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Der Mathematische Monatskalender: Norbert Wiener, ein Mathematiker, der nicht rechnen wollte

In der Schule stach er mit seinem Talent hervor. Doch Mathe mochte er nicht. Und auch als Erwachsener mussten andere ihn überzeugen, sich dem abstrakten Fach zu widmen.
Plastiksymbole bilden die Gleichung 2 + 2 = ?
Mathematik zählt nicht zu den beliebtesten Fächern – selbst bei einigen weltberühmten Mathematikern war das so.

Der mathematische Monatskalender

Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie  hier.

Eigentlich wollte Leo Wiener, der aus Białystok (heute: Nordostpolen) stammte, nach Abbruch seines Hochschulstudiums nach Mittelamerika auswandern, um sich dort einer vegetarisch-sozialistischen Kommune anzuschließen. Aus Geldmangel endete seine Reise jedoch in New Orleans.

In den nächsten Monaten verdiente Wiener seinen Lebensunterhalt mit verschiedenen Arbeiten in Fabriken und auf Farmen; dann fand er eine Beschäftigung als Sprachlehrer (angeblich beherrschte er 30 Fremdsprachen), schließlich wurde er an der Universität von Missouri in Kansas angestellt. 1896 wurde Leo Wiener der erste Professor für slawische Sprachen an der Harvard University; er übersetzte unter anderem die Werke von Leo Tolstoi ins Englische.

1893 heiratete Leo Wiener die aus Deutschland eingewanderte Bertha Kahn; im Jahr darauf wurde ihr Sohn Norbert geboren. Dieser konnte bereits sehr früh lesen; in der Bibliothek des Vaters fand der Junge ausreichend Lektüre, die ihn interessierte. Als Norbert im Alter von sieben Jahren eingeschult werden sollte, gab es Schwierigkeiten, eine geeignete Klasse für ihn zu finden – in vielen Dingen war er sogar den Schülern des vierten Schuljahrs weit voraus, in anderen hatte er Schwierigkeiten, insbesondere im Rechnen. Der Junge sah nicht ein, warum er das Rechnen üben sollte.

Daher übernahm der Vater Norberts weitere schulische Erziehung. Probleme mit der Sehfähigkeit des Jungen veranlassten den behandelnden Arzt, diesem für sechs Monate jegliche Lektüre zu verbieten, was dazu führte, dass Norbert in dieser Zeit alle Übungen im Kopf ausführen musste. Von 1903 an besuchte das Wunderkind eine Highschool, die er mit elf Jahren verließ, dann das Tufts College, das er 1909 mit einem Bachelor in Mathematik abschloss. Damals war er gerade einmal 14 Jahre alt.

Danach entschied sich Norbert Wiener für ein Studium der Zoologie in Harvard, erkannte aber bald, dass dies eine falsche Entscheidung war. Er nahm ein Stipendium für ein Philosophie-Studium der Cornell University an, kehrte im folgenden Jahr wieder nach Harvard zurück, wo er 1913 im Alter von 18 Jahren als jüngster Doktorand in der Geschichte Harvards über ein Thema in mathematischer Logik promoviert wurde.

Mathematik darf nicht den Bezug zur Realität verlieren

Dank eines Reisestipendiums setzte er danach seine Studien in Europa fort: Bertrand Russell empfahl ihm, sich mehr mit Mathematik zu beschäftigen. Aber weder die Anregungen von Godfrey Harold Hardy, John Endensor Littlewood in Cambridge noch die von David Hilbert oder Edmund Landau in Göttingen konnten Norbert Wiener davon überzeugen, sich für reine Mathematik als zukünftigem Schwerpunkt seiner Forschungen zu entscheiden. Vielmehr kam dieser zur Überzeugung, dass man die Welt außerhalb nicht einfach ignorieren dürfen, Mathematik also stets auch unter dem Aspekt ihrer Anwendbarkeit betreiben sollten.

Zurück in Harvard übernahm er als Dozent Vorlesungen in Philosophie, arbeitete zeitweise für General Electric, wurde Mitautor der »Encyclopedia Americana« und beteiligte sich nach dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg an den Ballistikstudien von Oswald Veblen. Nach Kriegsende nahm er eine Stelle als Hilfslehrkraft für Mathematik am Massachusetts Institute of Technology an, einer zum damaligen Zeitpunkt noch unbedeutenden Einrichtung. Er blieb dort bis zu seiner Pensionierung (ab 1924 als assistent professor, ab 1929 als associate professor, von 1932 bis 1960 als full professor) – unterbrochen durch zahlreiche Gastprofessuren in aller Welt. Wiener trug durch seine wissenschaftlichen Beiträge nicht unwesentlich zum internationalen Ruhm Harvards bei, eine tatsächliche Anerkennung innerhalb der Hochschule vermisste er jedoch.

Wieners erster Forschungsschwerpunkt war die brownsche Bewegung, für die er eine überraschend einfache Modellierung fand (so genannter Wiener-Prozess). Hierauf folgte dann die Untersuchung allgemeiner stochastischer Prozesse und Fourier-Reihen, für deren Ergebnisse er in späteren Jahren mit dem Bôcher Memorial Prize der American Mathematical Society ausgezeichnet wurde.

Eine Briefmarke mit einem Schwarz-Weiß-Foto von Norbert Wiener, einem Mann mit Brille und Anzug. Oben steht »Norbert Wiener (1894–1964)« und unten »Mathematica«. Die Briefmarke hat einen gezackten Rand.

Während des Zweiten Weltkriegs befasste er sich mit der automatischen Steuerung von Flugabwehrgeschützen durch die Modellierung des zu erwartenden Flugverhaltens von Piloten. Auch untersuchte er – parallel zu und unabhängig von Claude Shannon und Andrei Kolmogorov –, wie die Rauschunterdrückung bei Nachrichtensignalen (etwa bei Radarsignalen) optimal erfolgen kann, was heute als Wiener-Filter bekannt ist.

Norbert Wiener gilt als der Vater der so genannten Kybernetik, der wissenschaftlichen Disziplin, die sich mit der Steuerung und Regelung von Maschinen beschäftigt – in Analogie zu Prozessen bei lebenden Organismen und sozialen Organisationen, deren Handlungen durch Beobachtung und Kommunikation (als Rückkopplungen) beeinflusst werden. Der von Wiener geprägte Begriff stammt aus dem griechischen Wort κυβερνήτης, was Steuermann bedeutet.

Als Geburtsstunde der Kybernetik wird ein von John von Neumann initiiertes interdisziplinäres Treffen von Mathematikern, Ingenieuren und Neurowissenschaftlern im Jahr 1943 angesehen, bei dem es um die Erforschung von Gemeinsamkeiten von Gehirn und Computer ging. Nach dem Krieg popularisierte Wiener das Themas durch sein Aufsehen erregendes Buch »Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine«. Darin ging er unter anderm auf die Analogie von Denkprozessen im menschlichen Gehirn und der zukünftig erhofften Arbeit mit elektronischen Rechnern ein und verglich die natürliche Regulierung der Körpertemperatur mit dem technischen Regelkreis eines Thermostaten.

Ein zerstreuter Wissenschaftler

Bei seinen wissenschaftlichen Beiträgen hatte Wiener große Schwierigkeiten, sich auf seine Leser einzustellen – wie zufällig wechselte er das Anspruchsniveau seiner Ausführungen zwischen dem, was eher für Laien, für Studierende, für Fachmathematiker oder für Menschen seiner Genialität geeignet war. Ebenso sprunghaft war oft seine Gedankenführung in seinen Vorlesungen und Vorträgen wie auch im privaten Gespräch. Ihm selbst war es nicht bewusst, wie er auf seine Gesprächspartner oder seine Zuhörerschaft wirkte. Gleichwohl hatten negative Rezensionen seiner populären Bücher nur wenig Einfluss auf die Verkaufszahlen, enthielten sie doch eine Fülle von faszinierenden Gedankengängen, die über Widersprüche und fachliche Fehler hinwegsehen ließen.

Zahlreiche Episoden charakterisieren Wiener als Musterbeispiel eines zerstreuten Wissenschaftlers, der in Gedanken seine Umwelt vergaß. So soll er nach einer Tagung in Yale die 150 Meilen mit dem Bus nach Hause gefahren sein und sich dann gewundert haben, dass seine Garage leer war. Selbst nach der Diebstahlsanzeige bei der Polizei erinnerte er sich nicht mehr daran, dass er mit seinem Wagen zu der Tagung gefahren war. Ein anderes Mal hatte er vergessen, wie sein Auto aussah, und musste deshalb mehrere Stunden warten, bis sein Fahrzeug als letztes auf dem Parkplatz übrig war. Zu seiner Zerstreutheit kam noch seine extreme Kurzsichtigkeit hinzu, wodurch er Mühe hatte, Personen wiederzuerkennen, auch solche, die ihm eigentlich wohlbekannt waren.

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg geriet der im Allgemeinen freundliche und mitteilsame Wissenschaftler in die Beobachtung der US-amerikanischen Sicherheitsbehörden, da er bei der Auswahl seiner Gesprächspartner nicht auf deren Nationalität achtete. Nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki stellte der sich konsequent vegetarisch ernährende Forscher jegliche Mitwirkung an militärischen Projekten ein, was zu einem Zerwürfnis mit John von Neumann führte. Auch sah Wiener zunehmend die Gefahr, dass der Fortschritt, der durch die Automatisierung nach kybernetischen Gesichtspunkten erfolgen würde, missbraucht werden könnte.

Wiener war zwar jüdischer Herkunft, aber weder er noch seine Eltern und Großeltern waren praktizierende Juden; gleichwohl wählten seine Eltern für ihn eine jüdische Ehefrau aus, mit der er zwei Töchter hatte.

Auch wenn der Schwerpunkt seiner Forschungen in den Anwendungsbereichen lag, darf man die Fülle an Sätzen in verschiedenen Teilbereichen der reinen Mathematik nicht übersehen, von denen zahlreiche heute Wieners Namen tragen. Wiener wurde zweifach zu Hauptvorträgen auf den Tagungen der Internationalen Mathematikervereinigung eingeladen (1936 Oslo, 1950 Cambridge). 1963 wurde er durch die Verleihung der National Medal of Science geehrt, die ihm kurz vor seinem Tod durch Präsident Lyndon B. Johnson überreicht wurde. Wiener starb 69-jährig während einer Tagung in Stockholm an einem Herzinfarkt.

Norbert Wiener

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