Metzler Philosophen-Lexikon: Lorenzen, Paul
Geb. 24. 3. 1915 in Kiel;
gest. 1. 10. 1994 in Göttingen
Als er 1994, von Krankheit und Resignation geschwächt, in Göttingen starb, verlor die deutsche Philosophie eine selbstbewußte, kämpferische Persönlichkeit, einen Mann, der zu den scharfsinnigsten, gründlichsten und kreativsten Denkern des 20. Jahrhunderts gehörte, niemals eine sachliche Konzession an den Zeitgeist gemacht hatte, dessen Wendungen vielmehr mit überlegener Ironie abzutun pflegte und als Haupt der Erlanger Schuleˆ in den 1960er und 1970er Jahren einen maßgeblichen Einfluß auf die philosophische Szene in Deutschland gehabt hatte. L. begann als Mathematiker. Er arbeitete zunächst zur Algebra (Gruppen-und Verbandstheorie), später zu Differential- und Integralformen, zur Mengenlehre und Topologie. Nach Studien der Mathematik, Physik, Chemie und Philosophie in Kiel, Berlin und Göttingen wurde er 1938 in Göttingen bei dem Mathematiker Helmut Hasse »summa cum laude« promoviert. Ab 1939 war er Assistent bei Wolfgang Krull in Bonn, nach Kriegsteilnahme habilitierte er sich dort 1946. 1948/49 wurde er zu einer Gastdozentur nach Cambridge eingeladen und 1949 erhielt er in Bonn eine Diätendozentur für Mathematik und Mathematikgeschichte, ebendort 1952 eine apl. Professur.
Früh hat er Fragen nach Begründung und Sicherheit der etablierten Verfahrensweisen gestellt, ist auf den Grundlagenstreit der Mathematik und Logik gestoßen und hat sich vorgearbeitet, indem er einen originellen pragmatischen Begründungsbegriff entwickelte. Mathematik beginnt demzufolge nicht mit den Zahlen, sondern mit einer Handlungsweise, dem Zählen. Zahlen werden von uns hergestellt, sie sind Produkte von Zähloperationen bzw. von Operationen, die über solche Produkte definiert werden. Die Mathematik insgesamt wird als eine Lehre vom Operieren nach bestimmten Regeln verstanden. Weil dabei auch logisch geschlossen wird, gehört die Logik zum Fundament der Mathematik und bedarf ihrerseits einer Begründung, also eines »Anfangs«, der nicht selber schon von Logik Gebrauch macht. Die Suche danach brachte L. auf die Idee, diesen Anfang im Operieren mit Kalkülen (Algorithmen zur Generierung von Figuren) zu lokalisieren. Er definierte die »Zulässigkeit« einer Regel in einem Kalkül dadurch, daß deren Hinzufügung den Bestand ableitbarer Figuren nicht ändert. Damit waren die logischen Partikel, statt mit der Wahrheitstafelmethode, die in der modernen Logik seit Peirce und Wittgenstein üblich geworden war, über regelgeleitete Operationen definierbar und die logischen »Gesetze« ergaben sich als Regeln, die in allen Kalkülen zulässig sind. Auf diese Weise waren konstruktive, also zirkel- und regreßfreie Fundierungen des formalwissenschaftlichen Theoriebestandes gefunden, die diesen Theoriebestand aber nicht einfach reproduzierten, sondern kritischˆ – d.h. hier im Hinblick auf einwandfreie Begründetheit – zu beurteilen erlaubten. Einige mathematische Theorien (transfinite Mengenlehre) erschienen sinnlos und L. schickte sich an, mit diesem Ansatz die Mathematik und die Logik umzukrempeln.
1955 publiziert er seine Einführung in die operative Logik und Mathematik, ein Buch, das Aufsehen erregt (Wolfgang Stegmüller schreibt eine 22seitige Rezension) und die friedlichen Lagerˆ der Fachwissenschaftler durcheinanderwirbelt. Drei Jahre später erscheint unter dem Titel Formale Logik eine gesonderte und schon weiter entwickelte Darstellung der Logik. Es erweist sich, daß die operative Logikbegründung für manche technischen Probleme (insbesondere beim Vollständigkeitsbeweis) von störender Schwerfälligkeit ist. So entwickelt L. seit Ende der 50er Jahre noch eine neue, geradezu bestechende Begründung der Logik. Er definiert die logischen Operatoren mit Hilfe von stilisierten Dialogen, deren Reglement den semantischen Gehalt der Operatoren pragmatisch darstellt; nämlich in Form von Rechten und Pflichten der Dialogpartner, Aussagen zu setzen und in Frage zu stellen. Logische Wahrheit ist dann die Verfügbarkeit einer Strategie, mit der sich ein Dialog um eine komplexe Aussage gegen jeden Opponenten gewinnen läßt. Diese Idee wird zusammen mit Kuno Lorenz ausgearbeitet, macht als »Dialogische Logik« eine Zeitlang Furore (1978 erschien die Sammlung Dialogische Logik) und ist inzwischen, seit Begründungsfragen zugunsten von Durchsetzungsfragen in den Hintergrund getreten sind, zu einem originellen Ansatz von eher historischem Interesse geworden.
Weitere Forschungen und Auseinandersetzungen im Umkreis der Begründungsproblematik führen L. immer tiefer in Bereiche der allgemeinen Sprach- und Wissenschaftstheorie, die er in Konsequenz seiner kritischenˆ Perspektive von praktisch-philosophischen, bzw. moralischen und ethischen Elementen durchdrungen sieht. 1956 übernimmt er eine ordentliche Professur für Philosophie in Kiel und profiliert sich rasch zu einer Ausnahmegestalt in diesem Fach. Er ist der einzige Philosoph in Deutschland, der die Analytische Philosophie, damals hierzulande noch praktisch unbekannt, nicht nur rezipiert hat, sondern in ihren Stärken und Schwächen beurteilen kann. Entsetzt über den Zustand der deutschen Nachkriegsphilosophie, ihre Abgehobenheit, Irrelevanz und weitgehende Unkenntnis wissenschaftlicher Allgemeingültigkeit, beginnt sich L. mit Nachdruck für Logik, begrifflich präzises Denken und methodisch geordnetes Vorgehen einzusetzen. Er macht sich einen Namen als Diskussionsredner, der kurz, konzentriert, schmucklos und spöttisch über das Wesentliche zu reden beansprucht. In den Wissenschaften bleiben seine Arbeiten nicht unbeachtet, 1960 wird er Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften, doch in der Philosophie hat er einen schweren Stand. Schon ein flüchtiger Einblick in Inhalte und Umgangsformen der akademischen Philosophenzunft jener Zeit läßt ahnen, wie reserviert das Echo auf seine Auftritte sein mußte, und zwar sowohl was die Inhalte als besonders was den Tonfall betraf. Vereinzelt trifft er auf Einverständnis, insbesondere bei dem Erlanger Philosophen Wilhelm Kamlah, auf dessen Initiative in Erlangen ein zweiter Lehrstuhl für Philosophie eingerichtet wird, den L. 1962 übernimmt »aus dem einzigen Grunde«, wie er später sagt, »um mit Kamlah zusammenzuarbeiten«. Was diese beiden so verschiedenen Charaktere zusammenbrachte und über ein Jahrzehnt lang zusammenhielt, war die Einschätzung, daß die intellektuelle Elite in Deutschland im Grunde unfähig war, sich den Problemen der Zeit zu stellen, und daß es dringend erforderlich war, die Orientierung auf die Praxis in Alltag und Wissenschaft zu richten und ein Bewußtsein von geeigneten sprachlichen und begrifflichen Strukturen für vernünftige Problemlösungen zu erzeugen. Mit der Übersiedlung nach Erlangen begann die zweite Phase in L.s Wirken, die bestimmt ist durch eine Wendung von den formalen zu den materialen Problemen, nämlich den Grundlagenfragen des empirischen Wissens, der Ethik und der Politik.
Seit 1961 hatte er sich mit Geometrie beschäftigt, die er weder als Mathematik noch als empirische Physik aufzufassen vorschlug. Der bahnbrechende Aufsatz »Das Begründungsproblem der Geometrie als Wissenschaft der räumlichen Ordnung« eröffnet die Perspektive einer der empirischen Physik vorausgehenden Konstitutions- und Begründungsdisziplin namens »Protophysik»: »Die Geometrie stellt den ersten Schritt dar, der über die reine Mathematik hinaus zu einer Physik führt. Ich möchte diese Geometrie deshalb eine protophysikalische Theorie nennen. In der Protophysik handelt es sich nicht mehr – wie in der reinen Mathematik – um die Konstruktion von Symbolsystemen und um das formale Operieren mit solchen selbsterzeugten Symbolen. Die Protophysik greift vielmehr schon in die uns umgebende Wirklichkeit über. Allerdings beschreibt sie nicht das Verhalten wirklicher Körper, sie schreibt ihnen vielmehr gewisse Grundformen vor.« In Erlangen wird dieses Protophysik-Konzept ausgebaut, es soll die vier klassischen Grundgrößen der Physik, also Raum, Zeit, Masse und Ladung, umfassen und durch Rekonstruktion der entsprechenden Meßverfahren – bzw. durch Definition von Meßgeräten über ideale Forderungen – die Datenerhebung der empirischen Wissenschaft auf eine zirkelfreie Grundlage stellen.
1965, zu Kamlahs 60. Geburtstag, publiziert L. mit dem Aufsatz Methodisches Denken (1968 in einem Sammelband gleichen Titels nachgedruckt) eine Art Programmschrift für den Beginn der gemeinsamen Arbeit. Die Themen der sprachlichen Klärung und logischen Disziplinierung sowie der Rekonstruktion wissenschaftlicher Grundbegriffe werden angesprochen und mit dem Appell verbunden, das Denken nicht um seiner selbst, sondern um der Orientierung im praktischen Leben willen zu treiben und zu verbessern.
Als erstes Produkt der Zusammenarbeit mit Kamlah erscheint 1967 die Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens. Hier wird der Leser in einem schrittweisen methodischen Aufbau an die Logik herangeführt, eine Logik, die definitiv kein formalwissenschaftliches System für das Ableiten von Symbolen mehr ist, sondern eine Lehre des verständlichen und im Hinblick auf Geltungsansprüche kontrollierbaren Redens und Argumentierens. Es wird gezeigt, wie sich semantische Gehalte von Wörtern in vorwissenschaftlicher Redekompetenz stabilisieren und zu wissenschaftlichen Terminologien ausbauen lassen und wie sich dann, ohne Rückgriff auf einen korrespondenztheoretischen (zirkulären) Wahrheitsbegriff, beginnend mit Elementarsätzen und fortschreitend zu beliebig komplexen Sätzen, Geltungsansprüche im wissenschaftlichen Dialog klären und einlösen lassen.
Die Logische Propädeutik erweist sich als sehr erfolgreich, avanciert in einigen Bundesländern zum Schulbuch. Das dargestellte Verfahren der sprachkritischen Normierung und Disziplinierung des Redens wird in Erlangen inszeniert und führt zu einer besonderen Sprach- und Diskussionskultur. Man bemüht sich um genaues, der jeweils mitgeführten Beweislasten bewußtes Sprechen, erreicht auch wirklich eine gewisse Geschlossenheit auf hohem Niveau und wird von Außenstehenden zunehmend als Erlanger Schuleˆ wahrgenommen.
Es bildet sich ein allgemeiner Begriff der »konstruktiven Methode«. Das ist ein Vorgehen, bei dem ein Wissen bzw. ein Stück Theorie aufgebautˆ wird, indem es aus einem Zustand, da es noch nicht verfügbar ist, durch Aufgreifen von (u. U. selber erst noch herzustellenden) Voraussetzungen schrittweise – ohne Lücken und ohne Zirkel und insofern allgemein nachvollziehbar – hergestellt wird. Diese konstruktive Methode wurde einem zirkulären oder axiomatischen Vorgehen, bei dem die Anfänge entweder durch zirkuläre Definitionen herbeigezaubert oder einfach gesetztˆ wurden, entgegengestellt. Selbstverständlich sind und bleiben derartige Unterschiede relevant. Um so bedauerlicher war es, daß die durch die konstruktive Methode erlangte Kompetenz bei den Schulangehörigen gern zu einer besonderen Ambitioniertheit führte, mitunter zu einem veritablen Sendungsbewußtsein, was dann auf Tagungen und Kongressen als eine Vervielfältigung der Zumutungen wahrgenommen wurde, durch die vordem nur L. selber aufgefallen war.
Dabei war L. im persönlichen Umgang gelöst, heiter, zu Scherzen und Frotzeleien aufgelegt, hatte Vergnügen an Witzen, Anekdoten, schrieb seitenlange gereimte Elogen zu Geburtstagen und Institutsfeiern. Das Liebste war ihm, seine intellektuelle Überlegenheit durch Späße abzumildern. Fand er jedoch beim Gegenüber Anzeichen von persönlicher Eitelkeit, Gleichgültigkeit oder Verachtung für die Wahrheitssuche, dann konnte er scharf und verletzend werden.
Im Protophysik-Programm unternimmt L. als nächsten Schritt die Rekonstruktion der Zeit als physikalischer Meßgröße. Eine zirkelfreie Definition der Uhr wird entworfen und von Peter Janich ausgebaut. Physiker und Wissenschaftstheoretiker beginnen, das Programm zu diskutieren, die konstruktive Wissenschaftstheorie wird als interessante Alternative zur analytischen wahrgenommen. L. wird Mitglied der Académie Internationale de Philosophie des Sciences (Brüssel) und des Institut International de Philosophie (Paris). Er erhält drei Rufe an deutsche und amerikanische Universitäten, die er ablehnt, um mit dem in Erlangen aufgebauten Kreis weiterarbeiten zu können.
Ab 1967 wendet L. sich mit Entschiedenheit der praktischen Philosophie zu. Er beabsichtigt, für die Ethik eine ähnliche sprachkritische Grundlegung zu schaffen, wie er sie für die Formalwissenschaften und die Physik (später: die technischen Wissenschaften) auf den Weg gebracht hatte. Wieder steht L. zunächst fast allein da. Sein Ziel einer »normativen Ethik« wird zu einer Zeit definiert, als es in Deutschland keine Bemühungen um Moral, Ethik oder praktische Philosophie gibt. Das Thema des Praxisbezugs der Philosophie ist von der kritischen Theorie der Frankfurter Schule und der auf gesellschaftliche Befreiung sinnenden Studentenschaft vereinnahmt. L. hingegen sucht nach Grundbegriffen und Prinzipien, über die das wissenschaftstheoretische Grundlegungsprogramm auf die moralischen und gesellschaftlichen Belange des Menschen ausdehnbar wären.
Über die Grundlegung der praktischen Philosophie wird im Erlanger Kreis jahrelang gestritten. Die Übertragbarkeit des konstruktiven Programms auf praktische Probleme erweist sich als sperrig. Eine gewisse Zielverwandtschaft mit der von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas anvisierten »Diskurstheorie« wird bemerkt. 1970 kommt es zu einer gemeinsamen Konferenz in Erlangen. L. diskutiert öffentlich mit Habermas, man wirbt um einander, doch die gemeinsame Ausrichtung auf die vernünftige Weltgestaltung erweist sich als zu wenig tragfähig, um die Verschiedenheit der Mittel und Wege auszugleichen.
Endlich erscheint 1973 das zusammen mit Oswald Schwemmer geschriebene Buch Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie. L.s Ziele sind hier auf dem Zenit. Es handle sich um den Versuch, heißt es im Vorwort, »lückenlos ein hinreichendes System von Grundbegriffen (einschließlich aller syntaktischen Mittel) von Logik, Ethik, Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte und Sozialwissenschaften so zu konstruieren, daß der Ausbau der hier vorgeschlagenen Orthospracheˆ von den Fachwissenschaften in ihren Fachsprachen fortgesetzt werden kann.« Das System vereinigt die bisher in Logik, Mathematik und Protophysik erreichten Resultate mit einer auf zwei Prinzipien basierenden Ethik, einer »Theorie des historischen Wissens« (Grundüberlegungen zu Naturgeschichte und Hermeneutik) und einer »Theorie des praktischen Wissens« (Grundüberlegungen zu Erfassung und Verbesserung der Normenstruktur beliebiger Gesellschaften). Die Darstellung ist explizit gegen den Szientismusˆ gerichtet; das ist die Bezeichnung für eine Position, in der die Naturwissenschaften in ihrer faktischen Gestalt zum Maßstab exakter Klärung und Verifikation von Geltungsansprüchen gemacht werden.
Es ist der Anspruch auf Vollständigkeit und auf erreichte Vernünftigkeit dieses Programms, die Behauptung, eine transdisziplinäre Orthospracheˆ nicht nur anzuvisieren, sondern erstellt zu haben, sowie die Kulturkritikˆ und Kulturreformˆ mit Hilfe einiger holzschnittartig angedeuteter Prinzipien, die dem Werk sowohl extern wie auch intern eine gehörige Sprengkraft verleihen. Führende Mitglieder der Erlanger Schule bemühen sich um vorsichtige Distanzierung, in der 2. Auflage wird das »Ortholexikon« zurückgenommen, nach Auseinandersetzungen über Ethik und Politik bzw. Kulturreform sagt sich der Co-Autor vom Programm los.
Inzwischen hält L. regelmäßig Gastvorlesungen in den USA, 1967–71 in Austin/Texas, 1972–75 in Boston/Mass. Er wird mit zwei Ehrendoktoraten ausgezeichnet. Ausgewählte Aufsätze erscheinen als Sammelbände: Konstruktive Wissenschaftstheorie (1974), Theorie der technischen und politischen Vernunft (1978). Er erhält noch einen Ruf, für dessen Ablehnung ihm die Gründung des Interdisziplinären Instituts für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung in Erlangen ermöglicht wird.
1980 läßt sich L. emeritieren und ist von nun an bemüht, sein Lebenswerk zu vollenden und abzurunden. Er läßt das Bemühen um eine Individualethik fallen und konzentriert sich auf die Grundlegung einer ethisch orientierten Politik als Alternative zur faktischen Real-oder Machtpolitik, die eine vernünftige soziale Organisation nicht herbeiführen kann. 1981 erscheint der Aufsatz »Politische Anthropologie« (1985 in der Sammlung Grundbegriffe technischer und politischer Kultur nachgedruckt), in dem auf der Grundlage eines kleinen Systems anthropologischerˆ Termini unser gegenwärtiger Zustand als posttraditional diagnostiziert wird: Es gebe »keine traditionale Autorität mehr«, an welche die Menschen gebunden seien. Daher könne jetzt das Prinzip der »Transsubjektivität« (Prinzip der Distanzierung von mitgebrachten Festlegungen des Subjekts) das Argumentieren zur politischen Willensbildung leiten. Um eine friedliche Republik zu erreichen, sollten einander ausschließende Lebensformen zu einem verträglichen System umgearbeitet werden. Die Einbindung der neuen Einsichten führt L. zu Revisionen des Programms, die 1987 im Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie abschließend formuliert werden. Mittlerweile hat sich das Interesse der Öffentlichkeit und der deutschen Philosophie vom Konstruktivismus abgewendet. L. übersiedelt nach Göttingen, es wird ruhig um ihn, 1994 stirbt er. Wenn seine Sätze aus dem Aufsatz »Methodisches Denken«, beim Philosophieren gehe es darum, »sein Leben aufs Spiel des Denkens zu setzen«, auf einen Menschen zutreffen, dann auf ihn.
Scheibe, Eberhard: Nachruf Paul Lorenzen. In: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen (1996), S. 251–259. – Thiel, Christian: Paul Lorenzen (1915–1994). In: Zeitschrift für allg. Wissenschaftstheorie 27 (1996), S. 1–13. – Kötter, Rudolf/Inhetveen, Rüdiger: Paul Lorenzen. In: Philosophia Naturalis 32 (1995), S. 319–330. – Lorenz, Kuno (Hg.): Konstruktionen versus Positionen. Beiträge zur Diskussion um die konstruktive Wissenschaftstheorie, 2 Bde. Berlin u.a. 1979.
Harald Wohlrapp
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