Demenz: Kann eine Hormonersatztherapie Alzheimerdemenz auslösen?
Es sollte ein Routineeingriff werden, als Dagmar P. in die Freiburger Uniklinik für Augenheilkunde eingeliefert wurde. Die 68-Jährige litt unter grauem Star; die Linsentrübung lässt sich durch eine Augenoperation beheben. Scheinbar unabhängig davon traten bei Dagmar P. seit vier Jahren schwere Gedächtnisstörungen auf. Die Ärzte vermuteten dahinter eine Alzheimerdemenz.
Vor dem Eingriff untersuchte man die Augäpfel der Patientin. Dabei fiel in der unteren Hornhautschicht eine kreisförmige, grünlich gelbe Ablagerung auf. Dieser so genannte Kayser-Fleischer-Kornealring – Anfang des 20. Jahrhunderts von den deutschen Augenärzten Bernhard Kayser (1869-1954) und Bruno Fleischer (1874-1965) erstmals beschrieben – gilt als charakteristisches Symptom der Erbkrankheit Morbus Wilson, benannt nach dem britischen Neurologen Samuel Alexander Kinnier Wilson (1878-1937). Verursacht wird sie durch eine Mutation im Morbus-Wilson-Gen ATP7B, das auf Chromosom 13 liegt. Es kodiert für ein Protein, das im Kupferhaushalt eine wichtige Rolle spielt.
Normalerweise gelangt vom Darm aufgenommenes Kupfer über das Blut in die Leber, wo es vom Protein Caeruloplasmin gespeichert und gegebenenfalls über die Galle ausgeschieden wird. Auf Grund der Mutation ist diese Kupferausscheidung gestört.
Zwei Seiten eines Schwermetalls
Kupfer spielt im Körper als Spurenelement eine wichtige Rolle: Etliche Enzyme funktionieren ohne das Metall nicht – es wirkt mit beim Energiehaushalt der Zellen, bei der Bildung von Bindegewebe, beim Eisenstoffwechsel im Blut, bei der Produktion von Melanin in der Haut und wird auch vom Zentralnervensystem benötigt. Bei Morbus-Wilson-Patienten reichert sich Kupfer in Organen wie Leber, Auge oder Gehirn an. Da hier vor allem die für die Bewegungskoordination wichtigen Basalganglien betroffen sind, kommt es zu Symptomen, die auch für die Parkinsonkrankheit typisch sind, wie Gleichgewichtsstörungen, Zittern, Steifheit und verlangsamten Bewegungen. Gedächtnisprobleme, Migräne, Krampfneigung sowie psychische Beeinträchtigungen können hinzukommen. Wegen dieser Vielfalt der Symptome wird Morbus Wilson häufig nicht erkannt.
Was das Demenzrisiko vermindert
Wie lässt sich das Alzheimerrisiko für Menschen mit einem gestörten Kupferstoffwechsel reduzieren? Bis zu drei Viertel des Metalls nehmen wir über die Nahrung auf, den Rest übers Trinkwasser. Die italienische Biologin Rosanna Squitti und ihre Kollegen empfehlen in einem Fachartikel 2014, kupferhaltige Nahrungsmittel wie Leber, Austern, Sesamkerne oder Kakao zu meiden. Außerdem seien zinkhaltige Nahrungsergänzungsmittel sinnvoll, da sie die Kupferaufnahme reduzieren und die Aktivität von so genannten Metallothioneinen anregen. Diese schwermetallbindenden Proteine fangen das Kupfer in der Darmschleimhaut ab, so dass es über die Galle ausgeschieden werden kann.
Gesättigte Fettsäuren aus rotem Fleisch sowie anderen tierischen Lebensmitteln gelten als weiterer Risikofaktor für Alzheimerdemenz. Dagegen sind antioxidanzien- und vitaminreiche Nahrungsmittel empfehlenswert: Fisch, Obst und Gemüse, Hülsenfrüchte, Waldbeeren sowie Rotwein in Maßen. Dieser enthält das Polyphenol Resveratrol, das in der Verstoffwechselung verschiedener potenziell neurotoxischer Metallionen wie Kupfer, Eisen, Aluminium und Zink eingreift. Die Wirkung von Resveratrol dürfte auch das "französische Paradoxon" erklären: Bei mediterraner Kost treten trotz hohen Fettgehalts Herz-Kreislauf-Erkrankungen relativ selten auf.
Sich regelmäßig körperlich zu betätigen, ist ebenfalls ratsam. Chronische Entzündungen bergen dagegen Gefahren: Wie US-Forscher schon 2009 herausfanden, steigt das Demenzrisiko bei schlechter Mund- und Zahnhygiene leicht an.
Neurobiol. Aging 35, S. S40-S50, 2014; J. Neurol. Neurosurg. Psychiatry 80, S. 1206-1211, 2009
Auf Grund des typischen Kayser-Fleischer-Kornealrings vermutete Dagmar P.s Augenärztin Dzelila Birnbaum zwar zunächst Morbus Wilson dahinter. Allerdings erwies sich der Kupfergehalt im Blut und Urin als normal. Die Leberwerte schienen ebenfalls unauffällig. Birnbaum stand vor einem Rätsel. Sie bat ihren Kollegen Florian Amtage, sich ihre Patientin genauer anzusehen. Auch der Neurologe konnte zunächst nichts Auffälliges finden. Abgesehen von einem leichten Zittern des Kopfes und der Arme, das schon seit ihrer Jugend auftrat und erblich bedingt sein dürfte, litt Dagmar P. nicht unter parkinsontypischen Symptomen. Der Muskeltonus war normal, der Gleichgewichtssinn intakt, motorische oder sensorische Defizite ließen sich nicht feststellen.
Amtage schloss daher Morbus Wilson aus – bestätigte aber den Verdacht einer Alzheimerdemenz: Dagmar P. hatte gravierende Schwierigkeiten, sich an die Bezeichnungen von Gegenständen zu erinnern oder gezielte Handlungsabfolgen zu kontrollieren – etwa zu rechnen, zu schreiben und zu zeichnen. Aufnahmen per Kernspintomografie offenbarten Gewebeschäden im Schläfen- und Scheitellappen des Gehirns. In den Basalganglien ließ sich zwar zunächst keine Anhäufung von Kupfer nachweisen, doch eine Neurosonografie offenbarte hier stark Ultraschall reflektierende Strukturen.
Spurensuche in der Krankenakte
Weitere bildgebende Verfahren wie die Positronenemissionstomografie deuteten ebenfalls auf eine Alzheimerdemenz hin: Der Glukoseumsatz im Schläfen- und Scheitellappen war vermindert, und die für die Krankheit charakteristischen β-Amyloid-Plaques traten in der gesamten Großhirnrinde auf. Auch wenn es keine Auffälligkeiten bei Dagmar P.s Caeruloplasminwerten gab, brachten der vorhandene Kayser-Fleischer-Kornealring, die erhöhte Dichte der Basalganglien und die kognitiven Beeinträchtigungen die beiden Ärzte zu der Überzeugung, dass ihre Patientin an einer pathologischen Anhäufung von Kupfer im Hirngewebe litt. Auf der Suche nach einer Erklärung studierten Birnbaum und Amtage erneut Dagmar P.s Krankengeschichte.
Dabei kamen ihnen einige ältere Studien amerikanischer Augenärzte sehr gelegen: 2006 hatte ein Team um Anthony Aldave von der University of California in Los Angeles bei einer Patientin mit normalen Caeruloplasminwerten kreisförmige Kupferablagerungen an der Hornhaut des Auges beschrieben. Zwei Jahre später führten Gustavo Garmizo und Barry Frauens aus Florida dieses Phänomen auf die Einnahme von Östrogenen über einen längeren Zeitraum zurück. Tatsächlich hatte auch Dagmar P. 22 Jahre lang, seit Beginn ihrer Menopause, täglich zwei Milligramm Estradiol eingenommen.
Mediziner um Maria Olga Louro vom Hospital Clínico Universitario in Santiago de Compostela hatten bereits 2001 nachgewiesen, dass während der Schwangerschaft, in der die Östrogenwerte natürlicherweise ansteigen, die Kupferkonzentration im Blut zunimmt. Anders als bei Morbus Wilson schützt sich der Körper dabei durch das Enzym Caeruloplasmin vor der toxischen Wirkung des Schwermetalls. Dennoch könnte die Anhäufung im Nervensystem schwer wiegende gesundheitliche Folgen nach sich ziehen – so wie bei Dagmar P.
Kupfer wirkt oxidativ und unterstützt somit die Entstehung freier Radikale. Dadurch fördert es, wie Eisen und Zink, die Bildung von Amyloid-Plaques, die sich zwischen den Neuronen ablagern. Außerdem verbindet es sich mit dem Tau-Protein, dem Hauptbestandteil der Neurofibrillen, die sich innerhalb der Nervenzellen ansammeln. Veränderungen des Kupfer-, Eisen- und Zinkstoffwechsels scheinen auch an den kognitiven Beeinträchtigungen von Down-Syndrom-Patienten beteiligt zu sein.
Tatverdächtig: Hormone
Doch wie hängen Östrogene mit dem Kupfergehalt im Blut zusammen? 2007 entdeckten Molekularbiologen um Belinda Hardman in Melbourne, dass die Hormone die Aktivität des Enzyms ATP7A fördern. Dieses wiederum gewährleistet bei Schwangeren den Kupfertransport aus der Plazenta zum Fötus. Beim so genannten Menkes-Syndrom, einer erblichen Stoffwechselkrankheit, ist das Gen hierfür mutiert, so dass es zu Kupfermangel in vielen Geweben kommt.
Wie Birnbaum und Amtage nun vermuteten, wird ein Fötus durch den natürlichen Östrogenanstieg indirekt auch über den mütterlichen Darm mit Kupfer versorgt. Dementsprechend könnten über längere Zeit eingenommene Östrogenpräparate – wie bei einer Hormonersatztherapie – ebenfalls zu einer gesteigerten Kupferaufnahme führen.
Wie sich ein Kupferüberschuss auswirken kann, beobachteten italienische Forscher um die Neurobiologin Serena Bucossi von der Università Campus Bio-Medico di Roma 2011: Ein Erbgutvergleich von 190 Alzheimerpatienten mit 164 Kontrollpersonen ergab, dass das Demenzrisiko um knapp 75 Prozent steigt, wenn im Morbus-Wilson-Gen ATP7B ein bestimmter DNA-Baustein verändert ist. Und die Mutation beeinträchtigt wiederum den Kupferabtransport. Bei Menschen mit diesem Gendefekt entgeht überschüssiges Kupfer dem normalen Entsorgungsprozess über die Galle und reichert sich im Körper an.
Bei Dagmar P. sahen die Kupfer- und Caeruloplasminwerte jedoch normal aus. Auch hierfür konnten Birnbaum und Amtage eine Erklärung anbieten: Ihre Patientin nahm bereits seit gut einem Jahr keine Östrogene mehr ein. Um zu testen, ob die unauffälligen Blutwerte tatsächlich darauf zurückzuführen sind, müssten die Mediziner Dagmar P. erneut Hormone verabreichen, doch das verbietet sich aus ethischen Gründen. Auch das Fehlen neurologischer Symptome – mit Ausnahme der kognitiven Beeinträchtigungen – erschütterte die Theorie der beiden Ärzte keineswegs. 2006 hatten Forscher um Alexandre Machado von der Universidade de São Paulo die Krankengeschichten von 119 Morbus-Wilson-Patienten gesichtet. Dabei zeigte sich, dass zwischen einer nachweisbaren Kupferanreicherung im Gehirn und dem Auftreten erster Symptome bis zu 40 Jahre verstreichen können.
Amtage und Birnbaum wollen nun herausfinden, inwieweit nicht nur Kupfer, sondern auch andere Metalle wie etwa Eisen an neurodegenerativen Erkrankungen beteiligt sein könnten. Vorerst hoffen sie, dass Dagmar P.s Fall weitere Forschungen zu der Frage anregt, ob durch hormonelle Ersatztherapien tatsächlich langfristig kognitive Schäden drohen.
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