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Der Mathematische Monatskalender: Luitzen Egbertus Jan Brouwer denkt die Grundlage der Mathematik neu

Was ist in der Mathematik wahr? Brouwer verfolgte diesbezüglich einen anderen Ansatz als die meisten Fachleute – was zu einem Zerwürfnis mit David Hilbert führte.
Viele Zahlen, die vom Himmel fallen

Der mathematische Monatskalender

Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie  hier.

Luizen Egbertus Jan Brouwer wurde als ältester von drei Söhnen eines Lehrers in Overschie (heute ein Vorort von Rotterdam) geboren. Die Hogere Burgerschool in Hoorn absolvierte er mit glänzenden Noten, danach musste er noch zwei Jahre lang das Stedelijk Gymnasium in Haarlem besuchen, um Abschlüsse in Latein und Griechisch zu erwerben, was damals die Voraussetzung für die Aufnahme eines Studiums an einer Universität war. Im Alter von 16 Jahren schrieb er sich dann mit den Fächern Mathematik (wiskunde) und Naturwissenschaften (natuurkunde) an der Universität Amsterdam ein.

Brouwer besuchte in Physik Vorlesungen beim späteren Nobelpreisträger (1910) Johannes Diderik Van der Waals und in Mathematik bei Diderik Johannes Korteweg (der seinerseits bei van der Waals promoviert hatte). Bereits während der Anfangssemester verfasste Brouwer einen Beitrag, der von der Fachzeitschrift »Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen« angenommen und veröffentlicht wurde.

Besonderen Einfluss auf Brouwers zukünftige Entwicklung hatte der Privatdozent Gerrit Mannourry, durch den Brouwer angeregt wurde, sich mit den jüngsten Veröffentlichungen von Giuseppe Peano und Bertrand Russell zu beschäftigen.

Die erste Fassung seiner Doktorarbeit »Over de grondslagen der wiskunde« (Über die Grundlagen der Mathematik, 1907) missfiel seinem Doktorvater Korteweg, da diese sich zu sehr mit philosophischen Fragen und zu wenig mit »respektabler« Mathematik beschäftige, was auch für seine zukünftige akademische Laufbahn als Mathematiker nachteilig sein könne. Brouwer folgte diesem Rat, veröffentlichte dann aber im darauf folgenden Jahr den Beitrag »De onbetrouwbaarkeit der logische principes« (Die Unverlässlichkeit der logischen Prinzipien), in der er ausdrücklich die Gültigkeit des »Prinzips des ausgeschlossenen Dritten« (principium exclusi tertii) ablehnte.

Dieses auf Aristoteles zurückgehende Prinzip besagt, dass für jede beliebige Aussage gilt: Entweder sie ist wahr oder das logische (komplementäre) Gegenteil ist wahr – eine dritte Möglichkeit (»etwas Mittleres dazwischen«) kann es nicht geben. Im Englischen wird das Prinzip als »Law of Excluded Middle« (LEM) bezeichnet.

Ein konstruktiver Ansatz

Bis ins 19. Jahrhundert hinein war es allgemein als klassische Schlussweise akzeptiert, dass man die Existenz eines Objekts beweisen kann, indem man seine Nichtexistenz widerlegt. Das Prinzip wird unter anderem bei der Methode des indirekten Beweises angewandt; bereits Euklid hatte so die Existenz von unendlich vielen Primzahlen bewiesen. Auch beim Beweis des Satzes, dass \(\sqrt{2}\) eine irrationale Zahl ist, und beim Beweis des Mittelwertsatzes der Analysis wird dieses Argument benutzt.

In seinen kritischen Schriften stellte Brouwer die Forderung auf, dass der Bestand an Sätzen der Mathematik einer vollständigen Revision unterworfen werden müsse.

Bereits Jahrzehnte zuvor hatte Leopold Kronecker die »Arithmetisierung der Analysis« gefordert. Sein berühmter Ausspruch »Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk« auf der Jahrestagung der Naturforscher im Jahr 1886 zeigte den Weg auf, den auch Brouwer gehen wollte: Ausgehend von den natürlichen Zahlen, die sozusagen durch eine »Ur-Intuition« gegeben sind, sollen weitere Einsichten durch konstruktive Verfahren gewonnen werden, zunächst in der Geometrie und beim Aufbau der ganzen und rationalen Zahlen. Und nur solche »Elemente« sollen als existent angesehen werden, die sich in einer endlichen Zahl von Schritten konstruieren lassen. Brouwers erste Veröffentlichungen zu den Grundlagen der Mathematik fanden bloß eine geringe Resonanz – nicht zuletzt, weil er diese Beiträge nur in niederländischer Sprache verfasst hatte.

In den ersten Jahren nach seiner Promotion konzentrierte sich Brouwer im Rahmen der Geometrie auf die Untersuchung von topologischen Fragen, insbesondere zur Struktur der so genannter Lie-Gruppen (von David Hilbert im Jahr 1900 als fünftes der 23 Jahrhundertprobleme genannt). Heute wird Brouwer als der eigentliche Begründer der algebraischen Topologie bezeichnet; diese beschäftigt sich mit den algebraischen Strukturen von Punktmengen. Vor Brouwer trug dieses Gebiet die Bezeichnung Analysis situs. Brouwers erste Beiträge hierzu waren so beeindruckend, dass er 1908 zum Vortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Rom eingeladen wurde – eine besondere Auszeichnung für den jungen Akademiker.

Nach einem Besuch in Paris Ende 1909, wo er sich mit Henri Poincaré, Jacques Hadamard und Émile Borel zu Problemen der Topologie austauschte, gelang es ihm, einen allgemeinen »Fixpunktsatz« zu beweisen, der heute seinen Namen trägt (die Spezialfälle für \(n = 1\) und \(n = 2\) waren bereits zuvor bewiesen worden):

Brouwerscher Fixpunktsatz: Jede stetige Abbildung der \(n\)-dimensionalen Einheitskugel \(D^n = \{x \in \mathbb{R}^n | \|x\| \leq 1 \}\) auf sich selbst besitzt mindestens einen Fixpunkt.
Beispiel (\(n = 1\)): Ist \(f\) eine stetige Funktion mit \(f: [-1,1] \to [-1,1]\), dann existiert mindestens ein \(a \in [-1,1]\) mit \(f(a) = a \), das heißt, der Graph von \(f\) hat mindestens einen Schnittpunkt mit der Geraden \(y=x\).

Brouwer selbst hielt eine Folgerung für den Fall \(n = 2\) für besonders bemerkenswert: Löst man in einer Tasse mit Kaffee den Zucker durch Rühren auf, dann existiert zu jedem Zeitpunkt mindestens eine Stelle an der Oberfläche der Flüssigkeit, die sich nicht bewegt.

Nachdem Brouwer der Beweis für beliebige Dimensionen (sowie Sätze über die Invarianz der Dimension und über die Verallgemeinerung des jordanschen Kurvensatzes) gelungen war – übrigens alle mit Hilfe der indirekten Beweismethode –, wurde er 1912 erneut zum Vortrag auf dem Internationalen Mathematikerkongress (in Cambridge) eingeladen; im selben Jahr wurde er Mitglied der Royal Society.

Mit Unterstützung von Hilbert, dem Herausgeber der Mathematischen Annalen, in denen Brouwers Beiträge zur Topologie veröffentlicht wurden, erhielt er eine außerordentliche Professur an der Universität Amsterdam, im folgenden Jahr dann ein Ordinariat. Seine Antrittsvorlesung widmete er wieder dem Grundlagenproblem.

Hilbert versuchte vergeblich, Brouwer für einen Lehrstuhl in Göttingen oder Berlin abzuwerben; bereits 1914 hatte er dafür gesorgt, dass Brouwer in den Wissenschaftlichen Beirat der Mathematischen Annalen aufgenommen worden war.

Streit mit Hilbert

1928 jedoch kam es zum Bruch: Gegen den Widerstand der Beiratsmitglieder Albert Einstein und Constantin Carathéodory setzte Hilbert durch, dass Brouwer von der weiteren Mitarbeit im Beirat ausgeschlossen wurde. Auslöser des Konflikts war der Aufsatz Hermann Weyls »Über die neue Grundlagenkrise in der Mathematik« aus dem Jahr 1921.

»Brouwer – das ist die Revolution!«Hermann Weyl, Mathematiker

Weyl war von Brouwers Thesen sehr beeindruckt; seinen Ausruf »Brouwer – das ist die Revolution!« sah Weyls Lehrer Hilbert allerdings als persönlichen Angriff (»Putschversuch«) auf seine eigenen Bemühungen an, die logischen Grundlagen der Mathematik neu zu ordnen. Für Hilbert war die Auseinandersetzung mit Brouwers Intuitionismus Anlass, die eigene Arbeit an seinem formalistischen Ansatz eines widerspruchsfreien Aufbaus der Mathematik wieder aufzunehmen (Hilbert-Programm). Der Verzicht auf die indirekte Beweismethode verglich Hilbert mit der Arbeit eines Astronomen, dem man das Fernrohr wegnimmt.

In den folgenden Jahrzehnten erwies sich der von Brouwer angestrebte konstruktive Aufbau der Mathematik auf der Basis einer intuitionistischen Logik als äußerst kompliziert und Brouwer fand nur wenige Anhänger für den Ansatz; auch Weyl verlor bald sein Interesse an dem Thema.

Brouwer behielt seinen Lehrstuhl bis 1951; während seiner gesamten Tätigkeit als Hochschullehrer hielt er keine Vorlesung zur Topologie; letztlich hielt er die Sätze, durch die er einst berühmt geworden war, für falsch, da sie ohne Anwendung des Widerspruchsprinzips nicht bewiesen werden konnten.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Brouwer vorübergehend wegen angeblicher Kollaboration mit Nazideutschland von seiner Universität suspendiert, was ihn beinahe veranlasst hätte auszuwandern. Der Grund hierfür: Um weiterem Druck der Besatzer zu entgehen, hatte er 1943 seinen Studenten geraten, eine Loyalitätserklärung gegenüber Deutschland zu unterschreiben. Tatsächlich war Brouwer im niederländischen Widerstand aktiv; er beschäftigte, solange es ging, jüdische Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl, unter anderem Hans Freudenthal als seinen Assistenten (dieser gab später die gesammelten Werke Brouwers heraus).

Auch wenn es Brouwer nicht gelungen war, viele Mathematiker für seine Lehre des Intuitionismus zu gewinnen, wurden ihm zahlreiche Ehrungen zuteil. Brouwer starb im Alter von 85 Jahren durch einen Unfall beim Überqueren einer Straße in seinem Wohnort Blaricum (Provinz Noord-Holland).

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