Metzler Philosophen-Lexikon: Longinos
Vermutl. 1. Jahrhundert n. Chr.
Der Autor der kleinen Schrift Vom Erhabenen (Perì hýpsus) war zweifellos umfassend gebildet; er überschaute die Poesie, Rhetorik, Philosophie und Geschichtsschreibung in ihrer historischen Entwicklung und beurteilte deren einzelne Vertreter mit erstaunlicher Sicherheit. Der Begriff des Erhabenen, den er ins Zentrum der Schrift stellt, geht über die Grenzen von Literatur und Philosophie hinaus; er zielt auf eine grundsätzliche Kritik der eigenen Gegenwart, vermutlich der beginnenden Kaiserzeit, die im Schlußkapitel der Schrift als eine Epoche des moralischen und politischen Verfalls dargestellt wird. Das Ideal erhabener Größe wird dagegen am Beispiel des klassischen Griechenlands entwickelt, das von Homer bis zu Demosthenes reicht. Hier findet der Autor die heroische Entschlossenheit, die politische Selbstbestimmung und den philosophischen Enthusiasmus, das Erhabene also, das er in der eigenen Zeit so schmerzlich vermißt.
Seit dem ersten Druck (1554) wurde die Schrift meist einem Dionysios Longinos zugeschrieben. Diese Zuschreibung kann sich auf den Codex Parisinus 2036 (10. Jahrhundert n. Chr.) berufen, wo tatsächlich über dem Text »Dionysios Longinos« als Verfasser angegeben ist. Das Inhaltsverzeichnis derselben Handschrift zeigt aber den Eintrag »Dionysios oder Longinos«. Da ein »Dionysios Longinos« sonst nirgends erwähnt wird, handelt es sich bei der Autorenzuweisung über dem Text vermutlich um eine mißverstandene Zusammenziehung des Zuschreibungsvorschlags aus dem Inhaltsverzeichnis. Doch kommen auch Dionysios (von Halikarnaß) oder (Kassios) Longinos, die das Inhaltsverzeichnis vorschlägt, als Verfasser der Schrift, wie die neuere Forschung aus stilistischen und chronologischen Gründen nachgewiesen hat, nicht in Betracht. Die Verfasserschaft bleibt also weiterhin ungeklärt.
Ausgehend von seiner klassizistischen Grundhaltung versucht der Verfasser, in exemplarischen Analysen das komplexe Phänomen des Erhabenen zu erschließen und seine unterschiedlichen Aspekte zu entwickeln. Trotz des Verlustes von etwa einem Drittel des Textes läßt sich der Gedankengang der Schrift gut rekonstruieren. Sie beginnt mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für das erhabene Pathos. Es wirke »wie ein Blitz, der die Dinge auseinandersprengt«, bilde den einprägsamen »Höhepunkt und Gipfel« der Rede und bleibe dem Hörer unauslöschlich in Erinnerung. Von der Wirkung des Erhabenen geht der Verfasser zurück zu den Voraussetzungen. Hier liegt der eigentliche Neuansatz der Schrift innerhalb der rhetorischen Tradition. Die Überwältigungskraft wird nicht mehr allein von der gewählten Stilhöhe abgeleitet, sie wird vielmehr auf die natürliche Begabung des Autors zurückgeführt, auf seine gedankliche Konzeptionskraft und seine Fähigkeit zu heftigem und begeistertem Pathos. Die natürlichen Anlagen gelten mehr als das technische Können. Die traditionelle Rhetorik erhält derart eine ethische Grundlage, die ausführlich dargestellt wird: Das Pathos ermögliche den Durchbruch zum Erhabenen. Es erfülle den Menschen mit dem Verlangen, die Grenzen, die ihn umgeben, zu überschreiten, und lasse ihn den gesamten Kosmos in seiner Naturgewalt, Größe und Schönheit erschauen. Im Erhabenheitserlebnis werde die höchste Bestimmung des Menschen erfahrbar. Das hier zugrundeliegende Modell des begeisterten Aufschwungs ist bei Platon vorgegeben. Der Verfasser zitiert ihn ausführlich, um die Momente der Selbstüberschreitung, des Eros und des Enthusiasmus zu erläutern. Gegenüber dieser philosophischen Grundlegung kommt der technischen Anleitung nur sekundäre Bedeutung zu. Auf der Grundlage der traditionellen Rhetorik wird die pathossteigernde Kraft der einzelnen Mittel erörtert. An einschlägigen Beispielen, zumeist an gut überschaubaren Zitaten, demonstriert der Verfasser die spezifische Wirkung der Figuren, der Diktion und der Satzfügung. Die technische Schulung soll die natürliche Begabung komplementieren. Doch dürfe sich das Regel-Wissen nicht verselbständigen, denn die bloße Beherrschung der Regeln führe nur zu gesundem Mittelmaß. Umgekehrt jedoch seien die erhabenen Autoren am wenigsten fehlerfrei. Mit der suggestiven Alternative von tadelloser Mittelmäßigkeit und grandioser Fehlerhaftigkeit bezieht der Verfasser eine entschiedene Position innerhalb der literaturtheoretischen Diskussion seiner Zeit: Er wendet sich gegen das hellenistische Literaturideal mit seiner Anmut, Transparenz und Urbanität. Dagegen setzt er den Akzent auf Größe, Leidenschaft und Überwältigungskraft. Das erhabene Pathos wird zum entscheidenden Kriterium. Zur Illustration dient ein Kanon klassischer Autoren. Homer, Pindar, Sophokles, Platon, Thukydides und Demosthenes werden zu unübertrefflichen Mustern. Bemerkenswert ist die Weltläufigkeit, mit der der Verfasser nebenher Ciceros Stil charakterisiert oder den alttestamentarischen Schöpfungsbericht als besonders erhaben würdigt. In seinem eigenen Stil paßt sich der Verfasser den literarischen Vorbildern an. Er schreibt lebendig, pointiert und bilderreich, bisweilen auch höchst pathetisch. Durch die Methode der kontrastierenden Gegenüberstellung, etwa der Ilias mit der Odyssee oder Platons mit Demosthenes, gelingt es ihm, charakteristische Stilmerkmale konzise herauszustellen. Durchweg urteilt er mit Anteilnahme und Prägnanz.
Schon bald nach ihrer Entdeckung genoß die Schrift ein hohes Ansehen unter den Humanisten, ihr Autor wurde als »principe dei critici« (Vico) gefeiert. Durch Boileaus Übersetzung (1674) wurde der recht schwierige griechische Text einem breiten Publikum erschlossen und regte eine intensive Diskussion an. In dem Streit um die Autorität der antiken Autoren (der sog. »Querelle des anciens et des modernes«) wurde L. zu einer maßgeblichen Instanz der klassizistischen Partei. Andererseits erlaubte der Bezug auf ihn die Zuwendung zum erhabenen Stil: Dem mittleren Stil der Aufklärung wurde der hohe, pathetische Stil gegenübergestellt, das stürmische Umstimmen und Ergreifen trat in Konkurrenz zum Einnehmen und Belehren. Im Bemühen um den hohen Stil konnten sich insbesondere das religiöse Epos (Milton, Klopstock) und die enthusiastische Ode als neue literarische Formen durchsetzen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ging die L.-Diskussion von der Rhetorik auf die Philosophie über: Das Erhabene wurde vom Schönen unterschieden und spezifisch begründet. Die wichtigsten Etappen der philosophischen Diskussion bildeten die Untersuchungen Burkes (1757), Mendelssohns (1758), Kants (1764, 1790) und Schillers (1792–1796). Im Rahmen der philosophischen Diskussion verlor L. dann schnell an Bedeutung. Seine Schrift hatte den entscheidenden Impuls zur Auseinandersetzung mit dem Erhabenen gegeben und traf infolgedessen seither auf ein reges literatur- und philosophiegeschichtliches Interesse.
Baltes, Matthias: Art. »Longinos«. In: Der Neue Pauly. Stuttgart/Weimar 1996ff., Bd. 7, Sp. 434–436. – Fuhrmann, M.: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles, Horaz, Longinos. Darmstadt 21992, S. 162–202.
Martin Vöhler
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