Neurologie : Auf der Spur der Schlafepidemie
26-jähriges Mädchen: Von der Polizei auf die psychiatrische Klinik gebracht. Seit zwei Tagen verwirrt, schlafe, wo sie gehe und stehe, ein. Auf der Klinik geht Patientin mit geschlossenen Augen wie eine Schlafwandelnde, lebhaft delirierend und allerlei buntes Zeug redend, im Zimmer herum. Am Abend plötzlich Lungenödem und Exitus.«
In Kurzporträts wie diesem beschreibt der österreichische Psychiater Constantin von Economo in der »Wiener klinischen Wochenschrift« vom 10. Mai 1917 eine rätselhafte Erkrankung. In den Wochen zuvor waren immer wieder Patienten mit ähnlichen Symptomen in die Psychiatrische Klinik Wien eingeliefert worden: gelähmte Augen oder Gliedmaßen, Fantastereien, starke Schlafneigung. Von Economo, Assistenzarzt an der Klinik, vermutet in seinem Artikel, dass es sich »um eine Art Schlafkrankheit« handelt, »deren erste Symptome mit Kopfschmerzen und Übelkeit einsetzen; dann tritt ein Zustand der Somnolenz, oft mit lebhaften Delirien gepaart, ein«. Er nennt die Krankheit Encephalitis lethargica.
Weil so viele Patienten in so kurzer Zeit betroffen waren, spekuliert von Economo, dass es sich »um eine kleine Epidemie« handeln könnte – und sollte damit Recht behalten. Klein aber war die Epidemie nicht: Nach 1916 grassierte die Encephalitis lethargica zuerst in Europa, ab Mitte der 1920er Jahre weltweit. Mindestens 500 000 Menschen erkrankten, manche Schätzungen gehen von über einer Million Fällen weltweit aus. Etwa ein Drittel der Betroffenen starb innerhalb weniger Tage oder Wochen. Von den Überlebenden entwickelte der Großteil eine chronische Form mit Symptomen, die der parkinsonschen Krankheit ähnelten, wie Muskelzittern und -starre sowie Bewegungs-verlangsamung. Viele dieser Menschen ließ die Krankheit in lebenslanger, fast absoluter Bewegungslosigkeit zurück ...
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