Metzler Lexikon Philosophie: Verfahrensethik
auch formale Rationalitätsethik. Die V. kann allgemein als eine Theorie der Moral bezeichnet werden, die die Frage nach dem richtigen Handeln ohne Bezug auf Vorstellungen des guten Lebens zu beantworten sucht. Repräsentative Gegenposition dazu ist die aristotelische Ethik, in der die Vorstellung des guten Lebens die Grundlage für Maßstäbe des richtigen Handelns abgibt. Die V. bezieht sich auf das Kantische Argument, dass aufgrund der Heterogenität solcher Vorstellungen, worin die gute Lebensform oder das Glück des Menschen bestehe, allein formale Kriterien den Maßstab des Richtigen liefern können. Der kategorische Imperativ gibt gleichsam das Modell ab, denn er fordert die subjektiven Maximen daraufhin zu überprüfen, ob jedermann sich diese Maximen zu eigen machen könnte. Die einzigen Maßstäbe, von denen verlangt werden kann, dass jeder Mensch sie erfüllen müsse, sind solche des formalen Verfahrens. Als wesentliche Eigenschaften einer solchen prozeduralen Rationalität (oder prozeduralistischen Moraltheorie) gelten: (1) Sie zielt auf die kategorische Sollgeltung von Normen ab, die allgemein mit Gründen gerechtfertigt werden können. Die Sollgeltung ist in dem Sinne unbedingt, als sie impliziert, dass niemand in einem normativen Sinne gute Gründe vorbringen kann, diese Geltung nicht zu akzeptieren. Diese Normen beantworten die Frage nach dem richtigen Zusammenleben von Personen. (2) Sie setzt voraus, dass moralische Fragen im Prinzip rational-allgemein begründete Antworten zulassen. Die Richtigkeit bemisst sich an der vernünftigen Geltung der Moral, d.h. auf einem wechselseitig (d.i. reziprok) und allgemein begründeten Konsens freier und gleicher vernünftiger Wesen. Die Vernünftigkeit ist in der kognitiven Fähigkeit begründet, die Perspektiven (Perspektivenübernahme) anderer einnehmen zu können, so dass geteilte Gründe allgemein als gute Gründe einsehbar sind. (3) Der Verpflichtungscharakter beruht auf dem Verfahrensprinzip der Rechtfertigung. Das bedeutet, dass die Moralnormen allgemein und reziprok zu rechtfertigen sein müssen. In der Struktur der Rechtfertigung ist bereits die Perspektive der Wechselseitigkeit enthalten. (4) Die Allgemeinheit (d.i. der universalistische Charakter), die der Geltung einer moralischen Norm zugrundeliegt, bezieht sich auf alle moralischen Menschen und muss im Prinzip vor einer jeden Person zu rechtfertigen sein. – Als Grundsatz einer V. kann formuliert werden: Als allgemein gerechtfertigt gilt das, auf das sich freie und gleiche Personen im wechselseitigen und allgemeinen Interesse einigen können.
Literatur:
- R. Forst: Kontexte der Gerechtigkeit. Frankfurt 1994. S. 270 ff
- J. Habermas: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungprogramm. In: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt 1983. S. 53 ff
- Ch. Taylor: Die Motive einer Verfahrensethik. In: Moralität und Sittlichkeit. Hg. v. W. Kuhlmann. Frankfurt 1986. S. 101 ff.
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