Lexikon der Physik: Flüssigkeitsphysik
Flüssigkeitsphysik
S. Odenbach, Bremen
Flüssigkeiten – die jedem aus dem alltäglichen Leben selbstverständlich bekannt sind – stellen vom Standpunkt der physikalischen Beschreibung ein nicht unerhebliches Problem dar, da sie weder die langreichweitige periodische Ordnung von Kristallen noch die statistisch gut beschreibbare Unordnung von verdünnten Systemen – also Gasen – aufweisen. Nichtsdestoweniger sind die Beschreibung und das Verständnis des Aufbaus und des Verhaltens dieses Zustands der Materie von außerordentlicher Bedeutung: Im Erdinneren, in den Meeren, in lebenden Zellen und zahlreichen technischen Prozessen spielen Flüssigkeiten eine entscheidende Rolle.
Der Zustand ›Flüssigkeit‹ läßt sich am ehesten über die Betrachtung des Phasendiagramms ( Abb. 1 ) definieren. In einem engeren Sinne kann man von Flüssigkeiten nur in einem Temperaturintervall zwischen der Temperatur des Tripelpunkts, Tt, und der Temperatur Tc des kritischen Punkts sprechen. Unterhalb des Tripelpunkts können nur noch Gasphase und Festkörper koexistieren, während oberhalb des kritischen Punkts keine Unterscheidung zwischen Gas und Flüssigkeit mehr möglich ist. In erweiterter Form bezeichnet man häufig gasförmige und flüssige Phase gemeinsam als fluide Phasen oder einfach als Fluide, wobei die Unterscheidung unterhalb des kritischen Punkts durch die Kompressibilität gegeben ist. Im weiteren werden wir unter den Flüssigkeiten, die den Bereich Flüssigkeitsphysik betreffen, aber nur die oben definierten Flüssigkeiten im engeren Sinne verstehen.
Um eine mikroskopische Beschreibung der makroskopischen Eigenschaften einer Flüssigkeit möglich zu machen, benötigt man zuerst Information über das Wechselwirkungspotential zwischen den Molekülen. Im Gegensatz zu den Gasen, bei denen die kinetische Energie die potentielle wesentlich übertrifft, so daß letztere nur als Korrekturterm zur Theorie idealer Gase hinzugefügt werden muß, überwiegt bei Flüssigkeiten der potentielle Anteil deutlich gegenüber dem kinetischen. Für einfache Flüssigkeiten kann die intermolekulare Wechselwirkung Φ(r) über das Lennard-Jones-Potential
beschrieben werden, wobei Φ0 einen Energieparameter und r0 eine charakteristische Länge darstellen. Der Term proportional zu r-12 beschreibt die bei kurzen Abständen auftretende repulsive Wechselwirkung, während der zu r-6 proportionale Term die langreichweitigen anziehenden Effekte berücksichtigt. Um Aussagen über das Verhalten einer Flüssigkeit machen zu können, benötigt man nun eigentlich eine Berechnung der potentiellen Energie zwischen allen ihren Molekülen. Angesichts des bereits erwähnten Fehlens einer langreichweitigen Ordnung ist dies im allgemeinen nicht möglich. Allerdings zeigen Flüssigkeiten aufgrund der räumlichen Ausdehnung der Moleküle eine Nahordnung
( Abb. 2 ), die zu ihrer Beschreibung herangezogen werden kann. Man definiert die Korrelationsfunktiong(r, t), welche die Wahrscheinlichkeit beschreibt, daß am Ort r zur Zeit t ein Molekül gefunden wird, unter der Voraussetzung, daß am Ort r = 0 zur Zeit t = 0 eines war. Soll das Teilchen, das am Ort r zur Zeit t gefunden wird, das gleiche Teilchen sein, welches zur Zeit t = 0 am Ort r = 0 war, so handelt es sich bei der Korrelationsfunktion um die Autokorrelationsfunktion. Handelt es sich um ein anderes Teilchen, so erhält man die Paarkorrelationsfunktion. Unter Verwendung der Paarkorrelationsfunktion gp(r, 0) läßt sich die potentielle Energie in der Form
schreiben. Damit wird klar, daß die Kenntnis der Paarkorrelationsfunktion – bei vorhandenem Modell für die intermolekulare Wechselwirkung Φ(r) – den Zugang zur Beschreibung der inneren Energie der Flüssigkeit darstellt. Über die bekannten thermodynamischen Beziehungen kann man aus dieser makroskopische Größen wie Wärmekapazität, thermische Ausdehnung etc. bestimmen. Auch Transportkoeffizienten wie der Diffusionskoeffizient oder die Viskosität der Flüssigkeit können über die Korrelationsfunktionen beschrieben werden, wobei hier – da es sich um dynamische Prozesse handelt – die Zeitabhängigkeit von g(r, t) zum Tragen kommt.
Die Bestimmung der Korrelationsfunktionen kann experimentell durch Streuverfahren erfolgen. Die Intensität der gestreuten Partikel als Funktion des Streuvektorsq kann in der Form
geschrieben werden, wobei I0 die Intensität des einfallenden Teilchenstrahls, N die Zahl der Streuer und a die Streuamplitude (also die Wechselwirkung zwischen streuendem und gestreutem Teilchen) bezeichnen. Die Größe S(q) wird als Strukturfaktor bezeichnet und ist die Fourier-Transformierte (Fourier-Transformation) der Korrelationsfunktion. Die Bestimmung des Strukturfaktors über eine Messung der Streuintensität läßt daher die Ermittlung der Korrelationsfunktion einer realen Flüssigkeit zu, wie sie in Abb.3 für flüssiges Argon gezeigt ist. Die Wahl der zu streuenden Partikel hängt im Prinzip nur von der Größe der streuenden Einheiten in der Flüssigkeit ab. So werden kolloidale Suspensionen bevorzugt mit Streuung sichtbaren Lichts, Flüssigkeiten mit kleineren Streuern mit Röntgenstrahlung, Neutronen oder Elektronen untersucht. Neben der Wahl der geeigneten Wellenlänge der Strahlung ist man zudem bemüht, die Strahlung so zu wählen, daß die Absorption in der Flüssigkeit klein und die Streuung stark ist.
Nachdem wir somit die Möglichkeiten der mikroskopischen Beschreibung von Flüssigkeiten betrachtet haben, sollen im weiteren ihre charakteristischen makroskopischen Eigenschaften erörtert werden. Dazu ist es zweckmäßig, die Flüssigkeiten in verschiedene Klassen zu unterteilen. Zuvor war bereits von einfachen Flüssigkeiten die Rede, wobei dort implizit angenommen wurde, daß dies Flüssigkeiten mit einer einfachen, d.h. nur vom Abstand zwischen den Molekülen abhängigen Wechselwirkung sind. Dies trifft für Systeme wie flüssiges Argon, in guter Näherung auch für niedermolekulare Flüssigkeiten und bei Betrachtung einiger Eigenschaften auch für Wasser zu. Als Gegenstück zu den einfachen Flüssigkeiten definiert man die komplexen Flüssigkeiten als hochmolekulare Systeme mit komplexen Wechselwirkungen, also z.B. Polymere, die größere räumliche Strukturen ausbilden.
Neben dieser Klassifizierung ist es häufig auch nützlich, Flüssigkeiten nach ihrem Fließverhalten einzuteilen. Dabei dient die Abhängigkeit einer der charakteristischen Eigenschaften einer Flüssigkeit, ihrer Zähigkeit oder Viskosität, von dem ihr aufgeprägten Geschwindigkeitsgradienten, die Scherrate, als Klassifizierungsmerkmal. Im einfachsten Fall hängt die Viskosität η, die nach dem Newtonschen Reibungsansatz (nach I. Newton) über den Zusammenhang zwischen Schubspannung τ und Scherrate
gemäß τ = -η
definiert ist, nicht von der Scherrate ab. In diesem Falle bezeichnet man die Flüssigkeit als newtonsch. Ändert sich die Viskosität mit steigender Scherrate, so spricht man von nicht-newtonschen Flüssigkeiten. Es gibt hierbei scherverdünnende oder scherverdickende Flüssigkeiten, bei denen die Viskosität mit steigender Scherrate ab- bzw. zunimmt ( Abb. 4 ). Zudem gibt es Flüssigkeiten, bei denen der Zusammenhang zwischen Schubspannung und Scherung neben dem bereits erwähnten Newtonschen Reibungsterm einen Hookeschen, elastischen Anteil enthält (nach R. Hooke). In diesem Falle, der z.B. bei Klebstofflösungen experimentell leicht zu beobachten ist, spricht man von viskoelastischen Flüssigkeiten. Zur Untersuchung der viskosen Eigenschaften von Flüssigkeiten bedient man sich unterschiedlicher Vorrichtungen, die grundsätzlich hinsichtlich der Variabilität der Scherrate unterschieden werden können. Für newtonsche Flüssigkeiten werden bevorzugt Viskosimeter verwendet, bei denen die Scherrate nicht variiert werden kann, beispielsweise Kapillarviskosimeter. Bei nicht-newtonschen Flüssigkeiten kommen Rheometer zum Einsatz, bei denen die Flüssigkeit zwischen Platten variabler Rotationsgeschwindigkeit gehalten wird ( Abb. 5 ). Die Variation der Rotationsgeschwindigkeit erlaubt die Änderung der Scherrate. Neben den isotropen Flüssigkeiten, also solchen Systemen, die sich makroskopisch im thermischen Gleichgewicht wie Flüssigkeiten aus sphärischen Teilchen verhalten, haben in den letzten Jahren anisotrope Flüssigkeiten zunehmendes Interesse gefunden. Solche Flüssigkeiten zeigen auch im thermodynamischen Gleichgewicht richtungsabhängige Eigenschaften, wie man sie bei Festkörpern gewohnt ist. In kolloidalen Suspensionen können diese Richtungsabhängigkeiten häufig durch den Einfluß äußerer Felder gesteuert werden, was z.B. im Falle der Ferrofluide oder magnetischen Flüssigkeiten zu erheblichen technischen Anwendungsmöglichkeiten geführt hat.
Die zweite charakteristische Eigenschaft einer Flüssigkeit neben der schon erwähnten Zähigkeit ist ihre Oberflächenspannung. An einer freien Oberfläche einer Flüssigkeit treten ins Innere der Flüssigkeit gerichtete Kräfte auf, die darauf beruhen, daß die Oberflächenmoleküle nur in Richtung des Flüssigkeitsinneren mit anderen Flüssigkeitsmolekülen wechselwirken können. Im Falle einer freien Flüssigkeitsmenge wird die Oberflächenspannung zu einer Minimierung der Flüssigkeitsoberfläche führen, indem sie dafür sorgt, daß das Flüssigkeitsvolumen Kugelform annimmt. Befindet sich die Flüssigkeit in Kontakt mit Wänden und einer Gasphase, so treten Kapillarkräfte auf, die z.B. beim Transport von Treibstoffen in Satellitentanks ( Abb. 6 , s. auch Abb. 7 ) von großer technischer Bedeutung für eine wichtige Zukunftstechnologie sind.
Die makroskopische Bewegung von Flüssigkeiten wird im Rahmen der Hydrodynamik und Strömungsmechanik beschrieben. Die dort untersuchten Transportphänomene und die damit verbundenen Strömungsinstabilitäten verbinden die Gebiete Flüssigkeitsphysik und Hydrodynamik mit der Erforschung von Turbulenz und Chaos. Dies zeigt in besonderer Weise, daß die Flüssigkeitsphysik ein interdisziplinäres Feld am Schnittpunkt der Physik kondensierter Materie mit Thermodynamik, Strömungsmechanik, Chaosforschung, technischer Anwendung und zahlreichen anderen Gebieten ist.
Auch in der Quantentheorie spielen Flüssigkeiten eine interessante Rolle – bei extrem tiefen Temperaturen wird flüssiges Helium zu einer Quantenflüssigkeit und zeigt das einzigartige Phänomen der Suprafluidität, das eng mit der Bose-Einstein-Kondensation verwandt ist.
Literatur:
K. Stierstadt: Physik der Materie, VCH Verlagsgesellschaft, Weinheim 1989;
Bergmann-Schaefer Lehrbuch der Experimentalphysik Band 5: Vielteilchen-Systeme, de Gruyter, Berlin, 1992.
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