mehr als unüberschaubares Chaos sehen zu können. Husserl spricht von der »Umgebung, die immer da ist«, wenn wir einen Gegenstand oder – mit L. – ein System aus dem Ganzen erfassen. Der Beobachter setzt Grenzen. »Grenzen«, sagt L., »sind insofern eine evolutionäre Errungenschaft par excellence; alle höhere Systementwicklung setzt Grenzen voraus.« Als Differenztheoretiker, der sich auf die Theorie von George Spencer Brown und dessen oft zitierter Weisung »Draw a distinction« bezieht, sagt L. zusammenfassend, daß man überhaupt nur dann etwas beobachten, wahrnehmen oder bezeichnen kann, wenn man eine Unterscheidung trifft. Nur so kann es für uns, ob im Wissenschaftsbetrieb oder im Alltag, die Welt als Gegen-stand überhaupt geben. Und wenn nicht mehr unterschieden wird, gibt es nur noch Stillstand.
Obwohl die Wahrnehmung des Bewußtseins in »Sinneseinheiten« geschieht, gehen für Husserl wie für L. die Möglichkeiten anderer Erfahrungen nicht verloren, sondern bleiben erhalten, da einzelne Erfahrungen lediglich herausgehoben sind: »Alle aktuelle Erfahrung weist über sich hinaus auf mögliche Erfahrungen, die selbst wieder auf neue mögliche weisen, und so in infinitum« (Husserl). Hier handelt es sich also um den auch von Heidegger verwendeten Begriff des Verweisungszusammenhangs. Husserl, Heidegger und auch L. verwenden den Begriff Verweisungszusammenhangˆ und den Begriff Sinnˆ analog.
Man kann im historischen Rückblick die Gesellschaften nach segmentären Gesichtspunkten, nach Familien, Dorfgemeinschaften oder nach Stämmen in einem Volk oder nach stratifikatorischen Gesichtspunkten differenzieren, also nach Ranggesichtspunkten, wie Könige, Fürsten, Geistliche, Bürger, Bauern. Die Beschreibung gegenwärtiger Gesellschaft verlangt dagegen funktionale Differenzierung und erfolgt hinsichtlich wichtiger gesellschaftlicher Funktionen »wie Wissenschaft, Kunst, Religion, Wirtschaft, Politik, Gesundheitssystem, Liebe, Recht, Erziehung und so fort. Die Wirtschaft bezieht sich auf die Regulierung von Knappheit, die Wissenschaft auf die Konditionierung wahrheitsfähigen Erlebens, die Liebe auf die Ermöglichung hochpersönlicher Kommunikation, die Politik kümmert sich um kollektiv bindende Entscheidungen, die Erziehung reduziert das Risiko selbstläufiger Sozialisation.« L. sieht die historische Gesellschaftsentwicklung als Dreischritt von der segmentär zur stratifikatorisch und zur funktional differenzierten Gesellschaft.
L.s Werke fanden weltweite Beachtung. Sie wurden in viele Sprachen übersetzt, ins – wie fast selbstverständlich – Englische, Spanische und Französische, dann aber auch ins Serbokroatische, Portugiesische, Italienische, Japanische, Chinesische. 1988 erhielt er den Hegel-Preis der Stadt Stuttgart. Bei der Verleihung war in der dpa-Meldung zu lesen: »Zur Begründung heißt es, Luhmann sei der produktivste und originellste unter den theoretischen Soziologen in der Bundesrepublikˆ. Das Werk des 61jährigen Bielefelder Professors strahle weit über die Soziologie hinaus bis in die Theologie, die Literaturwissenschaft, Linguistik, Biologie, Jurisprudenz, Ökonomie und Pädagogik.«
De Berg, Henk/Schmidt, Johannes (Hg.): Rezeption und Reflexion. Zur Resonanz der Systemtheorie außerhalb der Soziologie. Frankfurt am Main 2000. – Gripp-Hagelstange, Helga (Hg.): Niklas Luhmanns Denken. Interdisziplinäre Einflüsse und Wirkungen. Konstanz 2000. – Horster, Detlef: Niklas Luhmann. München 1997. – Baraldi, Claudio/Corsi, Giancarlo/Esposito, Elena: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt am Main 1997. – Krause, Detlef: Luhmann-Lexikon. Stuttgart 1996. – Fuchs, Peter: Niklas Luhmann – Beobachtet. Eine Einführung in die Systemtheorie. Opladen 1992. – Krawietz, Werner/Welker, Michael (Hg.): Kritik der Theorie sozialer Systeme. Frankfurt am Main 1992. – Spaemann, Robert: Laudatio. Niklas Luhmanns Herausforderung der Philosophie. In: Luhmann, Niklas: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Frankfurt am Main 1990, S. 47–73.
Detlef Horster
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