Lexikon der Psychologie: Ethik im Humanexperiment
Ethik im Humanexperiment, die Hauptströmung der gegenwärtigen Psychologie versteht sich in Anlehnung an das Wissenschaftsideal der klassischen Naturwissenschaften als eine empirisch-experimentelle Wissenschaft, in der Erkenntnisse an der Erfahrungswelt überprüft werden müssen. Ziel ist es, Theorien mit nomologischem Charakter zu bilden, anhand derer menschliches Verhalten und Erleben erklärt und vorhergesagt werden kann. Dabei stellt die experimentelle Methodik (Experiment) die Methode der Wahl dar, weil nur das (Labor-) Experiment den geforderten Objektivitätsstandards zu genügen scheint und als wichtigste Möglichkeit zur Erfassung von Kausalzusammenhängen angesehen wird. Die Anwendung des Experiments auf den Forschungsgegenstand Mensch führt jedoch zu grundlegenden ethischen Problemen, da die Relation Erkenntnis-Subjekt zu Erkenntnis-Objekt in der Psychologie anders beschaffen ist als in den klassischen Naturwissenschaften. Die forschende Person (Subjekt) und die zu erforschende Person (Objekt) unterscheiden sich prinzipiell nicht in ihrer Erkenntnisfähigkeit, beide sind in einen ähnlichen sozialen Kontext eingebettet; beide können über ihre Verhaltensweisen und Handlungen reflektieren, diese bewerten sowie ihnen Bedeutung zuschreiben, was letztendlich bei den Forschungsergebnissen zu Artefakten führen kann ('"Sozialpsychologie des Experiments'": Reaktivität). Im sozialwissenschaftlichen Kontext ist somit die ethische Frage in zweifacher Hinsicht zu stellen (Rustemeyer, 1997): a) Zum einen ganz praktisch in bezug auf die Verantwortung der Forscher in Humanexperimenten für die ihnen anvertrauten Versuchspersonen (Vpn); das betrifft vor allem das Problem der potentiellen Schädigung der Vpn durch Mißinformation und Täuschung. b) Zum anderen stellt sich die ethische Frage ganz grundsätzlich auch hinsichtlich der Legitimität der Anwendung der experimentellen Methodik auf das Forschungs-Objekt Mensch: Die bewußte, kognitiv-reflexive Verarbeitung der Experimental-Situation durch die Vpn wird quasi als Störgröße betrachtet, die vom Versuchsleiter (Vl) möglichst kontrolliert werden muß, mit anderen Worten, die "gute Versuchsperson" denkt nicht, was als reduktionistisches Menschenbild kritisiert wird.
ad a) Für das Experiment gelten die methodologischen Zielkriterien der Manipulierbarkeit der unabhängigen Variablen, und es gilt weiterhin die Kontrolle der unthematischen Variablen. Um in diesem Setting trotzdem eine möglichst große Verhaltens-Natürlichkeit zu erreichen, werden Vpn häufig in der Instruktion unzureichende oder sogar falsche Informationen gegeben, mit dem Ziel, verfälschende Effekte, die durch unerwünschte Hypothesenbildung über den Ablauf und die vermuteten Ziele des Experiments entstehen, zu verhindern. Besonders bei Merkmalen der Persönlichkeit und bei Einstellungen, die als sozial erwünscht gelten (ehrlich und hilfsbereit sein, keine Vorurteile haben etc.), scheint es bislang keine echte methodische Alternative zur experimentellen Mißinformation zu geben. Die Mißinformations- und Täuschungsvarianten beinhalten den grundsätzlichen Konflikt der Gegenläufigkeit methodischer Anforderungen (Mißinformationsstrategien, um die externeValidität der Ergebnisse zu gewährleisten) und ethischer Anforderungen, da solche experimentellen Settings Gefährdungen der Vpn beinhalten, die billigend vom Vl in Kauf genommen werden. Es ist mit folgenden potentiell resultierenden psychisch-physischen Belastungen und Schädigungen zu rechnen:
- die ungewollte Einflußnahme (Manipulation) und Veränderung der Vpn,
- die Verletzung der Würde und Selbstachtung,
- die Verletzung der Vertraulichkeit persönlicher Informationen, aber auch
- die Etablierung unwürdiger sozialer Machtrelationen zwischen Vl und Vp.
Experimentelle Praktiken, die noch in den 60er und Anfang der 70er Jahre durchgeführt wurden, wären inzwischen undenkbar, wie z.B. Vpn in einem simulierten Flugzeugabsturz in Todesangst zu versetzen (Kimmel, 1996).
Um solche Belastungen und Schädigungen auszuschließen, sollten die Vpn umfassend über Art und Zweck der experimentellen Maßnahme und deren Bedeutung wie auch die möglicherweise auftretenden Beeinträchtigungen informiert werden, und es sollte eine (schriftliche) Einwilligung zur Teilnahme eingeholt werden; diese informierte Einwilligung (informed consent) gilt zusammen mit der Freiwilligkeit der Versuchsteilnahme als beste Möglichkeit gegen denkbaren Mißbrauch ( Abb.1 , 2 ).
Da dieses Vorgehen im Prinzip einer vollständigen Aufklärung über das experimentelle Vorgehen entspricht, wurde es in der Forschung bisher kaum konsequent realisiert. In der Regel werden Vpn nur allgemeine Informationen über Ziel und Zweck des Experiments gegeben, so daß Mißinformationen weiterhin möglich sind und wirksam bleiben (können). Allgemein üblich ist dagegen die postexperimentelle Aufklärung der Vpn, die auch als Mindestforderung in den Ethischen Standards vom Deutschen Psychologenverband (1986) gefordert wird. Darin wird auch verlangt, auf Irreführungen, Täuschungen, Fehlinformationen etc. möglichst zu verzichten und im Falle unerwarteter Belastungsreaktionen bei den Vpn die Experimente sofort abzubrechen; es werden Fragen zur Vertraulichkeit und Anonymität geregelt, ebenso wie Fragen der öffentlichen Verantwortlichkeit etc. Inwieweit jedoch diese Empfehlungen, die insgesamt recht allgemein formuliert sind, in der Forschungspraxis tatsächlich beachtet werden und kontrollierbar sind bzw. kontrolliert werden, bleibt bisher offen. In Fällen, bei denen auf Täuschungsexperimente nicht verzichtet werden kann, wird mit einer Kosten-Nutzen-Abwägung, d.h., der Belastungen der Vpn einerseits und des antizipierten Nutzens (der Vpn selbst, aber auch des Vls, der Gesellschaft) andererseits, argumentiert. Ein grundsätzliches Problem dieses "sozialen Kontrakts" zwischen VL und Vp (Schuler, 1980) liegt in der Vermengung der verschiedenen Ebenen (etwa individuelle und gesellschaftliche). Zur Überprüfung solcher Rechtfertigungen werden heute als zentrale Kontrollmöglichkeit Ethikkommissionen gefordert und auch inzwischen eingerichtet; weitere (zusätzliche) Vorschläge richten sich auf eine Koppelung mit der Forschungsförderung und mit der Veröffentlichungspolitik von Fachzeitschriften.
ad b) Die Erkenntnisrelation zwischen Forschungs-Subjekt und -Objekt in der Psychologie ist letztlich als eine Sozialrelation aufzufassen. Ausgehend von der zentralen anthropologischen Annahme eines reflexiven, potentiell rationalen Subjekts und der Anwendung des tu quoque-Prinzips (Selbstanwendung) fordert daher z.B. Groeben in seiner handlungstheoretischen Konzeption einer verstehend-erklärenden Psychologie, daß Forscher bzw. Vl für sich (möglichst) keine anderen Annahmen und Merkmale in Anspruch nehmen sollen als für die Vp. Zur Erforschung des reflexiven, erkenntnisfähigen Forschungsgegenstandes Mensch werden deshalb im ersten Schritt dialog-hermeneutische Verfahren (Hermeneutik) als adäquate Methoden angesetzt. Auf das Experiment kann und will auch diese Position nicht verzichten, allerdings kommt es erst dann zum Einsatz, wenn eine zuverlässige Selbstauskunft des reflexiven Subjekts über seine Handlungen, mentalen Zustände oder Emotionen nicht zu erwarten ist. Aber auch in diesem Fall soll ein Experiment nur unter der Voraussetzung durchgeführt werden, daß die Vpn ihre Zustimmung geben und an potentieller Selbsterkenntnis interessiert sind, d.h., sie können so motiviert werden, daß sie eine möglichst realitätsadäquate (rationale) Selbsterkenntnis anstreben (die u.U. emotional belastend sein kann, aber einen edukativen Gewinn für die Vp erbringt). Bei konsequenter Anwendung dieses Ansatzes käme es zu einer Umkehrung der heute üblichen Forschungspraxis: Experimentelles Vorgehen muß explizit begründet werden und darf grundsätzlich nur mit informierter Einwilligung der Vpn durchgeführt werden. Eine weitere grundlegende Forderung ist die Suche nach alternativen methodischen Lösungsmöglichkeiten bzw. deren Weiterentwicklung wie Feldexperiment, Aktionsforschung und Rollenspiel.
R.Ru.
Literatur
Kimmel, A.J. (1996). Ethical issues in behavioral research. Cambridge, Massachusetts: Blackwell Publishers.
Rustemeyer, R. (1997). Die Erkenntnisrelation als Sozialrelation: Zur Spannung zwischen methodologischen und ethischen Zielperspektiven. In N. Groeben (Hrsg.), Zur Programmatik einer Sozialwissenschaftlichen Psychologie. Bd. I, Metatheoretische Perspektiven (S. 241-336). Münster: Aschendorff.
Schuler, H. (1980). Ethische Probleme psychologischer Forschung. Göttingen: Hogrefe.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.