Metzler Lexikon Philosophie: Realismus
Der Ausdruck »R.« dient in der Philosophie zur Bezeichnung einer Vielzahl unterschiedlicher Positionen. Es lassen sich drei grundlegende Bedeutungen unterscheiden: (1) Die Auffassung, dass Universalien (z.B. Eigenschaften, Relationen), abstrakte Gegenstände (Zahlen, Propositionen) oder kollektive Einzeldinge (Mengen, Klassen) als irreduzible Bestandteile der Wirklichkeit existieren (Gegensatz: Nominalismus). (2) Die Auffassung, dass die Wirklichkeit von subjektiven, geistigen Leistungen und Fähigkeiten wie Denken, Erkenntnis oder Sprache unabhängig ist (Gegensatz: Idealismus). (3) Laut Dummett die sowohl (1) als auch (2) zugrundeliegende semantische These, dass die Wahrheit einer Aussage und damit auch deren Bedeutung von der Möglichkeit ihrer Verifikation oder Rechtfertigung unabhängig ist (Gegensatz: Anti-R.).
(1) Bereits innerhalb der ersten Bedeutung wird »R.« als Bezeichnung verschiedener Theorien verwendet. Ihr Zusammenhang ergibt sich vor allem aus ihrer Opposition zu einem umfassenden Nominalismus, dem zufolge alles, was existiert, konkret, individuell und partikulär ist, d. h.: raum-zeitlich lokalisierbar und nicht rein begrifflich charakterisierbar (konkret, nicht abstrakt); entweder ohne Teile oder eindeutig in Teile zerlegbar, die selbst keine Teile haben (individuell, nicht kollektiv); ein einmaliges Einzelding, keine Eigenschaft oder Relation (partikulär, nicht universal). Dagegen gehören den verschiedenen Arten des R. zufolge zu den irreduziblen Bestandteilen der Welt: (a) abstrakte individuelle Einzeldinge (z.B. Zahlen, Propositionen, Tatsachen) und/oder (b) abstrakte kollektive Einzeldinge (z.B. Klassen, Mengen) und/oder (c) Universalien (Eigenschaften und Relationen, die verschiedenen Dingen gemeinsam sein können).
Für den R. scheint zunächst vor allem die Überlegung zu sprechen, dass einem sinnvollen sprachlichen Ausdruck etwas »in der Welt« entsprechen muss: ein abstrakter mathematischer Gegenstand dem Zahlwort »sieben«, eine sowohl in A als auch in B vorkommende (»instantiierte«) universale Farbeigenschaft dem Prädikat in »A ist rot« und »B ist rot«. Dies ist jedoch zu Recht als »Fido-Fido-Theorie der Bedeutung« (Ryle) kritisiert worden: Nicht jedes Wort einer Sprache ist ein Name (wie »Fido«), der seine Bedeutung durch die Zuordnung zu einem Gegenstand (dem Hund Fido) erhält. – Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass wir in vielen wahren Sätzen tatsächlich auf abstrakte, kollektive oder universale Gegenstände Bezug nehmen (»17 ist eine Primzahl«). Daher sprechen für den R. weiterhin gewichtige Gründe, die sich vor allem aus den Schwierigkeiten nominalistischer Versuche ergeben, die Bezugnahme auf die fraglichen Gegenstände zu vermeiden.
Die erste überlieferte und zugleich wohl auch radikalste realistische Position ist diejenige Platons. Danach erhalten die veränderlichen, raum-zeitlichen Gegenstände ihre bestimmten Eigenschaften erst durch ihre Beziehung zu unveränderlichen Ideen, worunter Platon vor allem mathematische Objekte sowie die Gegenstände abstrakter Individualbegriffe (»die Menschheit«) und substantivierter Eigenschaftsworte (»das Gute«) verstand. Die Ideen existieren Platon zufolge unabhängig von den konkreten Einzeldingen (»universalia ante res«). – In kritischer Abgrenzung von Platon gelangte Aristoteles zu einer anderen, gemäßigteren Form des Universalien-Realismus. Danach gibt es zwar Dinge, die »ihrer Natur nach in mehrerem zu sein« vermögen, doch ist deren Existenz nicht von den konkreten Einzeldingen unabhängig: Unverwirklichte (nicht »instantiierte«) Universalien gibt es nicht (»universalia in rebus«). Auch Aristoteles zufolge ist die Existenz von Universalien und Abstrakta jedoch nicht auf die von konkreten Individuen zurückführbar. – Mit dem Aufkommen der sprachanalytischen Philosophie seit Frege und der mengentheoretischen Reformulierung der Arithmetik hat sich der Schwerpunkt der Diskussion in neuerer Zeit immer mehr zur Frage nach der Existenz abstrakter Individuen (z.B. Propositionen) als Bedeutung sprachlicher Ausdrücke einerseits und der Existenz von Mengen und Klassen andererseits verlagert. Gegen den R. sprechen vor allem die nicht weiter analysierbare Beziehung zwischen den konkreten Einzeldingen und den universalen oder abstrakten Gegenständen (Objekt-Eigenschaft, Äußerung-Proposition) sowie die Frage, wie Menschen mit ihren endlichen Fähigkeiten die fraglichen Gegenstände erkennen oder verstehen können. Andererseits sehen sich jedoch auch die unterschiedlichen nominalistischen oder nur auf dem Mengenbegriff basierende Versuche, jede Bezugnahme auf abstrakte und/oder universale Gegenstände zu vermeiden, noch immer schwerwiegenden Einwänden ausgesetzt.
(2) »R.« in der zweiten Bedeutung bezeichnet die These, dass es Dinge gibt, deren Existenz davon unabhängig ist, ob in geistigen Vorgängen wie Denken, Vorstellen oder Sprechen auf sie Bezug genommen wird (bzw. werden kann). Während ein solcher R. in der Antike und im MA. (mit Ausnahme des Neuplatonismus) offenbar als selbstverständlich galt, tritt er erst nach seiner Infragestellung durch den methodischen Zweifel Descartes und besonders durch den Idealismus Berkeleys als ausdrückliche These auf. Dabei ging es zunächst v.a. um die von Geistigem unabhängige Existenz materieller Gegenstände, die Berkeley mit seiner These »Esse est percipi« (Sein ist Wahrgenommenwerden) bestritten hatte.
Die klassischen Argumente gegen den R. gehen von der Annahme aus, dass unser gesamtes Wissen von »äußeren« Gegenständen (und jede geistige oder sprachlichen Bezugnahme auf sie) durch ein »inneres«, geistiges Medium vermittelt ist (z.B. durch »Sinnesdaten« oder sprachliche »Bedeutungen«). Dann aber gibt es für uns keine Gewissheit, dass die »äußeren« Gegenstände auch unabhängig von ihrer geistigen (oder sprachlichen) Repräsentation existieren. Da es außerdem für den Zusammenhang zwischen materiellen Gegenständen und geistigem Medium keine überzeugende Erklärung gibt (ein kausaler Einfluss gilt vielen Philosophen als ausgeschlossen), erscheint es konsequent, die Existenz materieller Gegenstände zu bestreiten (Idealismus) bzw. auf ihre geistige Repräsentation zurückzuführen (Phänomenalismus).
Dem Realisten stehen vier grundsätzliche Auswege offen: Er kann die Prämisse bestreiten, dass unser gesamtes Wissen von der Vermittlung durch ein geistiges Medium abhängt, indem er entweder (a) den nicht-materiellen Charakter sogenannter »geistiger« Vorgänge leugnet (Materialismus) oder (b) die Möglichkeit einer unmittelbaren geistigen Bezugnahme auf materielle Gegenstände annimmt (z.B. direkter R. der Wahrnehmung). Akzeptiert der Realist die Prämisse, so kann er die Folgerung bestreiten, indem er entweder (c) eine überzeugende Erklärung für den Zusammenhang zwischen materiellen Gegenständen und geistigem Medium gibt oder (d) auch unabhängig von einem solchen Zusammenhang auf der Existenz »äußerer« Gegenstände besteht, was allerdings skeptische Konsequenzen nahelegt. Alle vier Optionen sind in verschiedenen Formen immer wieder vertreten worden.
Darüber hinaus gibt es Versuche, R. und Idealismus miteinander zu verbinden. Sie gehen auf Kant zurück, der einen »empirischen Realismus« in Hinblick auf die raum-zeitliche Wirklichkeit in einen umfassenderen »transzendentalen Idealismus« einzubetten versuchte. – In neuerer Zeit hat Putnam die Auffassung kritisiert, es gebe eine sprach- und denkunabhängige Gesamtheit von Gegenständen, die sich in genau einer vollständigen Theorie beschreiben lasse, wobei die Wahrheit der Theorie in einer Korrespondenz zu den beschriebenen Gegenständen bestehe. Von diesem »metaphysischen« unterscheidet Putnam seinen eigenen »internen R.«, dem zufolge es mehrere zulässige Beschreibungen der Wirklichkeit geben kann, deren Wahrheit in ihrer (idealen) rationalen Akzeptierbarkeit besteht.
(3) Die heute weit verbreitete These, dass der R. mit einer bestimmten Bedeutungstheorie und Wahrheitsdefinition verknüpft ist, geht v.a. auf Dummett zurück. Der R. hinsichtlich eines bestimmten Gegenstandsbereichs besteht danach in der semantischen These, dass Aussagen über diesen Bereich eindeutig wahr oder falsch sind, und zwar unabhängig von unseren Möglichkeiten, dies festzustellen. Anti-R. ist dagegen die Auffassung, dass die Wahrheit von Aussagen des fraglichen Bereichs in ihrer berechtigten Behauptbarkeit besteht, so dass eine Aussage, die berechtigterweise weder behauptet noch bestritten werden kann, weder wahr noch falsch ist. Dummett vermutet, dass sich sowohl die oben unter (1) als auch die unter (2) genannten Formen des R. und ihre Gegenpositionen im Wesentlichen auf den Gegensatz zwischen R. und Anti-Realismus zurückführen lassen und führt semantische Argumente für einen allgemeinen Anti-Realismus an. Speziellere realistische Positionen werden häufig nach ihrem besonderen Gegenstandsbereich benannt: So besagt der sog. Wissenschaftsrealismus (scientific realism), gegen die Auffassungen des wissenschaftstheoretischen Intrumentalismus, des logischen Positivismus und des wissenschaftshistorischen Relativismus, dass wissenschaftliche Theorien auf eine wahre und vollständige Beschreibung der Wirklichkeit hin »konvergieren« und ihre singulären Termini sich auf theorieunabhängige Gegenstände beziehen. – Der moralische R. behauptet die Objektivität moralischer Urteile und/oder die Existenz moralischer Werte unabhängig von menschlichen Interessen und Wünschen. Der modale R. besagt, dass modale und konditionale Aussagen eindeutig wahr oder falsch sind und/oder dass es andere mögliche Welten als die für uns »wirkliche« gibt.
Literatur:
- Zu (1) D. M. Armstrong: Universals. Boulder 1989
- W. Stegmüller (Hg.): Das Universalien-Problem. Darmstadt 1978
- Zu (2) und (3): H. Putnam: Realism with a Human Face. Cambridge 1990
- M. Dummett: Truth and Other Enigmas. Cambridge 1978
- Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.): Realismus und Antirealismus. Frankfurt 1991.
MW
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