Metzler Lexikon Philosophie: Raum-Zeit-Kontinuum
(R.), bezeichnet in der modernen Physik die stetige Mannigfaltigkeit von Raum-Zeit-Punkten, d.h. von Ereignissen, die durch Raum-und Zeitkoordinaten charakterisiert werden. Im weiteren Sinne kann man auch bereits in Bezug auf die Newton’sche Physik von einem R. sprechen, im engeren Sinne bezeichnet der Begriff jedoch die sogen. »Minkowski-Welt«, d.h. diejenige Raum-Zeit, die der speziellen Relativitätstheorie (sp.R.) entspricht. Die Raum- und Zeitkoordinaten haben in der klassischen, Newton’schen Physik und in der sp.R. unterschiedliche metrische Eigenschaften. Nach Newtons Auffassung von einem absoluten Raum und einer absoluten Zeit sind Raum und Zeit voneinander unabhängige, absolute Größen. Dem zufolge lässt sich das Zeitintervall zwischen zwei Ereignissen eindeutig bestimmen, und diese Zeit ist, unabhängig von den Beobachtern, die das Zeitintervall messen, immer dieselbe. Danach ist es somit jederzeit objektiv bestimmbar, nämlich mit Standarduhren messbar, ob zwei Ereignisse gleichzeitig und ob sie an demselben Ort stattfinden. Wenn man den Begriff R. in einem weiteren Sinne versteht, so bilden im Rahmen der Newton’schen Physik der drei-dimensionale Euklidsche (absolute) Raum und die (absolute) Zeit ein R. Die Metrik wird dabei durch den Bezug auf einen starren Körper festgelegt. – In der sp.R., in der Einstein die raumzeitlichen Beziehungen zwischen relativ zueinander bewegten Inertialsystemen formuliert, wird die Vorstellung einer absoluten Zeit aufgegeben. Einstein stützt sich bei der Entwicklung der sp.R. auf zwei Annahmen: das spezielle Relativitätsprinzip (R.p.) und die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum. Nach dem klassischen R.p. der Newton’schen Mechanik gibt es kein gegenüber anderen empirisch vorrangiges Inertialsystem: In allen Inertialsystemen, die sich relativ zueinander in Ruhe befinden oder sich geradlinig-gleichförmig zueinander bewegen, gelten die gleichen Gesetze der Mechanik. Das klassische R.p. wird in der sp.R. noch erweitert. Nach dem speziellen R.p. betrifft die Gleichberechtigung von Inertialsystemen alle physikalischen Gesetze. Die Lichtgeschwindigkeit ist eine Invariante; sie ist in allen Inertialsystemen dieselbe. Eine wesentliche Konsequenz der sp. R. ist nun die Relativität der Gleichzeitigkeit. Aufgrund der Invarianz der Lichtgeschwindigkeit können zwei Ereignisse dann als gleichzeitig aufgefasst werden, wenn ein Lichtsignal, das in der Mitte zwischen diesen beiden Ereignissen ausgesandt wird, beide erreicht. Wenn man nach diesem Kriterium die Relationen der Gleichzeitigkeit in relativ zueinander bewegten Inertialsystemen beurteilt, so zeigt sich, dass Beobachter in verschiedenenen Inertialsystemen unterschiedliche Ereignispaare als gleichzeitig auffassen, also in den Inertialsystemen unterschiedliche Gleichzeitigkeitsverhältnisse herrschen. Da die unterschiedlichen Gleichzeitigkeitsverhältnisse nach dem sp.R. empirisch gleichberechtigt sind, beziehen die Entscheidungen über die Gleichzeitigkeit sich stets auf das jeweilige Inertialsystem, in dem sie getroffen werden. An die Stelle von Raum und Zeit als voneinander unabhängiger Größen tritt in der sp.R. die einheitliche Raum-Zeit, die H. Minkowski vierdimensional dargestellt hat. Diese vierdimensionale Raum-Zeit-Struktur bildet das R., auf das sich seit der sp.R. die Beschreibungen von Ereignissen in der modernen Physik beziehen. Die entsprechende »Minkowski- Welt« setzt sich aus Einzelereignissen zusammen, die jeweils durch die drei Raumkoordinaten x,y,z und die Zeitkoordinate t beschrieben werden. Die Rede vom Kontinuum ist dabei so zu verstehen, dass es zu jedem Ereignis E1 beliebige weitere Ereignisse gibt, deren Koordinaten sich von E1 beliebig wenig unterscheiden. Die Raum-Zeit lässt sich dabei im Unterschied zur Newton’schen Physik ausschließlich aus den Kausalbeziehungen zwischen den Ereignissen ableiten.
Literatur:
- J. Audretsch/K. Mainzer (Hg.): Philosophische Probleme der Raum-Zeit. Mannheim u. a. 1988
- A. Einstein: Grundzüge der Relativitätstheorie. Braunschweig 1956
- S. W. Hawking: Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums. Reinbek 1988
- E. Schrödinger: Die Struktur der Raum-Zeit. Darmstadt 1993.
JH
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