Metzler Philosophen-Lexikon: Thomasius, Christian
Geb. 1. 1. 1655 in Leipzig;
gest. 23. 9. 1728 in Halle
»Von der Geschicklichkeit, die Wahrheit durch eigenes Nachdenken zu erlangen«, handelt das erste Hauptstück der Vernunftlehre, die Th. 1691 in Halle veröffentlichte. Der Horizont seines philosophischen Denkens ist damit präzise umrissen. Eine auf die praktischen Erfordernisse des Lebens ausgerichtete Weisheits- und Tugendlehre, erlernbar für jedermann – nicht mehr, aber auch nicht weniger sah Th. als Summe und Zweck allen Philosophierens an. Die Betonung indes lag auf dem »eigenen Nachdenken«. Und wie Th. damit umging, das versetzte nicht nur die akademische Prominenz seiner Zeit in Wut und Schrecken, sondern sicherte ihm auch einen unvergänglichen Platz in der Geistesgeschichte der deutschen Aufklärung, weit über die theoretische Bedeutung einzelner Schriften hinaus. – Wahrhaft »ätzend« muß Th. auf die Professoren der damaligen Leipziger Universität gewirkt haben: Der junge Privatdozent betrat das Katheder nicht im Talar, sondern gekleidet als »galant homme«, mit Federhut und Kavaliersdegen; seine erste Vorlesung galt Hugo Grotius und Samuel Pufendorf, den verhaßtesten Feinden der Leipziger Theologen. Die sofort einsetzenden Versuche, den Störenfried bei der kursächsischen Obrigkeit anzuschwärzen und von der Universität zu entfernen, stießen jedoch auf Schwierigkeiten. Th. entstammte selbst einer der angesehensten Leipziger Gelehrtenfamilien. 1655 als Sohn des berühmten Jakob Th. geboren, der Leibniz zu seinen Schülern zählte, aufgewachsen im Milieu des protestantischen Bildungsbürgertums, nach untadeligem Studium zum Doktor beider Rechte promoviert, war der rebellische junge Gelehrte mit allen theologischen Spitzfindigkeiten und rhetorischen Kniffen seiner Gegner bestens vertraut. Daß er sich neun Jahre lang an der Leipziger Universität, dem Zentrum der protestantischen Orthodoxie, halten konnte, verdankte er nicht nur diesen Fähigkeiten, sondern auch dem Offensivgeist, mit dem er den auf Ketzerei und Atheismus lautenden Angriffen Paroli bot.
Für das Sommersemester 1687 kündigte er eine Vorlesung in deutscher Sprache an – eine Herausforderung angesichts der Tatsache, daß das schwarze Brett einer deutschen Universität kaum je durch ein deutsches Vorlesungsprogramm entweiht worden war, zugleich eine scharfe Attacke gegen das Bildungsmonopol der nur lateinisch kommunizierenden akademischen Hierarchie. Die nächste Provokation folgte auf dem Fuß. 1688 antwortete Th. auf das gegen ihn entfesselte Kesseltreiben mit der Herausgabe einer Monatsschrift Schertz- und Ernsthaffter, Vernünftiger und Einfältiger Gedancken über allerlei Lustige und Nützliche Bücher und Fragen. Zwei Jahrgänge dieser »Monatsgespräche« konnten erscheinen. Ihr Verdienst, die erste wissenschaftliche Zeitschrift in deutscher Sprache zu sein, wird nicht dadurch geschmälert, daß sie zugleich – lange vor den moralischen Wochenschriften – das Fundament für ein journalistisches Feuilleton in Deutschland legten. Denn Th. ließ es nicht dabei bewenden, wichtige Bücher des In- und Auslandes zu rezensieren; er nutzte seine Zeitschrift auch für satirische Ausfälle gegen das, was er am meisten haßte: »die Pedanterei und Heuchelei, die den Titel der Gelehrsamkeit und Tugend mißbrauchen« (Vorrede zur Ausgabe Januar 1689).
Besonders diese den galanten französischen Roman parodierenden Publikationen fuhren wie ein Wirbelwind in die staubtrockene Leipziger Gelehrtenwelt. Verschlüsselt, aber mit beißendem Hohn porträtierte er die Barbons und Tartuffes unter seinen Professorenkollegen; und er schrieb und druckte einen kleinen Roman, der Aristoteles, den Papst der protestantischen Schulweisheit, als zwielichtig-opportunistische Figur dem Gelächter preisgab. Das war endgültig zuviel. Eine aus ganz anderem Anlaß angezettelte Intrige, in die sich auch die dänische Hofdiplomatie einschaltete, wurde für Th. lebensgefährlich. Bei Nacht und Nebel flüchtete er im März 1690 nach Berlin. Prompt richtete ihm Friedrich III., der Kurfürst von Brandenburg und spätere König in Preußen, eine Professur in Halle ein, was der Gründung einer neuen Universität gleichkam. Schon zwei Jahrzehnte später hatte die Hallesche Gelehrtenschule, die Th. aufbaute, die alte Leipziger Alma Mater an Ansehen und Zulauf weit überflügelt.
»Das Licht der Natur und das Licht der Offenbarung«, schrieb Th. schon in einer seiner ersten Publikationen (Institutiones jurisprudentiae divinae, 1682), »sind verschiedene Quellen; die Theologie ist aus der Schrift, die Philosophie aus der Vernunft herzuleiten. Der Zweck der Philosophie ist das irdische Wohlsein des Menschengeschlechts, der Zweck der Theologie das himmlische.« Fußend auf der Naturrechtslehre, wie sie von Grotius und Pufendorf schon vor ihm ausgearbeitet worden war, bestritt Th. energisch den Anspruch der Theologie, höchste Autorität in Fragen der Philosophie und der Wissenschaft sein zu wollen. Unter dem Einfluß des Pietismus und seiner Freunde August Hermann Francke und Philipp Jacob Spener milderte Th. zeitweise die Schärfe seiner Polemik, nahm diesen Anfall von Reue aber zurück, als er bei den Pietisten zunehmend doktrinär-autoritäre Züge feststellte. In Grundfragen seines aufklärerischen Programms blieb er fest: in seiner Forderung nach einer Trennung von Kirche und Staat, christlicher Moral und profanem Recht, auch in dem, was er als Philosoph und Pädagoge lehrte. Wo er sich selbst bei Schwankungen zwischen Autoritätsgläubigkeit und »eigenem Nachdenken« ertappte, räumte er seine Irrtümer in öffentlicher Selbstkritik ebenso schonungslos ein, wie er seine Kritik gegen andere vorbrachte. So geschehen nicht nur in seiner Affäre mit dem Pietismus, sondern auch in der Angelegenheit, die ihn für die Nachwelt besonders verehrungswürdig gemacht hat: In einem juristischen Gutachten, das er bei einem Hexenprozeß 1694 in Halle ablieferte, plädierte er für die mildeste Form der Folter; beschämt über die Ablehnung dieses Gutachtens durch seine Universitätskollegen, die auf Freispruch erkannten, gestand Th. diesen Irrtum öffentlich ein und begann mit jahrelangen Studien zur Rechtsproblematik der Hexenprozesse. Seine 1703, 1712 und 1723 dazu veröffentlichten Schriften waren theologisch, juristisch und historisch so überzeugend, daß sie die Abschaffung des grauenhaften Folter- und Prozeßterrors gegen angebliche Hexen förmlich erzwangen.
Als Th. 1728 im Alter von 73 Jahren in Halle starb, hinterließ er kein philosophisches System, aber etwas zu dieser Zeit ungleich Wertvolleres: Jedem spekulativen Denken abhold, hatte seine Vernunft und Moral in eins setzende Lehre eine Brücke geschlagen über den Abgrund, der sich zwischen Wissenschaft und lebendiger Wirklichkeit aufgetan hatte. Anders als Leibniz, der ein tieferer Denker und zugleich geschmeidiger Hofmann war, wählte Th. den Weg der bürgerlichen Öffentlichkeit. Mehr kritischer Publizist als Philosoph, öffnete er Fenster und Türen, um einen frischen Durchzug zu ermöglichen, dem die spätere Philosophiegeschichte Außerordentliches verdankt.
Lutterbeck, Klaus-Gert: Staat und Gesellschaft. Christian Thomasius und Christian Wolff. Stuttgart 2002. – Kühnel, Martin: Das politische Denken von Christian Thomasius. Berlin 2001. – Schmidt, Werner: Ein vergessener Rebell. Leben und Wirken des Christian Thomasius. München 1995. – Lieberwirth, Rolf: Christian Thomasius. Sein wissenschaftliches Lebenswerk. Eine Biographie. Weimar 1955.
Dietrich Kreidt
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