Direkt zum Inhalt
Login erforderlich
Dieser Artikel ist Abonnenten mit Zugriffsrechten für diese Ausgabe frei zugänglich.

Beschleunigungsphysik: Die ultimative Röntgenmaschine

Was ursprünglich dazu gedacht war, anfliegende Interkontinentalraketen vom Himmel zu holen, hat sich im Verlauf von Jahrzehnten zu einem Röntgenmikroskop mit höchster Leistungsfähigkeit entwickelt. Mit ihm lassen sich bislang unbekannte Materiezustände erzeugen, hohle Atome produzieren und Atome bei ihrer Bewegung in Molekülen "filmen".
Vakuumkammer Röntgenlaser

Kein Atom, Molekül oder Staubteilchen hat eine Überlebenschance, wenn es in den Brennpunkt des weltstärksten Röntgenlasers LCLS gerät. In weniger als einer billionstel Sekunde erhitzt sich die bestrahlte Substanz auf mehr als eine Million Grad Celsius – das ist eine Temperatur wie in der Sonnenkorona. Bombardiert mit solch extremer Strahlung verliert zum Beispiel ein Neonatom alle seine zehn Elektronen und zerstiebt explosionsartig.

Erstaunlicherweise schlägt der Laser erst die inneren, dann die äußeren Elektronen eines Atoms heraus. Denn die Elektronen, die den Atomkern vereinfacht gesagt auf zwiebelschalenartigen Bahnen umschwirren, reagieren auf Röntgenstrahlen unterschiedlich. Die Exemplare in den äußeren Schalen sind für energiereiche Photonen fast transparent, so dass die meiste Strahlung auf die innerste Schale trifft – ähnlich wie in der Mikrowelle der Kaffee längst heiß geworden ist, bevor sich auch die Tasse selbst erhitzt.

Das hat ungewöhnliche Folgen: Werden die beiden Elektronen der innersten Schale herauskatapultiert, hinterlassen sie eine Lücke; das Atom ist sozusagen hohl geworden. Innerhalb weniger Femtosekunden (eine Femtosekunde entspricht 10–15 Sekunden) nehmen dann andere, äußere Elektronen ihre Plätze ein. Dieser Zyklus aus Lochbildung und Wiederauffüllung wiederholt sich so lange, bis keine Partikel in der Hülle mehr übrig sind. Ein solcher exotischer Materiezustand existiert jedoch nur während weniger Femtosekunden. In Festkörpern zerfällt er in einen ionisierten Zustand, der von Fachleuten als warme dichte Materie (WDM) bezeichnet wird, ein Mittelding zwischen Plasma und Festkörper. Es tritt normalerweise nur unter extremen Umständen auf: bei Fusionsreaktionen von Atomkernen oder im Inneren großer Planeten.

Der Röntgenlaser LCLS (Linac Coherent Light Source), der diese exotischen Vorgänge sicht- und messbar macht, ist am kalifornischen SLAC National Accelerator Laboratory, kurz SLAC, beheimatet, das von der Stanford University betrieben wird. Er basiert auf dem dortigen Linearbeschleuniger, dem in den 1960er Jahren gebauten SLAC linac. Mit diesem Gerät gelangen zahlreiche Entdeckungen – drei davon mit dem Nobelpreis ausgezeichnet –, welche die USA für Jahrzehnte an der Spitze der Teilchenphysik hielten. Nachdem es unter großem Aufwand umgebaut worden war, ging es im Oktober 2009 als LCLS wieder in Betrieb.

Dieser hat seither für zahlreiche Forschungsgebiete eine ähnliche Bedeutung erlangt, wie sie der Large Hadron Collider am CERN bei Genf für die Teilchenphysik besitzt. Atom- und Plasmaphysik sowie die Physik der kondensierten Materie profitieren ebenso wie Biologie und Chemie von seiner Fähigkeit, die Bausteine der Materie mit extrem hoher Energie zu zertrümmern und sie in neue Zustände zu überführen – oder auch davon, dass er wie ein riesiges Mikroskop mitten in das Reich der Quanten zoomen kann. Die Röntgenpulse des LCLS können so extrem kurz sein, nämlich nur wenige Femtosekunden lang, dass sie atomare Bewegungen nahezu einfrieren. Dadurch sind Physiker in der Lage, chemische Reaktionen in kleinsten Zeitschritten zu verfolgen. Zugleich sind die Pulse so hell, dass sich sogar zerbrechliche Proteine und andere Biomoleküle abbilden lassen, noch bevor der Aufprall des Lichts sie zerstört. ...

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Wer lebt am Grund des Nordpols?

Die Tiefsee rund um den Nordpol ist einer der am wenigsten erforschten Orte der Erde. Begleiten Sie das Forschungsschiff »Polarstern« auf seiner Expedition und entdecken Sie Artenvielfalt und Auswirkungen des Eisrückgangs auf das Ökosystem. Das alles und noch viel mehr in »Spektrum - Die Woche«!

Spektrum - Die Woche – Das gestohlene Mädchen

Ein friedliches Familientreffen im August 1970 in der Salischen See, das für das Orcamädchen Toki und 74 weitere Schwertwale in einer Tragödie endete. Begleiten Sie ihr Schicksal in der aktuellen Ausgabe der »Woche«. Außerdem: wieso der Aufbau von Atomkernen vielleicht neu gedacht werden muss.

Spektrum - Die Woche – PFAS-Verbot: Eine Welt ohne Teflon?

Die europäische Chemikalienagentur erwägt weite Beschränkungen für fluorierte Chemikalien, die etwa in Elektroautos und Kühlsystemen vorkommen. Das hätte Folgen für viele Lebensbereiche. Außerdem geben wir in dieser Ausgabe Tipps für kreatives Schreiben und klären, ob GPT-4 schlechter geworden ist.

  • Quellen

Berrah, N. et al.:Double Core-Hole Spectroscopy for Chemical Analysis with an Intense X-Ray Femtosecond Laser. In: Proceedings of the National Academy of Sciences USA 108, S. 16912 - 16915, 2011

Chapman, H. N. et al.:Femtosecond X-Ray Protein Nanocrystallography. In: Nature 470, S. 73 - 77, 2011

Redecke, L. et al.:Natively Inhibited Trypanosoma brucei Cathepsin B Structure Determined by Using an X-Ray Laser. In: Science 339, S. 227 - 230, 2013

Seibert, M. M. et al.:Single Mimivirus Particles Intercepted and Imaged with an X-Ray Laser. In: Nature 470, S. 78 - ,81 2011

Vinko, S. M. et al.:Creation and Diagnosis of a Solid-Density Plasma with an X-Ray Free-Electron Laser. In: Nature 482, S. 59 - 63, 2012

Young, L. et al.:Femtosecond Electronic Response of Atoms to Ultra-Intense X-Rays. In: Nature 466, S. 56 - 61, 2010

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.